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Was Frankreich und Deutschland gegen die Desintegration Europas tun müssen

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Wer die Schlachtfelder von Verdun und das Beinhaus von Douaumont besichtigt, kann ermessen, welchen langen Weg Franzosen und Deutsche hinter sich gebracht haben, um aus der Erbfeindschaft eine Erbfreundschaft zu machen. In Colombey-les-Deux-Églises erinnert Frankreich dagegen an den General, an Charles de Gaulle, den Retter Frankreichs im Zweiten Weltkrieg und späteren Gründer der Fünften Republik, der bis heute Frankreichs Identität prägt und der zusammen mit Konrad Adenauer die deutsch-französische Freundschaft ermöglichte. Es ist der Ort eines Neuanfangs, wie er gegenwärtig erneut notwendig ist.

Denn was damals für die Zukunft gedacht war, durchlebt heute eine tiefe Krise. Darüber haben auch die Feierlichkeiten zum 50. Jahrestag des Élysée-Vertrages im Jahre 2014 nicht hinweggeholfen.

Das wiedervereinigte Deutschland hat ein Vierteljahrhundert nach der großen europäischen Freiheitsrevolution von 1989/90 und der daraus folgenden Wiedervereinigung Deutschlands und Europas Probleme, seine Rolle im vereinten Europa neu zu definieren. Nach vierzig Jahren Teilung hat Deutschland verlernt, mit Macht umzugehen. Es will weder die Europäische Union dominieren noch zum Zahlmeister Europas werden. Weil es angeblich auch das Recht hat, seine nationalen Interessen durchzusetzen, wirkt es aus Sicht seiner Nachbarn mehr und mehr rechthaberisch und kompromissunfähig.

Als wirtschaftsstärkstes Land kann Deutschland seine Interessen nicht national definieren, sondern nur europäisch. Gegen diese Maßgabe hat es in der Eurokrise mehrfach verstoßen.

 

Neigung zu deutschen Alleingängen

Deutschland neigt zu Alleingängen. Weder die Energiewende war mit seinen Partnern abgesprochen noch die im Widerspruch zur Dublin-Verordnung erfolgte Öffnung der Grenzen für Flüchtlinge 2015. Frankreichs Angebot, eine gemeinsame Wirtschaftspolitik zu konzipieren, wurde nicht aufgegriffen, ebenso wenig der Wunsch, eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik zu entwickeln. Auch Frankreich durchlebt eine schwere Krise. Die jahrzehntelange Unmöglichkeit, gesellschaftliche und wirtschaftliche Reformen voranzubringen, ja sogar eine parteiübergreifende Konzeption für ein einiges modernes Frankreich zu entwickeln und durchzusetzen, hat zu einer Spaltung der französischen Gesellschaft in Arme und Reiche, Junge und Alte, Zugewanderte und Einheimische geführt.

Das Bild der „Grande Nation“ verblasst, weil Frankreichs Politik zu schwach geworden ist. Auch Frankreich kann als großes Land seine Interessen nicht nur national definieren. Als ständiges Mitglied des UN-Sicherheitsrates muss es sie ebenfalls europäisch ausrichten, damit sie relevant sind.


Wie ein altes Ehepaar

Das Verhältnis von Deutschland und Frankreich, der einstmals viel gerühmte „Motor Europas“, läuft nicht mehr rund. Die Institutionen, mit denen man nach der Wiedervereinigung versucht hat, Deutschland auf Dauer in Europa einzubinden, sind in eine Krise geraten: wirtschaftlich der Euro und außenpolitisch der Zwei-plus-Vier-Vertrag. Das deutsch-französische Paar wirkt wie ein altes Ehepaar, das verlernt hat, miteinander zu reden. Das Dauerstarren auf sich selbst, der „repli sur soi“, wie Jacques Delors es nannte, der darin eine europäische Krankheit sah, hat zur Lähmung des deutsch-französischen Tandems geführt (Wolf Lepenies, Adenauer-Vortrag 2014, Stiftung Bundeskanzler-Adenauer-Haus, 5. November 2014).

