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Die Bedeutung der genetischen Abstammung am Beispiel von Spenderkindern

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Haben Sie sich schon einmal gefragt, ob Sie bei Ihrer Geburt im Krankenhaus vertauscht wurden? Und wenn dem so wäre – würden Sie wissen wollen, wer Ihre genetischen Eltern sind?

Bei Spenderkindern fallen genetische und rechtliche Elternschaft gezielt auseinander: Die rechtlichen Eltern wünschen sich ein Kind und beziehen dazu Spermium oder Eizelle einer weiteren Person ein. Erfolgt die Vermittlung über eine Samenbank, ist die Person, von der die Keimzelle stammt, den Wunscheltern nicht bekannt. Entsteht ein Kind, übernehmen die Wunscheltern die rechtliche Elternschaft. Das entstehende Kind ist also nur mit einem rechtlichen Elternteil genetisch verwandt. Daneben hat es noch einen weiteren genetischen Elternteil. In Deutschland entstehen die meisten Spenderkinder durch eine „Samenspende“ (im Folgenden: Samenvermittlung). Andere Formen, durch die Spenderkinder entstehen können, sind Eizellvermittlung und Embryonenvermittlung. Bei der Embryonenvermittlung ist das Kind mit keinem rechtlichen Elternteil genetisch verwandt und hat daneben zwei genetische Elternteile.

Bereits 1970 wies die Bundesärztekammer im Zusammenhang mit der Samenvermittlung darauf hin, dass der vermittelnde Arzt dem anfragenden Kind den Namen des genetischen Vaters nennen muss.1 Im Jahr 2015 bestätigte der Bundesgerichtshof im Rahmen einer Klage zweier minderjähriger Spenderkinder, dass diese unabhängig von einem Mindestalter ein Recht haben, zu erfahren, wer ihr weiterer genetischer Elternteil ist. Dennoch wurde den genetischen Elternteilen lange Zeit Anonymität zugesichert. Die fremden Keimzellen sollten den Kinderwunsch der Wunscheltern erfüllen, und die Menschen, von denen sie abstammen, sollten im Leben der entstehenden Kinder keinerlei Bedeutung haben. Das Konzept der Keimzellvermittlung setzt voraus, dass der weitere genetische Elternteil kein Interesse am entstehenden Kind hat und keine Rolle in dessen Familie spielen möchte. Ausschließlich die sozial präsente Familie soll zählen.

Beim Heranwachsen der entstandenen Kinder zeigte sich, dass für diese – planwidrig – auch der Mensch, von dem die Keimzellen stammen, an Bedeutung gewinnt. Manche Spenderkinder möchten frühzeitig mehr über ihren weiteren genetischen Elternteil erfahren, bei anderen entwickelt sich das Bedürfnis erst nach und nach. Über achtzig Prozent der über ihre Entstehungsweise aufgeklärten Spenderkinder möchten früher oder später erfahren, wer dieser Mensch ist2, und nehmen ihn als Person wahr3.

 

Wo finde ich mich wieder?

 

Schon Kindergartenkinder fragen, wo sie herkommen. Kinder erleben, wie andere sie abgleichen – die Augen wie die Mama, die Haare wie der Papa, das sportliche Geschick vom Opa und so weiter. Menschen entwickeln ihre eigene Identität durch den Abgleich mit ihrem Umfeld: Wo finde ich mich wieder, und was bin nur ich? Die Eltern spielen dabei eine große Rolle: Welche Ähnlichkeit nehme ich gern an, und wo grenze ich mich bewusst ab? Dazu gehören sozialvermittelte Werte, aber auch genetisch Vermitteltes wie äußere Ähnlichkeiten und Persönlichkeitsmerkmale.

