Die Menschen in Deutschland genießen derzeit ein hohes Maß an Wohlstand und Freiheit. Gleichzeitig dürfte noch nie seit dem Zweiten Weltkrieg die Zahl derer, die vor Krieg, Konflikten und Verfolgung fliehen, größer gewesen sein. Allein in den letzten fünf Jahren sind mindestens fünfzehn neue Konflikte ausgebrochen oder wieder entflammt: Syrien, Irak, Jemen, Ukraine – um nur einige zu nennen. Zusätzlich dauern Instabilität und Konflikte in Afghanistan, Somalia und anderswo immer noch an. Laut UNHCR flohen 2014 im Durchschnitt pro Tag 42.500 Menschen – jeden Tag eine Stadt fast so groß wie Coburg oder Bautzen. Insgesamt waren das fast 60 Millionen Menschen weltweit. Überwiegend bleiben sie in den jeweiligen Regionen. Aber eben nicht alle.
Es ist richtig, dass wir uns dem stellen – nicht nur, weil unser Grundgesetz einen Anspruch auf Asyl garantiert, sondern weil es auch unserem Verständnis als humane Bürgergesellschaft entspricht. Wir nehmen mit die meisten Flüchtlinge in der EU auf und übernehmen bei der humanitären Hilfe für Flüchtlinge in den Krisenregionen dieser Welt ebenfalls Verantwortung. Dass die Flüchtlingszahlen so stark steigen würden, war für niemand so vorhersehbar. Wir stehen zweifellos vor einer großen Bewährungsprobe.
Zeichen der Solidarität
Es liegt in der Natur der Sache, dass wir hier Lösungen nicht allein auf nationaler Ebene finden können. Erforderlich ist ein kohärenter Politikansatz, der auf nationaler und internationaler Ebene auch Aspekte der Außen-, Wirtschafts- und Entwicklungspolitik umfasst, und nachhaltige Verbesserungen der Lebensverhältnisse in den Herkunftsländern bewirkt. Die jüngsten Beschlüsse des Rats der Europäischen Innenminister und des Europäischen Rats zur Flüchtlingsverteilung beziehungsweise Finanzhilfen für Flüchtlingslager sind nur ein erster Schritt. Wir müssen die Zahl der Flüchtlinge , die nach Europa kommen, schnell verringern. Daran arbeitet die Bundesregierung. Daneben bleibt es besonders wichtig, wie wir in Deutschland kurz und mittelfristig Antworten finden – eine unteilbare Herausforderung, die nur von Bund, Ländern und Kommunen gemeinsam geschultert werden kann. Der Bund hat deshalb ein deutliches Zeichen der Solidarität gesetzt und den Ländern und Kommunen für die Unterbringung der Asylbewerber für 2015 und 2015 ganz erhebliche zusätzliche Mittel zur Verfügung gestellt.
Schneller Schutz für Schutzbedürftige
Neben diesen finanziellen Hilfen ist die Frage, wie wir die Antragszahlen in den Griff bekommen. Das Gesetzespaket, das wir am 29. September im Bundeskabinett verabschiedet haben, bietet uns die notwendigen Werkzeuge. Es richtet sich darauf, denen zügig Schutz zu gewähren, bei denen wir dazu rechtlich verpflichtet sind. Gleichzeitig müssen diejenigen unser Land wieder verlassen, die nicht schutzbedürftig sind: Ein Großteil der Flüchtlinge flieht vor den Krisen bzw. Kriegen wie etwa in Syrien. Im ersten Halbjahr 2015 kam aber fast die Hälfte aller Antragsteller aus dem Westbalkan und deren Anträge sind fast durchweg aussichtslos. Die Menschen kommen in der Hoffnung auf eine wirtschaftlich bessere Zukunft – das ist aus Sicht dieser Menschen nachvollziehbar, aber kein Grund für eine Flüchtlingsanerkennung. Asylpolitik kann nicht die Antwort auf Armut sein. Asyl und Zuwanderung sind zu trennen. Künftig gilt daher: Wer Schutz braucht, soll ihn schneller erhalten, und wer kein Recht auf Anerkennung hat, soll möglichst schnell Deutschland wieder verlassen. Nur so können wir die große Hilfsbereitschaft in der Bevölkerung für die Aufnahme von schutzbedürftigen Menschen er halten und die Leistungsfähigkeit unserer Aufnahmesysteme bewahren. Konsequenterweise wurden Ende 2014 Bosnien und Herzegowina, Mazedonien und Serbien gesetzlich als sichere Herkunftsstaaten eingestuft. Bei den übrigen Staaten des westlichen Balkans (Albanien, Montenegro und Serbien) wird dies nun auch baldmöglichst geschehen.
Klare Positionierung und Beschleunigung
Die Beschleunigung der Asylverfahren ist unabdingbar zur Bewältigung der Flüchtlingslage, weshalb wir das Personal im Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) weiter ganz erheblich aufstocken werden – zusätzlich zu dem bereits bislang erfolgten massiven Personalaufwuchs. Da schon die zusätzlichen Stellen 2014/15 eine erhebliche Verfahrenskürzung gebracht haben, ist davon auszugehen, dass die Verfahren nochmals deutlich beschleunigt werden.
