Die Geschichte Europas und der europäischen Einigung ist keine Geschichte der Institutionen. Europa, die Europäische Union (EU) in ihrer heutigen Form, wurde geprägt von Machern und Pragmatikern, die politische Führung übernommen haben. Wenn also die heutige Politik Putins Krieg als das anerkennt, was er ist (nämlich im schlechtesten Sinne historisch), und daraus eine Zeitenwende ableitet, dann muss sie sich der langen Linien der europäischen Geschichte – dem Erbe der Französischen Revolution, den Lehren aus den Katastrophen zweier Weltkriege, aber eben auch den enormen Integrationsleistungen unseres Kontinents – bewusst werden, daraus die erforderlichen Schlüsse ziehen und zügig handeln. Deshalb haben wir auch nicht die Zeit, einen Konvent abzuhalten. Außenministerin Annalena Baerbock hatte recht, als sie diesen Forderungen eine Absage erteilte – auch wenn sie diese seither nicht mehr wiederholt hat. Vielmehr braucht es jetzt – um dabei zu bleiben – eine Allianz von Pragmatikern und Machern, es braucht politische Führung, damit die deutsche Zeitenwende auch in Europa nachhaltig wirkt.
Putins Krieg ist beileibe nicht unsere einzige Sorge. Um sich all den riesigen Herausforderungen – Systemrivalität, Klimaschutz, Digitalisierung, um nur die größten zu nennen – zu stellen, braucht es starke europäische Institutionen. Daher ist es – im Sinne der Subsidiarität ebenso wie der finanziellen Möglichkeiten – richtig, die Pandemie, den Klimawandel und die demokratiezersetzenden Ausuferungen der Digitalisierung durch die europäischen Institutionen zu bekämpfen.
Bei der Verteidigung geht es so nicht, weil viel zu langsam. Und deswegen werden wir auf diesem Gebiet zu dem Prinzip einer variablen Geometrie in Europa kommen müssen, ausgehend von Polen, Frankreich und Deutschland. Sie bilden den Nukleus der Europäischen Union und tragen die Verantwortung für ein schnelles Vorankommen in Europa – immer abgestimmt mit der NATO, niemals gegen sie. Flexible Integration ist zudem im Hinblick auf die geplante Erweiterung der Europäischen Union unumgänglich und auf anderen Gebieten bereits gelebte und erfolgreiche Praxis.
Aus Frankreich gab es dazu – nicht erst in jüngerer Vergangenheit – immer wieder Angebote, eine konkrete Debatte über dessen nukleare Kapazität zu führen. In diesem Punkt bin ich einer Meinung mit Friedrich Merz, der fordert, diesen Gedanken ernsthaft aufzunehmen und zu einem Ergebnis zu führen. Und ich füge noch an: rasch. Polen zeigt sich offen für die Stationierung amerikanischer Atomwaffen, um das Abschreckungspotenzial zu erhöhen. Wir dürfen in diesem Kontext die Chance nicht verstreichen lassen, endlich die Anliegen unserer osteuropäischen Partner ernst zu nehmen und Polen als gleichwertiges und gleichgewichtiges Mitglied in die europäische Führung zu integrieren.
Europäische Nuklearstrategie
Allerdings liegt der Schlüssel einer glaubhaften Abschreckung meines Erachtens auch im Aufbau einer gemeinsamen – und das bedeutet gemeinsam finanzierten – europäischen nuklearen Kapazität. Diese kommt auf absehbare Zeit jedoch nicht ohne das amerikanische Potenzial aus. Deswegen ist es richtig, dass die Bundesregierung entschieden hat, die amerikanischen F-35-Kampfjets anzuschaffen, um die bereits bestehenden nuklearen Kapazitäten weiterhin glaubhaft in die Lage zu versetzen, eingesetzt werden zu können.
Ferner muss es innerhalb der NATO eine abgestimmte europäische Nuklearstrategie geben, die sowohl der europäischen Autonomie als auch den geostrategischen Interessen der Vereinigten Staaten von Amerika Rechnung trägt. Ein entsprechendes Gremium sieht die NATO dafür bereits vor. Deutschland könnte im Rahmen von Gesprächen über die Finanzierung gemeinsamer Nuklearkapazitäten auf einen Beitritt Frankreichs zur Planungsgruppe hinwirken – und darauf, das bestehende Zwei-Schlüssel-Prinzip analog zur amerikanischen Kapazität ebenfalls auf Frankreichs Komponente auszuweiten. Zudem sollte sich Großbritannien in ein europäisches Konzept unterschiedlicher Integration mit einbringen. Dafür sieht die Europäische Union zum Beispiel die Ständige Strukturierte Zusammenarbeit innerhalb der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik vor, im Rahmen derer Deutschland, Frankreich, Polen und die USA bereits engagiert sind. Ein entsprechendes Vorhaben kann der Europäische Rat schon jetzt mit qualifizierter Mehrheit entscheiden – und mit EU-Geldern vernünftig ausstatten. Es wäre also möglich, im Rahmen bestehender Strukturen nukleare EU- und NATO-Strategien komplementär zu entwickeln. Über diese Fragen sollte man nun rasch mit den Partnern sprechen – zum Beispiel bei einem Gipfeltreffen in Warschau.
