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Die Tradition des Liberalismus in der CDU

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Schlimmer hätte die Abfuhr für Rainer Barzel kaum sein können. Als der Bundesvorstand der Christlich Demokratischen Union Deutschlands (CDU) am 10. Mai 1962 seine Denkschrift Untersuchungen über das geistige und gesellschaftliche Bild der Gegenwart und die künftigen Aufgaben der CDU diskutierte, ließ Konrad Adenauer ihn auflaufen. Seit 1961 gehörte Barzel dem Bundesvorstand an. Mit der Ausarbeitung der Untersuchung hatte der Bundeskanzler den künftigen Bundesminister für gesamtdeutsche Fragen selbst beauftragt, nachdem die Union in der Bundestagswahl 1961 die absolute Mehrheit verloren hatte. Denn die CDU wurde angesichts des gesellschaftlichen Wandels längst von einer Identitätskrise geplagt, die Adenauer schnell überwinden wollte. Doch machte Barzel eine ganz andere Ursache für die Krise aus als der Kanzler. Wie viele Katholiken in der CDU sah auch Barzel eine Entwicklung mit Sorge, die damals als „Liberalisierung der Union“ bezeichnet wurde. Auch aus seiner Sicht durfte sich die CDU nicht von einer christlichen Weltanschauungspartei zu einer liberalkonservativen Wirtschaftspartei wandeln. Es gelte daher, das christliche Profil zu schärfen. Eine christliche Partei, so heißt es in Barzels nie gedruckter Studie, sei eine Vereinigung „von Menschen, die auch ihr politisches Handeln unter Gottes Wort und Gebot stellen“.1

Doch der Bundeskanzler hielt nichts von solchen Gedankenspielen, wie er Barzel mit aller Deutlichkeit wissen ließ: „Mir ist diese Arbeit zu kirchlich. […] Da nun einmal das kirchliche Denken in unserem Volke rapide zurückgeht und wir infolgedessen darauf angewiesen sind und damit rechnen müssen, daß wir die sogenannten Liberalen auch zu uns bekommen, müssen wir uns hüten, etwas zu tun, was die Liberalen beider Konfessionen abhalten könnte, für uns zu stimmen. Ohne die liberalen Stimmen können wir keine Mehrheit in Deutschland bekommen. […] Ich denke immer, wenn ich einen solchen Satz lese, an einen Durchschnittskatholiken oder an einen protestantischen Liberalen, wenn der nun liest: Wir stellen unsere Politik unter Gottes Gebot! – Ich muß Ihnen ehrlich sagen, das ist mir etwas peinlich. Und ich wiederhole: Wir tun’s ja doch nicht! Meine Herren! Lassen wir uns doch nichts weismachen hier! Wir handeln nicht gegen Gottes Gebot, aber wir stellen auch nicht unsere Politik unter Gottes Gebot.“2

„Dem Geiste nach Christen“

Barzel, den Adenauer nun nicht mehr zur Arbeit an einer Neuorganisation der Partei heranziehen wollte, blieb freilich bei seiner Ansicht. Auf dem Dortmunder Bundesparteitag im Juni 1962 verschärfte er sie sogar, indem er erklärte, „daß unsere Politik sich immer gründet auf die 10 Gebote“.3 Adenauer bot nun seinerseits eine Definition des Verhältnisses von Unionspolitik und Christentum an. Vom Dekalog konnte keine Rede sein, sondern lediglich davon, dass die CDU all diejenigen vereinigen wolle, die „dem Geiste nach Christen sind“.4 Diese Äußerung Adenauers war im Kontext der Bundesrepublik der frühen 1960er-Jahre von einer verblüffenden Modernität. Wenngleich Adenauer die zunehmende Säkularisierung aller westlichen Gesellschaften bedauerte, akzeptierte er doch ihre Folgen.

„Dem Geiste nach Christ“ – das war eine Minimalformel, die auch diejenigen einschloss, die nur noch am Heiligen Abend oder sogar niemals einen Gottesdienst besuchten. In dieser Antizipation kommender gesellschaftlicher Veränderungen war Adenauer damit nicht nur den entschiedenen Katholiken in der CDU weit voraus, sondern auch einem konservativen Protestanten wie Eugen Gerstenmaier. Dagegen sprach Adenauer in dieser Frage den oft kulturprotestantisch geprägten Liberalen in der Union aus der Seele. Denn es stimmte ja nicht, dass die Liberalen, wie er in der Bundesvorstandssitzung sagte, erst jetzt zur CDU kamen. In Wirklichkeit waren sie längst da – nicht zuletzt, weil Adenauer sie immer gefördert hatte.

