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Hilfe im Sterben statt Hilfe zum Sterben

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Das Sterben gehört zum Leben, und Sterbende gehören zu uns. Wie wir uns zu diesem Thema stellen – das sagt viel aus über unsere Haltung zum Wert des menschlichen Lebens, zu Menschlichkeit und Solidarität, zu Würde und Selbstbestimmung. Wie verstehen wir diese oft beschworenen Werte? Wie machen wir sie im gesellschaftlichen Leben erfahrbar? Es ist ein Fortschritt, dass durch die laufende Diskussion das Thema des Lebensendes nicht mehr verdrängt wird – obwohl es die meisten von uns verunsichert. In Familien, im Freundeskreis, an Schulen und in Vereinen wird jetzt mehr über die letzte Lebensphase gesprochen. Ehepaare tauschen sich untereinander, Eltern mit ihren erwachsenen Kindern und Freunde mit anderen Freunden darüber aus, welche Hilfen sie sich wünschen, „wenn es einmal so weit ist“.

 

Verführerische Mehrdeutigkeit

Auch der Deutsche Bundestag hat bereits am 13. November 2014 über die letzte Lebensphase diskutiert. Es war eine würdige Debatte, von Nachdenklichkeit und wechselseitigem Respekt getragen – Respekt vor der Lebenserfahrung und den Argumenten anderer Abgeordneter, die eine unterschiedliche Auffassung vertraten oder offen bekannten, dass sie sich noch keine abschließende Meinung gebildet hätten. Insofern war dieser Gedankenaustausch im Bundestag im besten Sinne des Wortes eine Orientierungsdebatte. Orientierung beginnt mit einer Klärung der Begriffe, um die es geht. Insbesondere der Begriff „Sterbehilfe“ wird in der aktuellen Diskussion mehrdeutig verwendet. Diese Mehrdeutigkeit hat auch etwas Verführerisches: „Hilfe“ – welcher Mensch guten Willens will nicht helfen? Hier ist wichtig zu unterscheiden: Ist es eine Hilfe im Sterben oder zum Sterben?

Sterbehilfe als „Hilfe zum Sterben“ bedeutet die willentliche Herbeiführung des Todes eines anderen, der darum bittet. Diese Handlungsweise wird auch „aktive Sterbehilfe“ oder in den einschlägigen Gesetzen Belgiens und der Niederlande „Euthanasie“ genannt. Dort ist, anders als in der Bundesrepublik Deutschland, diese unter bestimmte Bedingungen gestellte Sonderform der Tötung auf Verlangen erlaubt. Festzuhalten ist, dass sich bei der Bundestagsdebatte am 13. November 2014 kein Abgeordneter dafür ausgesprochen hat, diese Form der „Sterbehilfe“, die zutreffender „ärztliche Tötung auf Verlangen“ genannt werden müsste, in Deutschland zuzulassen. Das generelle Tötungsverbot ist ein Zivilisationsfortschritt, den wir nicht aufweichen sollten – auch im Wissen um unsere Geschichte. Da ist der Bundestag sich einig.

 

„Sterbenlassen“ auf eigenen Wunsch

Unter Sterbehilfe als „Hilfe im Sterben“ wird jegliche Hilfestellung vor allem medizinischer, psychologischer und seelsorglicher Art verstanden, die einen Schwerstkranken in seinem Sterbeprozess begleitet. Gelegentlich wird hierfür auch der Ausdruck „Sterbebegleitung“ gebraucht. Die „Hilfe im Sterben“ schließt nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ein, dass lebensverlängernde Maßnahmen – einschließlich der künstlichen Ernährung – abgebrochen werden dürfen, wenn dies dem Patientenwillen entspricht. Dieses „Sterbenlassen“ durch Behandlungsabbruch wird auch „passive Sterbehilfe“ genannt. Niemand, der eine solche Begleitung in Anspruch nimmt, muss also befürchten, gegen seinen Willen am Leben gehalten zu werden. Dazu gehört natürlich, diesen Willen unmissverständlich zu erklären oder für Situationen, in denen man sich nicht erklären kann, durch eine Patientenverfügung oder Vorsorgevollmacht vorzusorgen. Zur „Hilfe im Sterben“ gehört auch, dass Schwerstkranken schmerzstillende Mittel selbst dann verabreicht werden dürfen, wenn diese sich lebensverkürzend auswirken können – vorausgesetzt, dies entspricht ihrem Wunsch. Diese in Kauf genommene – nicht beabsichtigte – Lebensverkürzung wird „indirekte Sterbehilfe“ genannt.

