Es war nicht das erste Mal, und es wird aller Voraussicht nach auch nicht das letzte Mal gewesen sein, dass ein israelischer Ministerpräsident den Juden Europas nahelegt, ihre Heimat zu verlassen. „Juden wurden auf europäischem Boden ermordet, nur weil sie Juden waren“, sagte Benjamin Netanjahu während einer Kabinettssitzung in Jerusalem nach den Terroranschlägen von Kopenhagen. „Diese Terrorwelle wird weitergehen.“ Und damit dürfte er leider Recht behalten. Auf die Anschläge in Paris im Januar, bei denen ebenfalls gezielt Juden getötet wurden, hatte Netanjahu bereits ähnlich reagiert: „Allen Juden Frankreichs, allen Juden Europas sage ich: Israel ist nicht nur der Ort, wohin ihr euch beim Gebet wendet, der Staat Israel ist eure Heimstatt.“
Wenn Benjamin Netanjahu europäische Juden dazu ermuntert, vor hiesigem Antisemitismus zu flüchten, dann sollten wir uns davor hüten, dies allein als israelisches Wahlkampfgerassel abzutun oder als weitere Provokation einer vermeintlich unverschämten israelischen Politik. Wir sollten auch nicht den Fehler begehen, das Verhalten des israelischen Ministerpräsidenten mit dem Gebaren des türkischen Premiers Erdoğan gleichzusetzen, der in Deutschland türkischen Wahlkampf betrieb und unter deutschen Bürgern mit doppelter Staatsbürgerschaft für seine anti-westliche, antieuropäische Heimatpolitik auf Stimmenfang ging. Denn all das tut Netanjahu nicht. Der israelische Regierungschef tut, was alle seine Vorgänger auch getan hätten.
Wir sollten uns vielmehr fragen, wie wir reagiert hätten, wenn es nicht „Bibi“ gewesen wäre, der die Lage der Juden in Europa als so bedrohlich eingestuft hätte, dass er zur Flucht nach Israel aufruft, sondern was gewesen wäre, wenn zum Beispiel Jizchak Rabin dazu aufgerufen hätte. Ich bin überzeugt davon, auch er hätte es getan. So wie jeder andere israelische Premier. Aber hätten wir auch den Friedensnobelpreisträger als Panik- und Stimmungsmacher abgekanzelt? Wohl kaum!
Bedroht wie seit siebzig Jahren nicht mehr
Es gehört nun mal zur israelischen Staatsräson, sich für das Wohl bedrohter Juden auf der Welt einzusetzen. Dass wir das in Deutschland nicht verstehen, ja kritisieren, darin liegt eines der größten Versäumnisse unserer Zeit, wenn nicht gar ein weitverbreitetes antisemitisches Moment im Kern unserer Gesellschaft. Wir Deutschen haben siebzig Jahre nach der Befreiung von Auschwitz und im Schatten des Palästinakonfliktes bei all unserer Sympathie für die vermeintlich schwächeren Palästinenser und im Überdruss der Unruhen in Nahost schlicht vergessen, unter welchen gesellschaftlichen und politischen Umständen der israelische Staat seine Existenz erlangte, welchen Sinn und Zweck er für die Juden auf der Welt hat. Der Staat Israel existiert, um den seit über zweitausend Jahren von Mord und Vertreibung gefährdeten Juden im Fall der erneuten Bedrohung durch Judenhass eine sichere Heimat zu bieten. Seine Entstehung steht in direkter Kausalität zum europäischen Antisemitismus, und vor allem zum Massenmord an sechs Millionen jüdischen Bürgern. Der jüdische Staat wird seine Existenz so lange darauf zurückführen, wie Juden auf der Welt von Mord, Vertreibung und Ausgrenzung bedroht sind. Und das sind die Juden – im Augenblick sogar in einer Art, wie wir sie seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr erlebt haben.