Darüber hinaus müssen wir in Deutschland zu einem Modus Operandi finden, der es uns erlaubt, integrierte Streitkräfte einzusetzen, die dafür entsprechend parlamentarisch legitimiert sind. Ich hätte mir zum Beispiel im Rahmen der Aachener Verträge, die die deutsch-französische Zusammenarbeit aufbauend auf dem Élysée-Vertrag von 1963 weiterentwickeln, gut vorstellen können, dass Abgeordnete der gemeinsamen Kammer der Französischen Nationalversammlung und des Deutschen Bundestages über einen Einsatz entscheiden, wenn die beiden Regierungen ihn für richtig halten. Würden wir das erreichen, könnte endlich auch die Deutsch-Französische Brigade aus ihrem Dämmerschlaf geweckt werden. Das wäre zudem ein erster konkreter Schritt in Richtung einer Reform des Parlamentsvorbehalts, der unter den heutigen Bedingungen dringend an die sicherheitspolitische Lage angepasst werden muss.
Problematische Abhängigkeiten
Die langen Linien der deutsch-französischen ebenso wie der deutsch-polnischen Geschichte und die Errungenschaften unserer freiheitlichen europäischen Ordnung lassen keinen anderen Schluss zu, als sich eng aneinander zu binden und gemeinsam Verantwortung zu tragen für die Sicherheit und den Frieden in Europa – immer offen für den Beitrag der anderen EU-Mitgliedstaaten und in enger Kooperation innerhalb der NATO. Dass Putins Feldzug – als Ausdruck eines hinkenden Comebacks eines Imperiums aus dem 20. Jahrhundert im Kontext der eigentlichen Systemrivalität zwischen den USA und China, wie Herfried Münkler es beschreibt – den Fokus auch auf unsere noch viel größere Abhängigkeit von China richtet, ist richtig und ein nicht minder großes Problem zugleich. Schon während der Pandemie mussten wir feststellen, dass empfindliche Bereiche unserer Versorgung entscheidend vom Wohlwollen konkurrierender Systeme und anfälligen globalen Lieferketten abhängen.
Deshalb ist eine starke und handlungsfähige Europäische Union infolge unterschiedlicher Formen der Kooperation ohne Alternative!
„Si vis pacem …“
Diejenigen, die unter Verweis auf unsere historische Verantwortung weiterhin den Pazifismus beschwören, irren. Denn gerade die Lehren aus den Schrecken zweier Weltkriege verpflichten uns, die Freiheit glaubhaft zu verteidigen.
Als stabile und gefestigte Demokratie – blicken wir auf den fließenden Übergang nach sechzehn Jahren CDU-Regierung, auf den wir, bei allem Verdruss über die Niederlage, auch stolz sein können – auf dem Fundament westlicher Werte müssen wir Verantwortung übernehmen. Auf verantwortliches Handeln und stabile politische Verhältnisse bei unseren Verbündeten und Partnern zu bauen, erwies sich in der Vergangenheit nicht selten als Trugschluss.
Schon die alten Römer wussten: Si vis pacem para bellum – „wenn du (den) Frieden willst, bereite (den) Krieg vor“. Das ist wahr, und wir haben das zu lange nicht beherzigt. Der erste Schritt muss nun sein, die ausgestreckte Hand Emmanuel Macrons zu ergreifen, was wir nach seiner Sorbonne-Rede im September 2017 versäumten. Und zugleich müssen wir die große Solidarität unserer Partner im Osten mit der Ukraine und gegen Putins Vernichtungskrieg, der uns alle bedroht, anerkennen und dazu nutzen, dass alle Partner in der Europäischen Union nicht nur gleiche Pflichten, sondern auch gleiche Rechte haben. Polen kommt dabei eine Führungsrolle zu – und Viktor Orbán wird so lernen, dass er ziemlich allein sein wird. So kann Europa diese schreckliche Bedrohung nutzen, um endlich zu tun, was längst nötig gewesen wäre, aber ohne den dafür notwendigen Veränderungsdruck leider bisher nicht gelang.
Wolfgang Schäuble, geboren 1942 in Freiburg im Breisgau, 1989 bis 2021 Mitglied im Präsidium der CDU Deutschlands, 1984 bis 1989 Bundesminister für besondere Aufgaben und Chef des Bundeskanzleramtes, 1989 bis 1991 und 2005 bis 2009 Bundesminister des Innern, 2009 bis 2017 Bundesminister der Finanzen, 2017 bis 2021 Präsident des Deutschen Bundestages.