Sie kamen vor allem, aber nicht nur, aus den norddeutschen Landesverbänden, die aus kleineren Parteigründungen hervorgegangen waren. Diese Parteien hatten nach 1945 bewusst an die bürgerlich-protestantischen Parteien der Weimarer Republik angeknüpft: an die Deutschnationale Volkspartei (DNVP), die nationalliberale Deutsche Volkspartei (DVP) oder die linksliberale Deutsche Demokratische Partei (DDP). Die liberalen und konservativen Kleinparteien, die nach 1945 in Schleswig-Holstein, Niedersachsen, Bremen und Hamburg gegründet wurden, vermieden in der Regel den Bezug auf das Christliche, da vor allem die liberalen, aber auch manche konservative Protestanten der Inanspruchnahme des Christentums durch eine Partei skeptisch gegenüberstanden. So entstand etwa in Schleswig-Holstein aus verschiedenen Gruppierungen zunächst eine Demokratische Union, die nennenswerte Verluste zu verzeichnen hatte, als sie ihrem Namen das „C“ hinzufügte. Prominente Beispiele für Liberale, die dem „C“ skeptisch gegenüberstanden, waren Elisabeth Schwarzhaupt, Gerd Bucerius, Erik Blumenfeld und, für die jüngere Generation, Richard von Weizsäcker.

Das „U“, nicht das „C“

Weshalb sie und andere liberale Protestanten sich nicht der Freien Demokratischen Partei (FDP), sondern den Unionsparteien anschlossen, ist in jedem Fall individuell zu beantworten. Ein Motiv jedoch teilten sie alle: Mehr als das „C“ zog sie das „U“ an, das heißt der Gedanke an eine Überwindung der alten konfessionellen Spaltung und, soweit möglich, der Gegensätze zwischen den Klassen sowie zwischen Stadt und Land. Die mehr und mehr von Adenauer geprägte CDU hatte ihnen freilich nicht nur diesen Gedanken einer verschiedene politische Traditionen integrierenden Sammlungsbewegung anzubieten, sondern mit der Sozialen Marktwirtschaft auch ein liberales Wirtschaftskonzept, das mit Ludwig Erhard sogar von einem liberalen Ökonomen vertreten wurde.

Adenauer setzte dieses Konzept gegen den Widerstand der Christlich-Sozialen in den katholisch geprägten Arbeitnehmerausschüssen durch. Aus deren Sicht sollte die Union die Mitte zwischen zwei angeblich gleichermaßen verwerflichen Extremen halten: zwischen dem Marxismus und eben dem als Manchestertum missverstandenen Liberalismus. Als Erhard sein Konzept am 25. Februar 1949 auf Wunsch Adenauers im Ausschuss der CDU der britischen Zone vorstellte, warf Johannes Albers, Mitbegründer der Christlich-Demokratischen Arbeitnehmerschaft (CDA), ein, das „Prinzip einer liberalen Wirtschaft“ dürfe nicht an die Stelle des mühsam erarbeiteten Ahlener Programms treten.5 Dass ein CDA-Vertreter so argumentierte, kann nicht überraschen. Bemerkenswerter ist, dass Erhard sich mit der Erklärung verteidigte, er lehne den Liberalismus ab, den ihm Albers „vielleicht unterschieben“ wolle.6 Natürlich meinte auch der künftige Wirtschaftsminister damit lediglich den Manchester-Liberalismus, der in den ersten Jahrzehnten der CDU von vielen als Negativfolie bemüht wurde. Gegen diesen Laissez-faire-Liberalismus setzte Erhard das geprägte Konzept, das unter dem Namen Soziale Marktwirtschaft zum Markenzeichen der Union werden sollte. Es war stark vom Neoliberalismus geprägt, der das glatte Gegenteil dessen war, wofür der Begriff heute meist in polemischer Absicht gebraucht wird.

