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Diagnose einer Bildungsinstitution

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Der enorme Schülerzulauf, immer heterogenere Klassen, viele nicht unbedingt gymnasialgeeignete Kinder, aber auch unterforderte Begabte sowie die unnötige Verkürzung der Schulzeit auf acht Jahre, die so mancher Kultusminister ebenso verwünscht wie die Rechtschreibreform, haben die Arbeit am Gymnasium nicht leichter gemacht. Begonnen hat der Gymnasialzulauf in den 1960er-Jahren: Die Abiturientenquote stieg zwischen 1965 und 1972 von 6,3 auf zwölf Prozent bei den Jungen und von 3,3 auf etwa zehn Prozent bei den Mädchen. Inzwischen liegt die Abiturientenquote in Universitätsstädten wie Heidelberg bei siebzig Prozent eines Jahrgangs. Die einstige Stätte der Elitebildung, das Gymnasium, ist längst der Ort der Massenqualifikation geworden. Das bleibt nicht ohne Folgen für die Qualität der schulischen Arbeit, auch wenn sie ausweislich der Schulleistungsstudien der vergangenen Jahre am Gymnasium am wenigsten von der Zusammensetzung der Schülerschaft abhängt – viel weniger als an Realschulen oder Hauptschulen. Aufschlussreich ist allerdings, dass die Länder, die noch vergleichsweise strenge Zugangsregelungen zum Gymnasium haben (Bayern und Sachsen), auch die besten Gymnasialergebnisse hervorbringen. Das zeigt das Beispiel Sachsens: Im Jahr 2010 hat es die Bildungsempfehlung für das Gymnasium an einen Notendurchschnitt von 2,0 in den Fächern Deutsch, Mathematik und Sachunterricht geknüpft, eine Vier oder eine schlechtere Note darf dort ein angehender Gymnasiast in keinem der drei Fächer haben. Die meisten Länder haben die verbindliche Schulartenempfehlung inzwischen abgeschafft und lassen den Eltern die Wahl, so auch Baden-Württemberg. Den Kindern dürfte das eher schaden als nützen.

 

Berliner „Loser-Klassen“

Jedenfalls legen das die Berliner Erfahrungen nahe. 800 Schüler haben im Schuljahr 2012/2013 das Probejahr im Gymnasium nicht bestanden. Allein im Problembezirk Berlin-Neukölln sind etwa 110 Kinder am Gymnasium gescheitert. Für diese Kinder müssen ausgerechnet die inklusionsfixierten Berliner neue Klassen aufmachen, weil es in den Regelklassen der Sekundarschulen keinen Platz mehr für sie gibt. Wer nach der sechsjährigen Grundschule das Probejahr am Gymnasium in der siebten Klasse nicht besteht, kommt in die achte Klasse einer Sekundarschule. Schon wird in manchen Schulen über die „Loser-Klassen“ gespöttelt. Neuköllns Bezirksstadträtin hat die Schulsenatorin aufgefordert, den Zugang zu reglementieren, und schlägt vor, Grundschüler mit einem schlechteren Notendurchschnitt als 3,5 zu testen. Wer den Test nicht besteht, soll auch nicht auf das Gymnasium gehen können. Doch nicht einmal zu dieser Beschränkung wird es wohl kommen. So werden weiterhin überehrgeizige Eltern ihre Kinder mit dem Wechsel auf das Gymnasium überfordern und ihnen gleich zu Beginn der weiterführenden Schule eine Erfahrung des Scheiterns zumuten, die sie entmutigen wird. In Baden-Württemberg wird es spätestens nach der Etablierung der Gemeinschaftsschule zu vergleichbaren Entwicklungen kommen, obwohl die Durchlässigkeit dort wegen der beruflichen Gymnasien bisher am größten war.

In Hamburg dürfen Gymnasiasten nur noch von der zehnten in die zwölfte Klasse wechseln, ein Übergang in die elfte Klasse ist nicht möglich, damit diejenigen, die mit der Schulzeitverkürzung nicht gut zurechtkommen und eine dreijährige Oberstufe vorziehen würden, bleiben, wo sie sind: auf dem Gymnasium. Auch so kann man das Gymnasium schwächen.