Zudem leben Menschen nicht nur im Hier und Jetzt, sondern haben ein Verständnis von Vergangenheit und Zukunft. Es gibt eine Zeit vor der eigenen Geburt und nach dem eigenen Tod. So können sich Menschen über ihr eigenes Leben hinaus in die Menschheitsgeschichte eingebunden erleben. Die Menschheitsgeschichte ist eine Kette aufeinanderfolgender Generationen. Darin können Menschen sich individuell verorten, wenn sie wissen, wer ihre Vorfahren, ihre genetischen Eltern, sind. Konkrete Anlässe, sich intensiver mit seiner leiblichen Herkunft auseinanderzusetzen, sind, wenn Menschen selbst Eltern werden oder wenn ein Elternteil stirbt.

Gar nichts zum Beispiel über den genetischen Vater zu wissen, außer, dass es ihn gibt, bedeutet auch, dass es theoretisch jeder Mann sein könnte, der mindestens achtzehn Jahre älter ist als man selbst. Zu erfahren, wer der eigene genetische Vater ist, bedeutet, dass aus der unfasslichen Beliebigkeit ein konkretes Bild einer Person entstehen kann, mit der eine Auseinandersetzung möglich ist.

Viele Spenderkinder möchten als Erstes erfahren, wie der andere genetische Elternteil aussieht. Eine weitere Frage ist, welche Krankheitsanlagen möglicherweise in der Familie vorhanden sind. Bei Arztbesuchen wird häufig nach familiären Vorerkrankungen gefragt. Ohne Kenntnis beider genetischen Elternteile lässt sich diese Frage nicht beantworten.

 

„Meinem Selbst so nah wie nie“

 

Oft besteht Interesse, mehr über den genetischen Elternteil als Mensch zu erfahren, das heißt, was er gern mag, wofür er sich interessiert, über seine Geschichte sowie über seine weitere Familie, seine Eltern, Geschwister, weitere Kinder und so weiter. Wichtig ist auch die Frage, ob er sympathisch ist und warum er sich entschieden hat, auf diese Weise Kinder in die Welt zu setzen. Oft berichten Spenderkinder von einem Gefühl von Verbundenheit, besonders, wenn Ähnlichkeiten entdeckt werden. Manche Spenderkinder nehmen Eigenschaften an sich wahr, die sie in ihrer bekannten Familie nicht wiederfinden, und erleben es als hilfreich, wenn sie bisher nicht Zuordnungsbares in der bislang unbekannten Verwandtschaft erkennen.

Ist der Mensch sympathisch, wünschen sich viele Spenderkinder weiteren Kontakt und dass sie kein Geheimnis im Leben ihres genetischen Vaters bleiben sollen. Selbst wenn der genetische Elternteil dem Kind unsympathisch ist, erleben suchende Spenderkinder seine Identifizierung in der Regel als friedenbringend, wie etwa das Zitat von Anna veranschaulicht: „Als ich Anfang letzten Jahres durch eine DANN-Datenbank unter anderem Kontakt zu meinem Erzeuger aufnehmen konnte, war das ein riesengroßes Geschenk. Das erste Telefonat mit ihm war jedoch ziemlich sch***. Danach überlegte ich, was das Gespräch so schlimm gemacht hat. Ich formulierte die Eigenschaften, die den Erzeuger so unsympathisch gemacht haben, und war verblüfft, als ich genau die Eigenschaften wiedererkannte, die ich jahrelang an mir ablehnte. Dieser Tag war einerseits extrem aufwühlend und unangenehm, doch am Ende sehr aufklärend und gewinnbringend. Seither habe ich mich selber akzeptieren können und fühle mich meinem Selbst so nah wie nie“ (Anna, 25, Aufklärung über die Entstehungsweise im Alter von fünfzehn Jahren).4

Beobachtungen legen außerdem nahe, dass es so etwas wie ein Bedürfnis gibt, von seinen genetischen Elternteilen akzeptiert zu werden, und dass sich die Erfüllung dieses Bedürfnisses nicht an andere Menschen delegieren lässt,5 wie das Zitat von Sebastian erkennen lässt: „Nach einem sehr langen Gespräch verabschiedeten wir uns, und er klopfte mir anerkennend auf die Schulter. Auch wenn ich von vornherein gesagt habe, dass das Treffen nur der Suche nach meinen Wurzeln dient, war ich doch überglücklich, von meinem biologischen Vater eine Geste der Anerkennung zu bekommen“ (Sebastian, 26).