2006 wird ein französischer Jude entführt und wochenlang in einer Wohnung gefoltert, während die Geiselnehmer Lösegeld von seinen Eltern fordern. Die Täter haben ihn bewusst ausgewählt, da sie davon ausgehen, dass Juden reich sind. Sein geschändeter Körper wird neben eine Bahnlinie geworfen. Im Krankenhaus erliegt das Opfer seinen Verletzungen. Im März 2012 erschießt ein Islamist drei Kinder und einen Lehrer vor einer jüdischen Schule in Toulouse. 2014 verübt ein Attentäter einen Anschlag auf das Jüdische Museum in Brüssel. Dabei werden vier Personen getötet. Im gleichen Jahr überfallen Attentäter ein jüdisches Paar in seiner Wohnung im französischen Créteil.
Sie vergewaltigen die Frau und geben ebenfalls an, sie hätten sich gezielt Juden ausgesucht, da diese viel Geld besitzen würden. 2015 erfolgt der Anschlag auf den koscheren Supermarkt Hypercasher, bei dem vier jüdische Geiseln getötet werden. Der Attentäter bekennt in einem Telefonat, das er während der Tat mit dem französischen Fernsehsender BFMTV führt, dass er sich bewusst Juden als Ziele suchte. Und zuletzt, man muss fast sagen, bis zum Entstehungszeitpunkt dieses Textes kommt es zum vorerst letzten Höhepunkt in dieser Reihe, zum Attentat auf eine Kopenhagener Synagoge, in der eine Familie gerade das Bar-Mizwah-Fest ihrer Tochter feiert. Dabei wird ein jüdischer Wachmann erschossen. Weitere Opfer können knapp verhindert werden. Hinzu kommt die steigende Tendenz alltäglicher judenfeindlicher Übergriffe in fast allen europäischen Ländern.
Rund 7.000 Franzosen jüdischen Glaubens haben sich im vergangenen Jahr angesichts dieser Welle des offenen Judenhasses entschieden, ihre Heimat zu verlassen und nach Israel auszuwandern. Andere Europäer mit jüdischem Glauben tun es ihnen gleich. In Deutschland ist ein derartiger Trend noch nicht zu erkennen. Derzeit kommen sogar mehr Israelis nach Deutschland, als Deutsche nach Israel ausreisen. 2013 waren es rund 1.900 deutsche Bürger, die nach Israel ausgewandert sind. Im gleichen Zeitraum kamen knapp 2.800 Israelis nach Berlin. Die tatsächliche Zahl liegt sogar weit höher, denn viele von ihnen reisen mit europäischen Pässen. Diese positive Tendenz kann allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich auch in Deutschland die Bedrohungslage für Juden zugespitzt hat.
Judenfeindlichkeit auf deutschen Straßen
Gelang es Politikern, staatlichen Institutionen und der Gesellschaft in der Vergangenheit noch, antisemitische Ausbrüche zu unterbinden, so ist offene Judenfeindlichkeit auch auf deutschen Straßen wieder gegenwärtig. Die Demonstrationen in deutschen Großstädten während des letzten Gaza-Krieges führten deutlich vor Augen, dass eine massenhafte Hetze gegen Juden jederzeit ausbrechen kann. Erschreckend daran ist weniger, dass es geschieht – dies überrascht die jüdischen Bürger am wenigsten. Bestürzend sind jedoch das Unwissen und die Ignoranz, mit denen diese Ausbrüche sowohl von der Mehrheitsgesellschaft als auch von staatlichen Institutionen hingenommen oder gar gebilligt werden. Parolen wie „Jude, Jude, feiges Schwein“ fallen laut der Berliner Staatsanwaltschaft nicht unter den Tatbestand der Volksverhetzung. Ebenso stehen Polizisten tatenlos daneben, wenn Demonstranten „Juden ins Gas“ skandieren, weil sie in Unterzahl, mit der Lage überfordert oder ihnen juristisch die Hände gebunden sind. Dazu führen auch Urteile wie das des Amtsgerichtes Wuppertal, das Anfang Februar drei Deutschpalästinenser wegen eines Brandanschlags auf die dortige Synagoge zu Bewährungsstrafen verurteilte. Der Richter stellte ausdrücklich fest, darin keine „Anhaltspunkte für eine antisemitische Tat“ zu erkennen. Die drei hätten nur die „Aufmerksamkeit auf den Gaza-Konflikt lenken wollen“. Das sei, so notiert der taz-Kolumnist Deniz Yücel trefflich, als behaupte man, „die Mörder im jüdischen Supermarkt in Paris und der Synagoge in Kopenhagen wollten lediglich die Aufmerksamkeit auf die Aggression gegen den souveränen Kalifatstaat, die Islamophobie in Westeuropa und das langweilige Fernsehprogramm lenken“.