Als Konrad Adenauer und General Charles de Gaulle den deutschfranzösischen Freundschaftsvertrag, übrigens gegen großen Widerstand, durchsetzten, war die Rollenverteilung klar: De Gaulle wollte, dass Frankreich im vereinten Europa die Führungsrolle übernahm. Das war für ihn die natürliche Folge der „certaine idée de la France“, für die er stand. Deutschland war nach der totalen Niederlage im Zweiten Weltkrieg keine Weltmacht mehr; Frankreich aber war Weltmacht, weil es Atommacht war. Adenauer bekundete seine Bereitschaft, diese deutsch-französische Asymmetrie zu akzeptieren. „Ich hoffe, dass Sie solange wie möglich an der Spitze Ihres Landes stehen, denn ich weiß nicht, was sonst aus Frankreich werden würde“, sagte der Altkanzler zu de Gaulle bei seinem Besuch im Élysée-Palast am 10. März 1966 (Charles de Gaulle: Lettres, Notes et Carnets Janvier 1964 - Juin 1966, Verlag Plon, Paris 1987, Seite 286, zitiert nach Lepenies, Adenauer-Vortrag 2014).

Die heutige, umgekehrte Asymmetrie zwischen Frankreich und Deutschland beruht meines Erachtens nicht auf der Wiedervereinigung Deutschlands und nicht darauf, dass Deutschland gestärkt aus der Finanz- und Eurokrise hervorgegangen ist. Sie beruht auch nicht auf wirklichen oder eingebildeten Vorstellungen von der eigenen Rolle in der Welt. Ihr liegen weder angestaubte Ideen der Pariser Diplomatie von einer Wiederbelebung der „Entente cordiale“ mit Großbritannien noch die Idee der Gründung einer Mittelmeerunion durch Präsident Nicolas Sarkozy als Gegengewicht zu Deutschland und dem protestantischen Norden Europas zugrunde.

Die vielen Ungeschicklichkeiten und Überheblichkeiten deutscher Politiker und Diplomaten sind ebenfalls nicht der Grund für die Disharmonie. Europa spricht nicht Deutsch. Deutschland hat keine hegemoniale Stellung in Europa und darf auch keine anstreben.

Deutschland ist vielmehr unsicher, weil es gleichzeitig machtvergessen und integrationsscheu geworden ist. Es hat Angst vor der eigenen Kraft, wie die Debatten über Bundeswehreinsätze auch innerhalb der NATO und der EU zeigen. Es hat Angst vor mehr Gemeinsamkeiten und mehr Integration, weil es Angst vor Enttäuschung hat.

 

Antworten auf die Desintegration

Eines ist jedenfalls klar: Die Phase der Desintegration in Europa kann nur überwunden werden, wenn Frankreich und Deutschland – zusammen mit den EU-Mitgliedsländern, die dazu bereit sind – einen neuen Anfang machen und gemeinsam mehr Europa wagen. Ich erinnere mich gut daran, wie in den 1990er-Jahren Helmut Kohl und François Mitterrand den Mut hatten, zusammen mit Jacques Delors einen solchen Neuanfang zu initiieren.

In einer Zeit, in der sich Politiker, Journalisten und Wissenschaftler darin gefallen, das Ende der EU vorherzusagen, in der Rechtsund Linkspopulisten Europa für ihre nationalen Versäumnisse verantwortlich machen, müssen Frankreich und Deutschland eine Initiative „Zukunft Europa“ ergreifen. Wenn etwas helfen kann, dann sind es die Gemeinsamkeiten von Frankreich und Deutschland.

 

Initiativen für Europa

Solche Initiativen könnten sein: der Aufbau einer gemeinsamen Armee auf der Grundlage der Deutsch-Französischen Brigade und des Eurokorps. Kein Land in Europa ist heute allein in der Lage, in einer unsicheren Welt in allen Krisengebieten, etwa in Afrika oder im Nahen Osten, einen Beitrag zur Sicherung des Friedens zu leisten. Diese europäische Armee sollte offen sein für die Teilnahme anderer europäischer Länder. Die Ausrufung des europäischen Verteidigungsfalls nach Artikel 42 Absatz 7 des Vertrages über die Europäische Union durch Frankreich zeigt die Notwendigkeit eines gemeinsamen Sicherheitsprotokolls. Die gemeinsamen Einsätze in Mali und Syrien zum Beispiel und wahrscheinlich bald in Libyen, die auch der militärischen Entlastung Frankreichs dienen, zeigen dies deutlich.