Während dem Konzept nach also die genetische Verwandtschaft für die entstehenden Menschen möglichst keine Rolle spielen soll, erkennt die Reproduktionsmedizin selbst deren Einfluss auf verschiedene Merkmale und auch auf eine gefühlte Verbindung an. Samenbanken bieten Informationen zu Aussehen, Interessen und Intellekt der Menschen an, deren Keimzellen sie vermitteln. Praxen befragen Wunscheltern, um eine gute Passung zu erzielen – oder um zumindest diesen Eindruck zu erwecken. Selbst wenn sich diese Informationen im Nachhinein teilweise als falsch herausstellten, wird durch die Vorgehensweise anerkannt, dass Vererbung für viele Wunscheltern eine Rolle spielt. Leihmüttern werden bevorzugt Eizellen anderer Personen eingesetzt, damit sie das Kind, das sie austragen, weniger als ihr eigenes wahrnehmen und es nach der Geburt leichter abgeben.

 

Verschwiegene Erzeugerschaft

 

Wunscheltern wird heutzutage empfohlen, ihre Kinder von Anfang an über deren Herkunft aufzuklären. Eine Untersuchung verschiedener Studien aus europäischen Ländern kam 2016 jedoch zu dem Ergebnis, dass dem nur knapp ein Viertel der Wunscheltern nachkommt.6 Mehrere Spenderkinder, die ihren zweiten genetischen Elternteil identifizierten, beobachten, dass dieser Elternteil sie gegenüber seinem Partner oder seiner Partnerin sowie gegenüber seinen rechtlichen Kindern verschweigt, weil er deren Reaktionen auf seine genetische Elternschaft fürchtet.

Über die Anlage-Umwelt-Debatte, also die Frage, ob ein Mensch eher durch Vererbung oder durch Erziehung beziehungsweise durch seine Umwelt beeinflusst wird, wurde jahrzehntelang gestritten. Bei einigen Merkmalen wie Körpergröße, Haar- und Augenfarbe ist eine deutliche genetische Beteiligung weithin akzeptiert. Forschungsarbeiten zeigen auch für die Ausprägung von Persönlichkeitsmerkmalen wie die Big Five (Neurotizismus, Extraversion, Offenheit für neue Erfahrungen, Verträglichkeit und Gewissenhaftigkeit) einen genetischen Einfluss von etwa vierzig bis sechzig Prozent.7 Laut einer Metaanalyse über Zwillingsstudien von 1958 bis 2012 erklären genetische Faktoren durchschnittlich die Hälfte der beobachteten Varianz.8 In der Metaanalyse fand sich kein einziges Merkmal, auf das genetische Anlagen keinen Einfluss haben.

Da genetische Effekte nicht losgelöst von einer Umwelt untersucht werden können, ist mittlerweile die Frage nicht mehr, ob Gene oder Umweltbedingungen bedeutsamer sind, sondern wie sie zusammenwirken.9

Genetische Anlagen und soziale Umwelt – beides beeinflusst einen Menschen wesentlich. Die Gene sind etwas, was ein Mensch mitbringt, seine Umwelt ist der Rahmen, in dem sich die Anlagen entfalten können. Wenn ein Mensch wissen möchte, wer seine genetischen Eltern sind, bedeutet dies nicht, dass ihm seine sozialen Eltern unwichtig sind. Spenderkinder berichten oftmals von einem Loyalitätskonflikt, wenn sie sich für ihren weiteren genetischen Elternteil interessieren, weil sie fürchten, damit ihre sozialen Eltern zu verletzen. Das weist darauf hin, dass Spenderkindern ihre sozialen Eltern wichtig sind. Zusätzlich gibt es weitere Personen, die ihnen möglicherweise auch wichtig sind. Welche Bedeutung die sozialen beziehungsweise genetischen Elternteile für einen Menschen haben, kann jeder nur für sich selbst entscheiden. Wirklich beurteilen kann man es streng genommen erst dann, wenn man alle Beteiligten kennt.