Vor allem müssen wir auch mögliche Fehlanreize für unberechtigte Asylanträge beseitigen. Das haben wir mit unserem Gesetzespaket auf den Weg gebracht. So werden wir unter anderem den Bargeldbedarf in Erstaufnahmeeinrichtungen so weit wie möglich durch gleichwertige Sachleistungen ersetzen. Geldleistungen werden nur noch maximal einen Monat im Voraus gezahlt und auch die Sozialleistungen für bestimmte vollziehbar Ausreisepflichtige werden auf das unverzichtbare Mindestmaß reduziert. Zusammen mit dem jüngst verabschiedeten Gesetz zur Neubestimmung des Bleiberechts und der Aufenthaltsbeendigung wollen wir so erreichen, dass nicht-schutzbedürftige Ausländer ohne Bleibeperspektive zügiger in ihre Heimatländer zurückkehren und ggf. noch mit einer Wiedereinreisesperre belegt werden. Sonst nehmen wir in Kauf, dass sehr viele Menschen ihr gesamtes Hab und Gut verkaufen – womöglich noch an Schlepper mit falschen Versprechungen – nur um nach Deutschland zu reisen, abgelehnt zu werden und am Ende mit völlig leeren Händen dazustehen – und weder eine Möglichkeit zum Leben bei uns noch eine Grundlage in ihrer Heimat haben.
Stärkere Integrationsförderung – alle sind gefordert
Schließlich müssen wir Integration noch stärker fördern und fordern. Flüchtlinge mit Bleibeperspektive benötigen Hilfen zur Integration. Dies ist im Interesse aller: Sie werden für längere Zeit in Deutschland leben und nur wenn sie sich integrieren, können sie sich optimal in unsere Gesellschaft ein bringen und ihren Beitrag für die Gemeinschaft leisten. Deswegen werden seitens des Bundes die Mittel für die Integrationskurse aufgestockt.
Mit Geld alleine lässt sich Integration allerdings nicht erfolgreich bewirken. Sie betrifft unsere Gesellschaft als Ganzes und ist nicht allein Sache des Staates. Wir alle müssen die längerfristigen Fragen nach den sozialen, kulturellen, ja selbst nach den religiösen Aspekten und Folgen im Blick behalten und offen klären. Migration bedeutet zunächst eine Bereicherung für unser Land. Aber: Migration bedeutet auch die Konfrontation mit Fremdem und Neuem. Dies begreifen nicht alle als Chance, sondern verbinden es auch mit Ängsten und Sorgen, die wir nicht ignorieren dürfen.
Das bedeutet zweierlei: einerseits klare Kante gegen Fremdenfeindlichkeit sowie eine harte Bestrafung von Übergriffen auf Flüchtlinge und Anschlägen auf Flüchtlingsheime. Es ist unerträglich, gerade solche Menschen als Opfer auszusuchen, die aus Not bei uns ein besseres Leben suchen. Außer dem diskreditieren diese hinterhältigen Täter die beeindruckende ehren amtliche Aufnahme und Hilfsbereitschaft der Mehrheit der Menschen in Deutschland.
Andererseits dürfen wir berechtigte Sorgen von Bürgerinnen und Bürgern auch nicht pauschal zurückweisen, wenn Länder es beispielsweise nicht anders einrichten können und Kommunen größere Gruppen von allein stehenden jungen Männern zugewiesen bekommen – viele junge Männer unterschiedlicher Kulturen und Fluchterfahrungen in einem Gebäude können Konflikte mit sich bringen. Aber es ist nicht fair, dies pauschal zu unterstellen.
Wir alle müssen Hintergründe besser erklären und Vorurteilen mit Fakten begegnen. Aber wir müssen auch kristallklar werden: Die Flüchtlinge müssen unsere Gesetze achten und unsere Wertvorstellungen respektieren. Wer Schutz braucht und will, muss anerkennen, wohin eine Verteilung erfolgt und Geduld haben, bis ein Verfahren abgeschlossen ist. Meine Erfahrung zeigt: Wo gut, umfassend und frühzeitig informiert wird, offen und ehrlich Probleme im Vorfeld angesprochen werden und man sich mit den Bedenken fortlaufend argumentativ auseinandersetzt, entstehen viele Probleme und Ängste bei der Aufnahme von Flüchtlingen erst gar nicht. Hier stehen alle Ebenen der Politik in der Bringschuld, besonders auf lokaler Ebene. Gleichzeitig trifft die Bevölkerung auch die Holschuld, sich selbst(kritisch) zu informieren – versuche ich mir ein unvoreingenommenes Urteil zu bilden? Irre ich mich vielleicht? Ich denke, beides darf man von mündigen Bürgern und Politikern in einer Demokratie erwarten.
Ich wünsche uns allen deshalb mehr Mut, Kreativität und Ehrlichkeit im Umgang mit den Chancen, den Risiken und den Herausforderungen für unser Deutschland. Wir sehen uns mit sehr großen Herausforderungen konfrontiert, aber ich bin überzeugt, dass wir auf dem richtigen Weg sind und damit der Bevölkerung signalisieren: Deutschland ist gefordert, aber nicht überfordert.
Thomas de Maizière, geboren 1954 in Bonn, Bundesminister und Chef des Bundeskanzleramtes a. D., seit Dezember 2013 Bundesminister des Innern.