Tatsächlich hat der Neoliberalismus im eigentlichen Sinne seinen Ursprung in der Krise, die den wirtschaftlichen und politischen Liberalismus in den 1930er-Jahren heimgesucht hatte. Im Jahr 1938 diskutierten namhafte Ökonomen, Philosophen, Historiker und Soziologen darüber, wie das liberale System angesichts einer von zwei Seiten heraufziehenden totalitären Bedrohung zu retten sei. Manche von ihnen, wie Ludwig von Mises oder Friedrich August von Hayek, konnten beim klassischen Liberalismus keinen oder kaum einen Fehler entdecken. Andere, wie Wilhelm Röpke, Alexander Rüstow und Walter Eucken, glaubten, dass der Liberalismus auf eine neue Grundlage gestellt werden müsse, dass der Markt durch eine Rahmenordnung einzuhegen sei. Dieser Neoliberalismus oder, im Falle Euckens und der Freiburger Schule, Ordoliberalismus beeinflusste das von Alfred Müller-Armack entwickelte und von Erhard propagierte Konzept der Sozialen Marktwirtschaft in entscheidendem Maße. Der Ordnungsgedanke und die moralisch-religiöse Dimension der Vorstellungen Euckens, aber vor allem Rüstows und Röpkes, ließ den Neoliberalismus zum idealen wirtschaftspolitischen Ansatz für eine christlich-demokratische Partei werden.

„Freiheit ist nicht Zügellosigkeit“

Dass sich die Soziale Marktwirtschaft durchsetzen konnte, war Adenauer zu verdanken, der die Sozialausschüsse mit ihr versöhnte, indem er mit dem Aufbau eines ursprünglich begrenzt gedachten Wohlfahrtsstaats begann. Seine Entscheidung für den Liberalismus war nicht taktischer Natur. Vielmehr war er seit Langem davon überzeugt, dass nur marktwirtschaftlich-liberale Prinzipien Wirtschaftswachstum und Wohlstandsmehrung ermöglichten. Ebenso sah es Gerstenmaier, der auf dem Kieler Parteitag von 1958 unter dem Titel „Staatsordnung und Gesellschaftsbild“ behutsam, aber deutlich die Vereinbarkeit von Christlicher Demokratie und Liberalismus vor Augen führte. Indem er sich auf Wilhelm von Humboldt als Vertreter des deutschen Frühliberalismus und Friedrich Naumann als Begründer des sozialen Liberalismus in Deutschland berief, zugleich aber auch die „sozial-konservativen Energien aus dem alten Zentrum und aus dem nationalgestimmten Protestantismus“ würdigte,7 entwarf er eine frühe Skizze eines gleichermaßen konservativen wie sozialen Liberalismus.

Das Spezifische dieses CDU-Liberalismus ist seine Bindung an Werte und die auch von Alexis de Tocqueville vertretene Vorstellung, dass die Freiheiten immer einen Ordnungsrahmen brauchen. Adenauer hob auf dem Kieler Parteitag die große Bedeutung der Freiheit der Person hervor, auf der das politische und wirtschaftliche Leben beruhen müsse. Gleichzeitig machte er eine Einschränkung: „Wir alle wissen, dass Freiheit nicht Zügellosigkeit ist.“ Wenn das eine Distanzierung war, dann nur von den extremen Varianten des Liberalismus, sowohl vom Laissez-faire-Liberalismus als auch von einem linken, auf radikale gesellschaftliche Veränderungen und ungeregelte Freiheit drängenden Progressivismus. Darüber hinaus war Adenauers Feststellung eine Bestätigung der Tradition des politischen Liberalismus, an deren Anfang viele Ideenhistoriker John Locke sehen.

Konservativ und national?

Die Christliche Demokratie, das wollten sowohl Adenauer als auch Gerstenmaier sagen, steht nicht im Gegensatz zum Liberalismus – im Gegenteil: Sie kommt nicht ohne ihn aus. Damit bauten beide Politiker eine Brücke zwischen der in der CDU starken Zentrumstradition und den aus den liberalen Parteien der Weimarer Republik stammenden Politikern, vor allem denjenigen, die aus der DVP kamen. So entstand auf der Grundlage des politischen Katholizismus und des Nationalliberalismus ein neuer Politikansatz, in dem die alten Traditionen ein jeweils neues Gesicht annahmen. Der in die Christliche Demokratie eingewobene Nationalliberalismus unterschied sich von dem der FDP in den ersten Jahrzehnten der Bundesrepublik durch seine entschiedene Westorientierung.