 

Anne Meier-Credner, geboren 1984 in Aachen, Diplom-Psychologin, psychologische Psychotherapeutin, Vorstandsmitglied des Vereins „Spenderkinder“.

 

1 Deutsches Ärzteblatt: Entschließungen und Beschlüsse, Nr. 24, 1970, S. 1982.
2 Diane Beeson / Patricia Jennings / Wendy Kramer: „Offspring searching for their sperm donors: How family type shapes the process“, in: Human Reproduction, 26. Jg., Nr. 9, Oxford (England) 2011, S. 2415–2424, https://doi.org/10.1093/humrep/ der202; Rosanna Hertz / Margaret K. Nelson / Wendy Kramer: „Donor conceived offspring conceive of the donor: The relevance of age, awareness, and family form“, in: Social Science & Medicine, Nr. 86/2013, S. 52–65, https://doi.org/10.1016/j.socscimed.2013.03.001; Joanna E. Scheib / M. Riordan / S. Rubin: „Adolescents with open identity sperm donors: Reports from 12–17 year olds“, in: Human Reproduction, Nr. 20/2005, S. 239–252, https://doi.org/10.1093/humrep/deh581 [letzter Zugriff jeweils: 05.12.2022].
3 An Ravelingien / Veerle Provoost / Guido Pennings: „Open-Identity Sperm Donation: How Does Offering Donor-Identifying Information Relate to Donor-Conceived Offspring’s Wishes and Needs?“, in: Bioethical Inquiry, Nr. 12/2015, S. 503–509, https://doi.org/10.1007/s11673-014-9550-3 [letzter Zugriff: 05.12.2022].
4 Die Zitate in diesem Beitrag sind im Einverständnis mit der jeweiligen Autorin bzw. dem Autor einer E-Mail an den Verein „Spenderkinder“ und einem Erfahrungsbericht auf der Homepage des Vereins „Spenderkinder“ entnommen.
5 Rivka Weinberg: „The moral complexity of sperm donation“, in: Bioethics, 22. Jg., Nr. 3/2008, S. 166–178, https://doi.org/10.1111/j.1467-8519.2007.00624.x [letzter Zugriff: 05.12.2022].
6 Maria Anna Tallandini / Liviana Zanchettin / Giorgio Gronchi / Valentina Morsan: „Parental disclosure of assisted reproductive technology (ART) conception to their children: a systematic and meta-analytic review“, in: Human Reproduction, Nr. 31/2016, S. 1275–1287, https://doi.org/10.1093/humrep/dew068 [letzter Zugriff: 05.12.2022].
7 Kerry L. Lang / W. John Livesley: „Heritability of the Big Five Personality Dimensions and Their Facets: A Twin Study“, in: Journal of Personality, Nr. 64/1996, S. 577–591, https://onlinelibrary.wiley.com/doi/10.1111/j.1467-6494.1996.tb00522.x; Tena Vukasović / Denis Bratko: „Heritability of Personality: A Meta-Analysis of Behavior Genetic Studies“, in: Psychological Bulletin, Nr. 141/2015, S. 769–785, http://dx.doi.org/10.1037/bul0000017 [letzter Zugriff jeweils: 05.12.2022].
8 Tinca J. C. Polderman / Beben Benyamin / Christiaan A. de Leeuw / Patrick F. Sullivan / Arjen van Bochoven / Peter M. Visscher / Danielle Posthuma: „Metaanalysis of the heritability of human traits based on fifty years of twin studies“, in: Nature Genetics, Nr. 47/2015, S. 702–709, https://doi.org/10.1038/ng.3285 [letzter Zugriff: 05.12.2022].
9 Fiona Kate Barlow: „Nature vs. nurture is nonsense: On the necessity of an integrated genetic, social, developmental, and personality psychology“, in: Australian Journal of Psychology, Nr. 71/2019, S. 68–79, https://doi.org/10.1111/ajpy.12240 [letzter Zugriff: 05.12.2022].

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