Asset-Herausgeber

Die Allmacht einer neoliberalen Matrix ist wenig evident

Wolfgang Streeck: Gekaufte Zeit. Die vertagte Krise des demokratischen Kapitalismus. Frankfurter Adorno-Vorlesungen 2012, Suhrkamp Verlag, Berlin 2013, 271 Seiten, 24,95 Euro.

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Aus den vielen Untersuchungen, die die Finanzmarktkrise 2008 und ihre Folgen analysieren, ragt dieses Buch heraus: Denn Wolfgang Streeck, Direktor des Max-Planck-Instituts für Gesellschaftsforschung in Köln, beschränkt sich nicht auf die Ereignisse der vergangenen Jahre, sondern bettet sie in eine Erzählung der Wirtschaftsgeschichte von der Nachkriegszeit bis heute ein. Und trotz des eher knappen Umfangs des Bandes ist es eine große Geschichte – die Geschichte des systematischen Umbaus des keynesianisch gezähmten, demokratischen Kapitalismus in einen neoliberal entfesselten Marktradikalismus, der nur noch schwer mit den Gesetzen der Demokratie in Übereinstimmung zu bringen sei.

Im Einzelnen erzählt Streeck die Geschichte so: Nach Ende des Zweiten Weltkrieges hatte sich der Kapitalismus diskreditiert, weshalb die Kapitalseite zu sehr weitgehenden Zugeständnissen gegenüber der Arbeiterseite bereit war. Starke Gewerkschaften stellten durch ihre Verhandlungsmacht sicher, dass die Arbeitnehmer über satte und regelmäßige Gehaltssteigerungen vom Wirtschaftswachstum profitierten. Diese Zeit endete Anfang der 1970er-Jahre. Unter dem Druck der Internationalisierung und deutlich niedrigerer Wachstumsraten stagnierten auch die Löhne und Gehälter.

 

„Money Illusions“

Um jedoch die Zustimmung der Arbeitnehmer zur kapitalistischen Wirtschaftsordnung weiterhin sicherzustellen, bediente sich die Politik in der Folge anderer Mittel, die jedoch immer wieder an ihre Grenzen stießen und dann von einer neuen Strategie abgelöst wurden: Zunächst waren dies hohe Inflationsraten. Infolge der schon von Keynes beschriebenen „money illusion“ konnten so zumindest auf dem Papier Zuwächse bei den Einkommen erzielt werden. Die Stagnation machte diesem Prozess jedoch ein Ende.

Nächstes Mittel der Wahl war nun die stetige Erhöhung der Staatsverschuldung, mit der Leistungen für breite Bevölkerungsschichten gesichert wurden, die von den Staatseinnahmen nicht mehr gedeckt waren. Um genug Abnehmer für ihre Schuldscheine zu bekommen, liberalisierten die Staaten die Finanzmärkte. Als die Schulden jedoch überhand zu nehmen drohten, sahen sich die Politiker zur Konsolidierung und damit zur Ausgabensenkung gezwungen, die vor allem im sozialen Bereich erfolgten. Um zu verhindern, dass diese Kürzungen in einer sinkenden privaten Nachfrage resultierten, wurden die Möglichkeiten zur Kreditaufnahme privater Haushalte verbessert, was eine weitere Liberalisierung der Finanzmärkte erforderlich machte.

