„Bis zum Jahr 2010 ist diese Pflegeversicherung tot.“ Dies gab Otto Graf Lambsdorff, damals wirtschaftspolitischer Sprecher der FDP-Bundestagsfraktion, 1995 zu Protokoll. Zum Glück ist es anders gekommen. Rund zwanzig Jahre nach dem Inkrafttreten steht die gesetzliche Pflegeversicherung auf einem sicheren Fundament. Ihre Initiatoren, insbesondere der damalige Bundessozialminister Norbert Blüm, haben recht behalten. Vermeintliche Kassandra-Rufe wie die des damaligen Arbeitgeber Präsidenten Klaus Murmann haben sich nicht bewahrheitet: Von „Leistungsmissbrauch“, von einem „hochexplosiven Kostentreibsatz“ und „zweistelligen Beitragssätzen“ kann keine Rede sein. Vielmehr erweist sich, dass dank der Pflegeversicherung eine Vielzahl von unterschiedlichen Angeboten und Strukturen in der Pflege entstanden ist, die den Menschen in einer oftmals sehr schwierigen Lebenssituation helfen. Vor der Einführung der Pflegeversicherung waren zwei Drittel der Pflegebedürftigen in den stationären Pflegeeinrichtungen auf Sozialhilfe angewiesen. Heute ist es genau umgekehrt: Über zwei Drittel von ihnen kommen ohne Sozialhilfe aus. Inzwischen haben Länder wie Japan, Südkorea, Spanien und Luxemburg gesetzliche Pflegeversicherungen eingeführt und sich dabei am deutschen Modell orientiert.
Unser Land beweist am Beispiel der Entwicklung in der Pflegeversicherung erneut, dass das im Grundgesetz verankerte Sozialstaatsprinzip nicht bloß ein abstraktes Rechtskonstrukt darstellt, sondern aktuell gelebte Realität ist. Für Christdemokraten muss die Würde des Menschen im Mittelpunkt des politischen Denkens und Handelns stehen. Das gilt gerade, wenn ein Mensch pflegebedürftig wird und auf fremde Hilfe angewiesen ist. Oberstes Ziel der Pflegeversicherung muss es sein, die richtigen Rahmenbedingungen dafür zu schaffen, dass pflegebedürftige Menschen ein Leben führen können, das so selbstbestimmt wie möglich ist. Mit dem demografischen Wandel liegt hier eine große Herausforderung: Allein seit der Einführung der Pflegeversicherung hat sich die Anzahl der Pflegebedürftigen mehr als verdoppelt und liegt aktuell bei rund 2,6 Millionen Menschen. Diese Zahl wird sich in den kommenden Jahren und Jahrzehnten deutlich erhöhen: auf absehbare Zeit um zwei bis drei Prozent – und zwar jedes Jahr.
Die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen der Pflege haben sich geändert: Während Kinder und Eltern früher oftmals in der gleichen Stadt oder in dem gleichen Dorf wohnten, leben viele Familien heute über das ganze Bundesgebiet oder sogar darüber hinaus verteilt. Hinzu kommt, dass in der Vergangenheit vor allem Frauen die Versorgung von pflegebedürftigen Angehörigen übernommen haben. Auch wegen der gewachsenen Erwerbstätigkeit von Frauen in den letzten zehn Jahren können sie das oft nicht mehr leisten. Für die Sicherung einer guten und menschenwürdigen Pflege bedeutet das: Wir müssen die Vereinbarkeit von Familie, Pflege und Beruf weiter verbessern – und zwar für Männer und Frauen gleichermaßen.
Verständlicherweise ist es der Wunsch der meisten Pflegebedürftigen, so lange wie möglich im eigenen Zuhause zu wohnen. Rund siebzig Prozent der Pflegebedürftigen werden gegenwärtig in den eigenen vier Wänden versorgt: Pflegende Angehörige sind damit der größte „Pflegedienst“ Deutschlands. Umso wichtiger ist es, dass ihrem Engagement weiterhin „der Rücken gestärkt“ wird. Ohne die häusliche Pflege durch die Angehörigen bräuchte die Altenpflege bereits jetzt weit mehr als jene eine Million Menschen, die heute schon dort beruflich tätig sind.