 

Kultusministerkonferenz ohne CDU-Kultusminister

Wer sich für frühere und strengere Übergangsregelungen starkmacht, wird sich des Selektionsvorwurfs nicht erwehren können. Von der Kultusministerkonferenz ist angesichts der Mehrheitsverhältnisse nichts Grundsätzliches zum Übergang auf das Gymnasium zu erwarten. Schließlich gibt es nur noch einen CSU-Kultusminister, keinen CDU-Kultusminister, dazu einige Parteilose oder FDP-Minister in bürgerlichen Regierungen. Die Union hat sich diese historisch einmalige Konstellation selbst zuzuschreiben. Sie hat das Schulressort allzu nachgiebig an den kleineren Koalitionspartner abgegeben und all ihren bildungspolitischen Sonntagsreden mit dem Lobpreis der Ressource „Bildung“ selbst widersprochen. Wenn es darum ging, politisch Prioritäten zu setzen, stand die Bildungspolitik nie wirklich an erster Stelle, obwohl die Schulpolitik Landtagswahlen entscheiden kann (siehe Hessen).

In den zahlreichen Strukturdebatten war das Gymnasium immer der Ort, der für eine zu frühe und ungerechte Auslese verantwortlich schien. Doch das expandierende Gymnasium konnte die Aufgabe erfüllen, die Schulreformer eigentlich der Gesamtschule zugedacht hatten: Es ermöglichte mehr Kindern mehr Bildung. Trotzdem konnte es sich des Selektionsvorwurfs nie wirklich erwehren.

Wer dem Gymnasium jedoch soziale Selektivität vorwirft, sollte nach Großbritannien oder auch Frankreich mit seinen meritokratischen Selektionssystemen blicken. Während an Universitäten in Großbritannien und selbst in den Vereinigten Staaten schulische Abschlussprüfungen durch eigene Aufnahmeprüfungen abgewertet werden, galt das Abitur bisher als sicherster Prädiktor für Studienerfolg. Im Vergleich zeigt sich auch, dass das deutsche Gymnasium hochgradig egalitär arbeitet und von diskriminierender Selektion nicht die Rede sein kann, schon eher von unterschiedlichen sozialen Voraussetzungen für Bildung und von unzureichender Vorschulbildung.

 

Was Wilhelm Humboldt von Zeugnisnoten hielt

Der Abschluss ist schon das Berechtigungszertifikat. Prüfungen und Noten waren für Wilhelm von Humboldt deshalb so entscheidend, weil sie davor bewahrten, schulische Wertmaßstäbe durch außerschulische, soziale Kriterien zu überformen oder gar zu ersetzen. Herkunft spielt keine Rolle mehr, was den Zugang angeht, sie wirkt sich allenfalls auf bessere Leistungen aus. Das Abitur als Norm und Ziel legt die Anforderungen an die Gymnasialausbildung fest: Studierfähigkeit, erweiterte Allgemeinbildung und wissenschaftspropädeutische Fähigkeiten – diese drei sollten erreicht werden. Die Kultusministerkonferenz hat das 1995 noch einmal festgehalten. Inzwischen will sie davon jedoch nicht mehr viel wissen.

Vom Gymnasium aus wurden auch die Lehrämter und die dazugehörigen Ausbildungsformen unterschieden – einerseits die Philologen, andererseits die Grundschullehrer, fachbezogene Universitätsausbildung hier, praxisbezogene Ausbildung an Pädagogischen Hochschulen dort. Das galt bis dato auch in Baden-Württemberg. Doch davon wird spätestens nach der Reform der Lehrerbildung nicht mehr viel übrig bleiben. Eine Gymnasiallehrerausbildung, die sich auf wenige Zusatzmodule in der letzten Studienphase beschränkt, verdient ihren Namen ebenso wenig wie die sogenannte polyvalente Stufenlehrerausbildung in Nordrhein-Westfalen oder in Berlin.