Alle diese Maßnahmen „kauften“ Zeit, gingen jedoch jeweils mit erheblichen Nachteilen für die Arbeitnehmer und Vorteilen für die Kapitalseite einher. Gleichzeitig stieg die materielle Ungleichheit, ohne dass eine dauerhafte Lösung des Problems erreicht wurde. Denn die steigende Privatverschuldung finanzierte einen weiteren Wohlstandsanstieg, resultierte jedoch 2008 in der Finanzmarktkrise, als das hohe Niveau der Gesamtverschuldung vielen Anlegern nicht mehr tragbar erschien. Die Staaten mussten erkennen, dass die Trennung in Privat- und Staatsschulden insofern artifiziell war, als sie nun gezwungen waren, auch die Banken zu retten, die wegen unsolider privater Kredite in Schieflage geraten waren. Die Rettung der Banken führte aber zum steilsten Anstieg der Staatsverschuldung seit 1945 und erhöhte die Dringlichkeit, die Staatsfinanzen wieder in den Griff zu bekommen. Unter dem Rubrum der „Austeritätspolitik“ kürzen die Staaten seitdem ihre Ausgaben, sind aber gleichzeitig darauf bedacht, ihre Kreditwürdigkeit auf den internationalen Finanzmärkten nicht zu verspielen. Ein Abbau der Schulden über einen Staatsbankrott fällt deshalb aus.

 

Märkte als zweiter Souverän

Somit sind jedoch die Märkte als zweiter Souverän neben den Staatsbürger getreten. Die Regierungen überschuldeter Länder können sich nicht mehr nur nach dem Willen ihrer Bürger richten, sondern müssen auch die Forderungen der Gläubiger erfüllen. Anders als die Staatsbürger, die zugleich Wähler der Regierungen sind und Betroffene ihrer Politik, sind die Finanzmärkte international und damit demokratisch nicht zu kontrollieren. Zugleich besitzen sie eine größere Souveränität, weil sie ihr Kapital jederzeit verlagern können. Deshalb sehen sich die betroffenen Regierungen gezwungen, einerseits den Forderungen der Anleger nachzugeben, und andererseits den Unmut der eigenen Bürger zu vermeiden. Letzteres gelingt umso besser, je stärker die Austeritätsmaßnahmen dem direkten Zugriff der Politik und damit dem Wählerwillen entzogen sind. Ein großer Konsens zwischen den Parteien oder auch Verfassungsvorgaben wie eine Schuldenbremse erreichen genau dies. Insofern sieht Streeck nicht nur die wirtschaftliche Ordnung, sondern auch die Demokratie im Kern bedroht – eine bedrohliche Analyse, der man eine Plausibilität nicht gänzlich absprechen kann. Insbesondere die in hochverschuldeten Ländern eingesetzten Expertenregierungen und die Massenproteste aufgebrachter Bürger gegen deren Politik zeigen die Sprengkraft dieser Entwicklung.

 

Neoliberale Matrix

Die Frage ist allerdings, wie es so weit kommen konnte. Wieso ließen die Staaten ab Anfang der 1970er-Jahre die Budgetdisziplin vermissen, die sie in den zwei Jahrzehnten zuvor gewahrt hatten? Streeck sieht den Grund in der Entscheidung „des Kapitals“, sich von der keynesianischen Ordnung der Nachkriegszeit zu verabschieden. Aus diesem Grund habe sich „das Kapital“ – eine amorphe, aber erstaunlich handlungsfähige Einheit – aus der Finanzierung des Staates zurückgezogen. Nicht ein Ausgaben-, sondern ein Einnahmenproblem habe am Beginn der Staatsverschuldung gestanden. Kapitaleigner versuchten zur Durchsetzung ihrer Ziele, Investitionen zu reduzieren und damit Druck auf die Politik auszuüben. Um Kapital anzulocken und notwendige Investitionen attraktiv zu gestalten, sei dann peu à peu die Steuerbelastung der Gutverdienenden gesenkt worden.