Unterstützung von Angehörigen
Vor diesem Hintergrund hat die Bundesregierung mit dem ersten Pflegestärkungsgesetz, das am 1. Januar 2015 in Kraft getreten ist, die Rahmenbedingungen dafür geschaffen, pflegende Angehörige spürbar zu unterstützen und zu entlasten. So werden sie etwa in der Renten- und Arbeitslosenversicherung besser abgesichert. Die meisten Leistungen der Pflegeversicherung, zum Beispiel das Pflegegeld und die Mittel für Pflegesachleistungen, sind deutlich angehoben worden. Der Zuschuss für Maßnahmen zur Verbesserung des Wohnumfeldes, etwa für den Einbau eines barrierefreien Bades, ist von 2.557 auf bis zu 4.000 Euro pro Maßnahme erhöht worden. Zudem können Kurzzeit- und Verhinderungspflege deutlich flexibler als zuvor in Anspruch genommen und so kombiniert werden, wie es den individuellen Bedürfnissen entspricht. Auch gibt es nun für alle Pflegebedürftigen einen Anspruch auf die Finanzierung zusätzlicher Betreuungs- und Entlastungsleistungen (bis zu 104 oder 208 Euro im Monat). Durch die zusätzlichen Betreuungskräfte haben Pflegebedürftige jemanden, der sich ihnen über die rein pflegerische Versorgung hinaus widmet, der beispielsweise mit ihnen malt, kocht, Musik hört, einen Spaziergang macht oder einfach „nur“ zuhört.
Besonders wichtig ist zudem, dass die Mittel für die Tages- und Nachtpflege de facto verdoppelt worden sind. Ich bin der Überzeugung, dass für eine gute Pflege die Angebote der Tages- und Nachtpflege weiter ausgebaut werden müssen – und zwar flächendeckend. Dazu sollte man sich in die Lage eines Pflegebedürftigen versetzen, dessen Angehörige tagsüber ihrem Beruf nachgehen: Morgens und abends kommt der ambulante Pflegedienst, um sich um die eigentliche Pflege zu kümmern. Doch was passiert in der Zwischenzeit? Wenn sonst nichts passiert, kann der Tag für den Pflegebedürftigen sehr lang werden. Die Angebote der Tagespflege ermöglichen dagegen eine feste Tagesstruktur. Dort gibt es Freizeitangebote und man erfährt Gemeinschaft.
Die Tages- und Nachtpflege ist ein wichtiger Baustein für den Ausbau dessen, was man als Ü80 Struktur bezeichnen kann – also besondere Angebote für über 80 Jährige. Die Gesellschaft hat sich mit dem Ausbau der U3-Betreuung in den letzten Jahren intensiv den Bedürfnissen unserer Jüngsten gewidmet. Das war richtig. Genauso richtig ist es jetzt, sich mit dem Ausbau der Ü80 Struktur den Ältesten in unserer Gesellschaft verstärkt zuzuwenden. Neben der Tages- und Nachtpflege gehören etwa auch eine barrierefreie öffentliche Infrastruktur, die Unterstützung von Selbsthilfeprojekten oder die Wohnberatung dazu. Hier stehen vor allem die Kommunen in der Pflicht, wobei das nicht in erster Linie mit zusätzlichen Kosten verbunden sein muss. Vielmehr ist es eine Frage des kommunalen Planungsrechts und der Vernetzung aller Akteure.
Sind mit dem ersten Pflegestärkungsgesetz also vor allem die Voraussetzungen für den Verbleib in der eigenen Wohnung erleichtert worden, wird die Pflegeversicherung mit dem zweiten Pflegestärkungsgesetz insgesamt auf eine neue, gerechtere Grundlage gestellt. Es handelt sich dabei um die tiefgreifendste Reform der Pflegeversicherung seit ihrem Bestehen.