Die Nationalliberalen, die sich der CDU anschlossen, setzten die Bewahrung der Freiheit vor die Wiederherstellung der Einheit. Und Adenauer, der nicht zu ihnen gehörte, machte sich trotz der Differenzen, die er in der Weimarer Republik mit Gustav Stresemann gehabt hatte, dessen Erbe zunutze. Das ging so weit, dass er sich 1956 für die Finanzierung eines Kinofilms über Stresemanns Westpolitik einsetzte und damit vor Augen führte, dass die gemäßigte Linie des Nationalliberalismus, die Stresemann verkörperte, am besten in seiner der Westbindung verpflichteten CDU aufgehoben war. So wandelte sich der gemäßigte Nationalliberalismus im Schoße der CDU zu einem spezifisch bundesrepublikanischen Liberalkonservatismus, der Protestanten wie Katholiken offenstand und für den die deutsche Nation nur im Rahmen der westlichen Zivilisation, das heißt einer europäischen und transatlantischen Gemeinschaft der liberalen Demokratien, denkbar war. Dabei verbanden sich Wirtschaftsliberalismus und Verfassungskonservatismus zu einer Mischung, wie sie aus den anglo-amerikanischen Ländern bekannt ist.

Fast alle, die sich in der Geschichte der CDU zum Liberalismus bekannt haben, nahmen auch den Konservatismusbegriff für sich in Anspruch – allerdings nur im Sinne einer den Liberalismus bewahrenden Disposition. So stellte der Hamburger Erik Blumenfeld 1964 fest: „Konservativ sollten wir sein, was das Ideal der Freiheit betrifft. Es zu bewahren, sind unsere westlichen Verfassungen geschaffen worden.“8

Das Ziel der Liberalkonservativen in der CDU ist bis heute die Verteidigung des durch das Grundgesetz garantierten liberalen Systems gegen den doktrinären Egalitarismus von links und – neuerdings auch wieder – gegen den völkischen Radikalismus von rechts. Es ist richtig, dass die meisten von ihnen Protestanten waren. Man denke neben den bereits genannten etwa an Gerhard Schröder, Konrad Kraske, Ernst Albrecht, Volker Rühe oder Eberhard Diepgen. Kurt Birrenbach ist nur ein Beispiel dafür, dass es in der Ära Adenauer auch Katholiken in ihren Reihen gab. Heute würde niemand mehr auf die Idee kommen, die Frage nach der Konfession überhaupt zu stellen und zum Beispiel hervorzuheben, dass mit Friedrich Merz die Galionsfigur der Liberalkonservativen in der CDU katholisch ist. Der Liberalkonservatismus ist in der CDU längst Allgemeingut geworden. Adenauer hatte recht: Die CDU kann nicht auf den Liberalismus verzichten – heute so wenig wie in den 1950er- und 1960er-Jahren.


1 Rainer Barzel: Untersuchungen über das geistige und gesellschaftliche Bild der Gegenwart und die künftigen Aufgaben der CDU. Vorgelegt aufgrund eines Beschlusses des Bundesvorstands der CDU vom 11.12.1961, o. O. 1962, § 121.
2 Protokoll vom 10. Mai 1962, in: Adenauer: „Stetigkeit in der Politik“. Die Protokolle des CDU-Bundesvorstands 1961–1965. Bearb. von Günter Buchstab, Düsseldorf 1998, S. 220–270, hier S. 250.
3 Christlich Demokratische Union Deutschlands (Hrsg.): 11. Bundesparteitag der CDU, Dortmund, 02.06.–05.06.1962, Hamburg 1962, S. 210.
4 Ebd., S. 205.
5 „25. Februar 1949: Sitzung des Zonenausschusses der CDU der britischen Zone in Königswinter“, in: Konrad Adenauer, Ludwig Erhard und die Soziale Marktwirtschaft, bearb. von Holger Löttel, Paderborn u. a. 2019, S. 148–188, hier S. 178.
6 Ebd., S. 186.
7 Eugen Gerstenmaier: „Staatsordnung und Gesellschaftsbild“, in: Christlich Demokratische Union Deutschlands (Hrsg.), 8. Bundesparteitag der CDU, 18.09.–21.09.1958, Hamburg 1958, S. 90–108, hier S. 92.
8 Erik Blumenfeld: Chance Parteipolitik. Aus Reden auf Landestagen der Jungen Union Hamburg, 3. Mai 1964 und 15. Februar 1966, in: ders.: Profile. Persönliches und Politisches 1955–1970, Hamburg 1970, S. 63–71, hier S. 65.


Matthias Oppermann, geboren 1974 in Auetal-Rehren, Leiter der Abteilung Zeitgeschichte der Konrad-Adenauer-Stiftung, Privatdozent für Neuere Geschichte an der Universität Potsdam.
 

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