Dabei sei „das Kapital“ einer „neoliberalen“ Matrix gefolgt, deren Hauptziel es bis heute sei, den Begriff der „sozialen Gerechtigkeit“ durch eine „Marktgerechtigkeit“ abzulösen. Die Ergebnisse des Marktes sollten demnach automatisch als gerecht akzeptiert und jegliche Eingriffe in das Marktgeschehen verhindert werden. Insofern habe „das Kapital“ nicht nur das Ziel verfolgt, die eigenen Renditen zu erhöhen, sondern auch den Staat als solchen zurückzuschneiden. Die Manifestation dieses Plans sieht Streeck in der Europäischen Union, die Handelsschranken niedergerissen sowie über den Weg der Währungsunion Währungsabwertung abgeschafft und damit die Politik wichtiger Instrumente zur Einhegung der Wirtschaft beraubt habe. Trotz aller Lippenbekenntnisse zu einer europäischen Sozialpolitik habe die EU sich einseitig für die Interessen der Kapitalseite eingesetzt und damit die staatlichen Handlungsmöglichkeiten minimiert. Die Lösung der aktuellen Krise sei deshalb nicht durch, sondern nur gegen die EU zu erreichen.

 

In den rosigsten Farben

So glatt sich diese Geschichte anhört, einer empirischen Überprüfung hält sie nicht stand. Ihr fiktiver Charakter zeigt sich bereits in der Darstellung der von Streeck in den rosigsten Farben gezeichneten Zeit vor der angeblichen neoliberalen Wende: Auch für die frühe Bundesrepublik lässt sich nicht von einem keynesianischen Konsens sprechen – im Gegenteil: Die ordnungspolitischen Vordenker der Sozialen Marktwirtschaft standen im klaren Gegensatz zu den interventionistischen Ideen des Keynesianismus. Erst über das Stabilitäts- und Wachstumsgesetz fand dieser 1967 erstmals Eingang in die deutsche Wirtschaftspolitik, ohne jedoch je zu ihrer alleinigen Grundlage zu werden.

Auch die Erzählung von der „neoliberalen Wende“ geht an der Realität vorbei, zumal man vergeblich nach einer genaueren Definition dessen sucht, was der Verfasser mit dem Begriff genau meint. Unter Neoliberalismus lassen sich so unterschiedliche Richtungen wie die Freiburger Schule des Ordoliberalismus, die Austrian Economics oder der von Milton Friedman vertretene Monetarismus fassen. Wegen der teilweise weit auseinandergehenden Positionen taugt „der Neoliberalismus“ kaum als analytischer Terminus zur Charakterisierung einer bestimmten Wirtschaftspolitik. Vielmehr ist er zu einem linken Kampfbegriff verkommen, dem die Verantwortung für so gut wie jede sozioökonomische Fehlentwicklung zugeschoben wird. Streeck bildet diesbezüglich leider keine Ausnahme.

Auch hinsichtlich der Lohnentwicklung stimmt Streecks These für die Bundesrepublik nicht. Nach 1970 stiegen in den meisten Branchen die Einkommen real weiter. Einige Industriezweige gerieten jedoch unter so starken Druck der ausländischen Konkurrenz, dass sie sich nicht in Deutschland halten konnten, in erster Linie die Textil- und Elektroindustrie, nicht jedoch die Chemie- oder Automobilindustrie. Stimmte Streecks These, hätten sich auch deren Eigentümer der sinistren Verschwörung des Kapitals angeschlossen.

Richtig ist Streecks Behauptung über die seit Anfang der 1970er-Jahre kontinuierlich steigende Staatsverschuldung. Aber auch die Staatseinnahmen stiegen weiter, konnten jedoch nicht mit den Ausgaben des Staates mithalten. Und dies hatte neben der wachsenden Arbeitslosigkeit eben in erster Linie mit genau jener Politik zu tun, die Streeck preist – mit dem Versuch einer (vulgär)keynesianischen Globalsteuerung und dem Bemühen, die Gesetze der Wirtschaft zugunsten ihrer politischen Gestaltung unterzuordnen. Bereits mit der Rentenreform 1957 war das Selbstverständnis der Sozialpolitik von der reinen Absicherung gegen Armut und Notlagen zu einer Garantie sozialer Sicherung auf hohem und dynamisch steigendem Niveau geworden. Die sozialliberale Koalition erhob den weiteren Ausbau des Wohlfahrtsstaates zum Programm. Als die Wachstumsdynamik einbrach, versuchte die Regierung, sie durch schuldenfinanzierte Wachstumsprogramme zu stimulieren, wodurch sich jedoch lediglich das Defizit vergrößerte. Daraufhin wurden erste zaghafte Versuche zum Umsteuern unternommen, ohne dass dies eine grundsätzliche Wende bedeutet hätte. Auch die 1980er- und 1990er-Jahre sahen einen weiteren Ausbau, keinen Rückbau des Sozialstaates. Einzelnen Kürzungen, wie etwa der Abschaffung des Schüler-Bafögs, standen neue Ausgaben an anderer Stelle gegenüber. Zu nennen ist hier neben den Blüm’schen Frühverrentungsprogrammen vor allem die Einführung der Pflegeversicherung. Den stärksten Anstieg der Staatsverschuldung brachte die Deutsche Einheit, also ebenfalls ein politisch gewolltes, nicht von Unternehmensseite diktiertes Projekt.