Pflegebedürftigkeit auch für Demenzerkrankte
Kern der Reform ist der neue Pflegebedürftigkeitsbegriff, der zum 1. Januar 2017 umgesetzt wird. Damit wird die viel zu starre, rein körper- und defizitorientierte Betrachtung der Pflegebedürftigkeit überwunden. Stattdessen rücken die individuellen Lebenslagen in den Mittelpunkt. Auch im Sinne einer aktivierenden Pflege wird künftig bei den Gutachten der Blick darauf gerichtet werden, was ein Mensch noch allein vermag und was nicht mehr.
Davon profitieren insbesondere Demenzerkrankte. Sie werden dann zum ersten Mal vollumfänglich in die Systematik der Pflegeversicherung einbezogen.
Ein Beispiel veranschaulicht den Unterschied: Der bisherige Begriff umfasst denjenigen, der sich aus körperlichen Gründen beispielsweise nicht mehr selbst waschen kann. Obwohl die Konsequenz die gleiche ist, hatte derjenige bislang das Nachsehen, der „einfach“ vergessen hat, wie man sich wäscht. Der neue Pflegebedürftigkeitsbegriff beendet diesen Missstand. Die Neujustierung ist bereits in zwei Modellprojekten erprobt worden, und alle Beteiligten – Pflegebedürftige, Angehörige, Pflegekräfte, die Träger der Einrichtungen und der Medizinische Dienst der Krankenversicherung – haben 2016 ausreichend Zeit, sich auf die Umsetzung einzustellen.
Das alles wird jedoch nur klappen, wenn wir auch künftig genug Menschen finden, die sich für den Pflegeberuf entscheiden. Das ist aktuell die dritte große Herausforderung der Pflege. Für mich ist klar: Wer sich für den Pflegeberuf entscheidet, besitzt in den allermeisten Fällen auch eine ganz besondere Ethik, eine innere Einstellung, die sich am Wohl des Menschen orientiert. Aber das allein kann sein Engagement nicht dauerhaft tragen: Auch die organisatorischen und finanziellen Rahmenbedingungen müssen stimmen, um Menschen von einem Beruf zu überzeugen.
Drei Punkte sind in diesem Zusammenhang besonders wichtig. Erstens: Wir brauchen in der Pflege endlich auch in der Fläche faire Löhne, die von den Sozialpartnern in Tarifverträgen vereinbart werden. Es gibt Regionen in Deutschland, wo das bereits weitgehend der Fall ist, aber es gibt auch Regionen, wo wir einen deutlichen Nachholbedarf haben. Zweitens: Wir müssen den Beruf attraktiver machen – auch durch eine Reform der Ausbildung im Sinne der Generalistik, welche die Altenpflege, die Gesundheits- und Krankenpflege und die Gesundheits- und Kinderkrankenpflege zu einem neuen, gemeinsamen Pflegefachberuf mit Schwerpunktbildung zusammenführt. Das von der Bundesregierung geplante Pflegeberufsgesetz eröffnet hierfür den so breit Ausgebildeten flexiblere und vielfältigere Beschäftigungsmöglichkeiten. Zudem wird mit dem neuen Gesetz das in einigen Bundesländern noch erhobene Schulgeld bundesweit abgeschafft. Drittens: Die Entbürokratisierung in der Pflege muss weiter vorangetrieben werden. Mit der von mir maßgeblich geförderten Entbürokratisierung der Pflegedokumentation ist bereits ein entscheidender Schritt gemacht. Experten berichten, dass bei den Dokumentationsaufgaben bis zu einem Drittel an Zeit eingespart wird. Das ist Zeit, die den Pflegebedürftigen nun zugutekommen muss.
Wenn diese zentralen Reformschritte weiterhin konsequent umgesetzt werden, sind wir auf einem guten Weg, um auch in Zukunft eine gute und menschenwürdige Pflege zu ermöglichen. Sicherlich gibt es auch heute wieder eine Reihe von Kritikern, die angesichts des demografischen Wandels vor allem Probleme sehen. Ich persönlich wünsche mir, dass auch sie in zwanzig Jahren erneut von den Fakten widerlegt werden.
Karl-Josef Laumann, geboren 1957 in Riesenbeck, Staatssekretär, Beauftragter der Bundesregierung für die Belange der Patientinnen und Patienten und Bevollmächtigter für Pflege.