Doch wir brauchen gar nicht so weit zu gehen, um festzustellen, dass etwas nicht stimmt im Umgang der Gesellschaft mit ihrer jüdischen Minderheit. Man kann es als eine Errungenschaft ansehen, dass der deutsche Staat dazu übergegangen ist, seine Bürger jüdischen Glaubens und deren Einrichtungen zu beschützen. Es ist allerdings ein enormes Versäumnis, dass der Staat und vor allem die Gesellschaft in Deutschland es bis heute nicht zustande gebracht haben, ihren jüdischen Bürgern ein Leben ohne Angst vor Übergriffen und vor allem ohne staatlichen Polizeischutz zu ermöglichen.
Leben unter Polizeischutz – eine Bankrotterklärung
Es ist, und das muss man so deutlich sagen, den Juden in Deutschland schon seit Jahrzehnten nicht mehr möglich, ohne staatlichen Schutz ihre Religion auszuüben. Die Religionsfreiheit einer Gruppe von über einhunderttausend Bürgern in Deutschland, der jüdischen Gemeinde, wird seit Jahrzehnten nur noch unter Polizeischutz gewährleistet. Der Terror beeinträchtigt das Leben von deutschen Bürgern mit jüdischem Glauben tagtäglich, denn der Antisemitismus ist ein Teil Deutschlands.
Angela Merkel beteuert, alles Erdenkliche zu tun, um die Sicherheit der Juden zu garantieren. So gut das gemeint ist, damit wird aber auch die Bankrotterklärung einer ganzen Gesellschaft sichtbar, die es bis zum heutigen Tag nicht zustande gebracht hat, Meinungs- und Religionsfreiheit aller ihrer Bürger gleichermaßen zu gewährleisten. Auch daran zeigt sich, dass es Politik und Gesellschaft nach wie vor leichter fällt, Benjamin Netanjahu und den Staat Israel zu kritisieren oder Polizisten vor Synagogen zu stellen, anstatt das Problem selbst, den Judenhass, in Angriff zu nehmen.
Würden Politiker und Gesellschaft es ernst meinen, würden sie zusehen, dass sie entschiedener gegen jene muslimischen Institutionen und Organisationen hierzulande vorgehen, die ihre Anhänger mit Hass auf Juden, Christen, Schwule, die Demokratie und den Westen indoktrinieren. Würden die muslimischen Verbände es ernst meinen, wenn sie gegen Intoleranz und für Religionsfreiheit auf die Straßen gehen, dann würden sie beginnen, diese Forderung nicht nur für sich selbst in Anspruch zu nehmen, sondern auch auf andere Religionsgruppen auszuweiten. Es wird Zeit, dass auch sie beginnen, Extremisten und Judenhasser zu bekämpfen und aus ihren eigenen Reihen zu verbannen. Doch solange es Politiker und unsere Gesellschaft noch nicht mal wagen, diese Forderung offen auszusprechen, solange wir es zulassen, in der Mitte Europas antisemitischen, antiwestlichen, antidemokratischen, antiliberalen Fundamentalismus gedeihen zu lassen – egal aus welcher Richtung er kommen mag –, so lange ist der Staat Israel mit seiner Einwanderungspolitik für die Juden notwendiger denn je zuvor.
Leeor A. Engländer, geboren 1982 in Heilbronn, ist Kolumnist der „Welt“ und schreibt alle vierzehn Tage die Kolumne „Schmonzes“ über seine jiddische Mamme, Israel, Juden in Deutschland, Politik und Religion.