 

Abschaffung des Gymnasiallehrers

Es ist erstaunlich, dass der frühere Direktor am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung, Jürgen Baumert, der dem Gymnasium eine erstaunliche und kontinuierliche Erfolgsgeschichte bescheinigt, wie sie kaum eine andere Schulform aufzuweisen habe, die Abschaffung der Gymnasiallehrerausbildung mitverantwortet hat. Dabei verdankt sich die – trotz aller Abstriche – stabile Qualität des Gymnasiums der fachwissenschaftlichen Qualität seiner Lehrer. Mit der Abschaffung des Gymnasiallehrers geht die Abschaffung eines gymnasialen Bildungsplans einher. In vielen Ländern haben Einheitslehrpläne die schulartenspezifischen Lehrpläne ersetzt. Damit wird das Gymnasium weiterhin von innen ausgehöhlt, es sei denn, ein Lehrerkollegium setzt sich über all das hinweg und beschließt ein höheres Niveau an einer Einzelschule. Dazu jedoch bedarf es einer Standfestigkeit auch aufseiten der Schulleitung, die nicht mehr allzu oft vorkommen dürfte.

Es wird jetzt und auch in Zukunft einzelne Gymnasien geben, die ein hohes Niveau halten und mit der internationalen Spitzengruppe konkurrieren können. Möglicherweise wird es ihnen auch gelingen, die in Deutschland viel zu kleine Spitzengruppe zu vergrößern. Bisher schaffen es die meisten Gymnasien zwar, viele Schüler auf ein gutes mittleres Niveau zu bringen, die besonders Begabten aber bleiben offenbar zu weit hinter ihren Möglichkeiten zurück. Auch wenn die Bildungsforscher das schon bei der ersten PISA-Studie im Jahre 2000 festgestellt haben, war es politisch nicht opportun, von der Förderung der Begabten oder gar von Eliteförderung zu sprechen. Das hat sich erst im vergangenen Jahr geändert. Klare, disziplinierte Klassenführung, deutliche Strukturierung, weder Unter- noch Überforderung – das sind die alten Tugenden des gymnasialen Unterrichts. Die Grundlage dafür bietet das Selbstverständnis des Gymnasiallehrers als Fachexperte. Was wird davon bleiben, wenn sich die Reform der Lehrerausbildung im Sinne des Einheitslehrers immer mehr durchsetzt? Wenn die Fachlichkeit so beschnitten wird, wie das vielerorts geplant ist? Das Gymnasium wird davon ins Mark getroffen werden. Spätestens dann werden die Universitäten beginnen, Colleges einzurichten oder in einem Studium generale nachzuholen, was sie bisher noch von der Oberstufe erwarten konnten. In dem neuen Buch Intelligenz. Große Unterschiede und ihre Folgen der Begabungsforscher Elsbeth Stern und Aljoscha Neubauer findet sich die kühle Feststellung zum Gymnasium: „Eine Schule für besonders Begabte, die von nahezu der Hälfte der Schüler besucht wird, […] ist ein Widerspruch in sich.“

 

Einheitsschule des Bürgertums – Einheitsschule für alle

Zu den Gefährdungen des Gymnasiums gehört die Inflation der Noten, die mit den Abiturnoten beginnt und mit den Examensnoten an den Universitäten endet. Dadurch wird die systematische Entwertung der Berechtigungszertifikate vorangetrieben. Aus der Vermittlung von Studierfähigkeit darf nicht die Vergabe einer Studierberechtigung werden. Die Aufgabe des Gymnasiums ist es, die historisch-soziale Orientierung seiner Schüler in der Welt zu initiieren, sich nicht mit einer Grundbildung zufriedenzugeben, sondern eigene Reflexion und Reflexivität zu eröffnen. Das Gymnasium war im 19. Jahrhundert die Einheitsschule des Bürgertums; es scheint in manchen Bundesländern zu einer neuen Einheitsschule für alle zu werden. Der politische Widerstand dagegen ist gering. Selbst die Unionsparteien sind zu Abstrichen in der Qualität der gymnasialen Bildung allzu bereit. Das begann nicht erst mit dem Mainzer Abiturkompromiss und endet nicht mit der von der Hamburger CDU gewollten Verlängerung der Primarschule, die jeder Gymnasialbildung den Garaus gemacht hätte.

 

Heike Schmoll, geboren 1962 in Villingen, Korrespondentin der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ in Berlin, verantwortlich für die Seite „Bildungswelten“.

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