Der Aufbau einer europäischen „Sozialen Marktwirtschaft“, wie er in Artikel 3 des Europäischen Verfassungsvertrages normiert ist, ist in den Jahren der Krise nicht weiter vorangekommen. Dazu gehört etwa die Vollendung des Binnenmarktes. Zum Projekt Europa gehört auch der Aufbau gemeinsamer Netze. Ein gemeinsamer europäischer Energiemarkt braucht gerade im Hinblick auf den Ausstieg aus der Kernenergie und auf die Beendigung der Subventionen für die Steinkohleförderung im Jahre 2018 in Deutschland ein kompatibles Energienetz. Gleiches gilt für digitale Netze und das europäische Schnellbahnnetz.

Der europäische Hochschul- und Wissenschaftshaushalt hat in den letzten Jahren durch viele konkrete Projekte (zum Beispiel Sorbonne-/Bologna-Reform, Forschungsrahmenprogramme, Europäische Weltraumorganisation ESA, Erasmus-Programm) Fortschritte gemacht. Bisher fehlen aber eine gemeinsame Strategie für die Digitalisierung der europäischen Industrie und der Aufbau einer Start-up-Kultur.

Die EU hat es bislang nicht geschafft, ein wirksames Programm für die Bekämpfung der in vielen europäischen Ländern extrem hohen Jugendarbeitslosigkeit zu entwickeln. Der in diesen Ländern feststellbare Verlust an demokratischer Legitimation hat hier seinen zentralen Grund.

Auch die Sicherung der Außengrenzen ist ein gemeinsames Anliegen. Die ungesteuerten Migrationsströme haben die EU in eine selbst verschuldete Krise geführt. Das Schengen-System ist für die EU, den Euro und das Selbstverständnis Europas von zentraler Bedeutung. Neben der Bekämpfung der Fluchtursachen hat die gemeinsame Sicherung der Außengrenzen für die Handlungsfähigkeit der EU und vieler Mitgliedstaaten eine zentrale Bedeutung. Es ist nicht hinnehmbar, dass die EU und ihre Mitgliedstaaten nicht in der Lage sind, ein Sicherheitssystem aufzubauen, das sowohl die ungesteuerte Einwanderung verhindert als auch mehr Sicherheit vor Terroranschlägen schafft. Die Terroranschläge von Paris, Brüssel und Berlin zeigen, dass die Zusammenarbeit binational wie europäisch dringend ausgebaut werden muss.


Gemeinsamer „Anker“

Frankreich und Deutschland müssen wieder gemeinsam der „Anker“ für Europa sein: Deutschland könnte die Federführung in der Wirtschaftspolitik, Frankreich die in der Außenpolitik übernehmen. Gemeinsam sollten sie in der EU dafür eintreten, das Projekt Europa zu einer immer enger werdenden Gemeinschaft weiterzuentwickeln: für Demokratie, Rechtsstaat, Menschenrechte, Soziale Marktwirtschaft und Sicherheit vor dem wachsenden internationalen Terrorismus. Zusammen können sie auf gleicher Augenhöhe mit den transatlantischen Partnern USA und Kanada die Fackel der Freiheit, der Gerechtigkeit und Solidarität als Kern des westlichen Projekts in die Zukunft tragen. Darauf verweisen Verdun, Douaumont, vor allem aber auch der Neuanfang, der sich mit Colombey-les-Deux-Églises verbindet.

Jürgen Rüttgers, geboren 1951 in Köln, ehemaliger Bundesminister für Bildung, Wissenschaft, Forschung und Technologie, 2005 bis 2010 Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen. Er arbeitet als Anwalt und als Professor am Institut für Politische Wissenschaft und Soziologie der Rheinischen Friedrich-Wilhelms- Universität Bonn.

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