 

Tiefsitzendes Misstrauen

Nun leugnet Streeck weder den Anstieg der Steuereinnahmen noch der Staatsausgaben. Er hält diesen Anstieg jedoch für berechtigt, ja notwendig. Nur wenn die Arbeitnehmer über stetig steigende Einnahmen (ob nun direkt oder indirekt über Transfers) an den Gewinnen der Kapitalseite beteiligt würden, seien sie zur Mitarbeit im kapitalistischen System bereit. Dies zu finanzieren, sei Aufgabe der Wohlhabenden. Täten sie dies nicht, verabschiedeten sie sich damit aus dem System des demokratischen Kapitalismus. Aus dieser Ansicht spricht Streecks tief sitzendes Misstrauen gegenüber der Marktwirtschaft, mithin jenem System das nicht nur in Deutschland für den stärksten Anstieg des individuellen Wohlstands und Lebensniveaus in der Geschichte gesorgt hat. Trotz der im Vergleich zu den Nachkriegsjahren nachgelassenen wirtschaftlichen Dynamik geht es den Deutschen heute besser als in den 60ern, den meisten Parametern zufolge besser als je zuvor. Dies eher auf die Staatsverschuldung als die Wertschöpfung privater Unternehmen zurückzuführen, wäre absurd. Natürlich bleibt es fraglich, ob die Marktwirtschaft auch bei langfristig stagnierenden oder sinkenden Einkommen weiterhin Zustimmung genösse. Diese Frage kann durchaus relevant werden, gerade wenn die bevorstehenden Folgen des demographischen Wandels zukünftige Lohngewinne aufzehren sollten. Auf keinen Fall jedoch werden alarmistische, auf Halbwahrheiten beruhende Werke à la Streeck zur Akzeptanz der Sozialen Marktwirtschaft beitragen.

 

Akt der politischen Ehrlichkeit

Gleichzeitig muss die Frage nach Grenzen des staatlichen Zugriffs auf Vermögen und Einkommen der Bürger erlaubt sein. Das heißt nicht, dass sich etwa an den jetzigen Spitzen- oder Erbschaftssteuersätzen nichts ändern darf. Dennoch würde man sich eine politische Diskussion wünschen, die bei Ausweitung staatlicher Leistungen auch die damit verbundenen Finanzierungskosten transparent macht. Die Staatsverschuldung – hier ist Streeck zuzustimmen – verschleiert stattdessen und kauft Zeit. Aber genau deshalb ist die Schuldenbremse kein Instrument aus der „neoliberalen“ Folterkammer, sondern ein Akt der staatlichen Selbstbeschränkung und politischen Ehrlichkeit. Dass damit auch der Einfluss der Finanzmärkte als politischer Akteur beschnitten wird, müsste Wolfgang Streeck eigentlich freuen.

 

Alexander Brakel, geboren 1976 in Bonn, stellvertretender Leiter der Hauptabteilung Wissenschaftliche Dienste /Archiv für Christlich-Demokratische Politik der Konrad-Adenauer-Stiftung e.V.

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