All diese Formen der Sterbebegleitung sind, so die ständige Rechtsprechung, mit dem verfassungsrechtlichen Lebensschutzgebot vereinbar. Sie sichern die Selbstbestimmung des Menschen auch in der letzten Lebensphase. Zugleich sind sie auch unumstrittener Teil einer guten Palliativ- und Hospizversorgung und werden in diesem Sinne tagtäglich in Deutschland geleistet. Es ist gut, dass in der Bundestagsdebatte vom November 2014 ein breiter Konsens unter den Abgeordneten für den flächendeckenden Ausbau dieser Hilfen im Sterben deutlich wurde. Unser Ziel muss sein, dass alle Menschen in ihrer letzten Lebensphase die bestmögliche Versorgung, Pflege und Betreuung erhalten. Das Bundeskabinett hat am 29. April 2015 deshalb einen Gesetzentwurf zur Verbesserung der Hospiz- und Palliativversorgung in Deutschland beschlossen. Jetzt geht es darum, dass diese Verbesserungen möglichst schnell bei den Menschen ankommen.

 

Geschäftsmäßige Selbsttötungshilfe

Ein Drittes, das mit dem mehrdeutigen Begriff Sterbehilfe oft gemeint wird, ist die „Hilfe zur Selbsttötung“, auch Suizidassistenz genannt. Unser Strafrecht schweigt zu Recht zum Drama individueller Selbsttötung. Damit ist auch die Hilfe zur Selbsttötung straffrei. Das muss auch so bleiben. Ein anderer Fall liegt jedoch vor, wenn Hilfe zur Selbsttötung geschäftsmäßig angeboten wird. Unabhängig davon, ob mit solchen Angeboten Profit erzielt oder „nur“ Kostendeckung angestrebt wird: Selbsttötungshilfe wird damit zur Dienstleistung für Menschen, die nicht mehr leben wollen. Viele Abgeordnete haben im November 2014 ihre Skepsis bis Ablehnung gegenüber einer solchen organisierten Selbsttötungshilfe zum Ausdruck gebracht. Der Deutsche Bundestag wird darüber beraten und letztlich abstimmen, ob die geschäftsmäßige oder organisierte Selbsttötungshilfe – von wem auch immer angeboten – in Deutschland untersagt wird. Als Abgeordneter bin ich der Meinung, dass dies die Lebensschutzorientierung unserer Rechtsordnung gebietet. Dahingegen sollte die individuelle Selbsttötungshilfe wie bisher straffrei bleiben. Eine Verklärung der Selbsttötung als Akt wahrer Freiheit lehne ich allerdings entschieden ab. Angesichts von jährlich etwa 10.000 Selbsttötungen und 100.000 Selbsttötungsversuchen, die ihre Ursache zumeist in behandelbaren seelischen Erkrankungen haben, unternehmen wir zahlreiche Anstrengungen der Suizidprävention. Und gerade in diesem Bereich dürfen wir nicht nachlassen.

Es trägt nicht zur Klärung der Diskussion bei, wenn – wie jüngst im Aufruf einer Gruppe von Strafrechtlern – durch eine mehrdeutige Verwendung des Ausdrucks Sterbehilfe der Eindruck erweckt wird, mit einem Verbot der geschäftsmäßigen Selbsttötungshilfe würden zugleich die oben beschriebenen Formen der Hilfen im Sterben unter Verdacht oder gar unter Strafe gestellt. Niemand im Bundestag will das. Es ist Aufgabe des Strafrechts, Straftatbestände klar abzugrenzen. In einer freiheitlichen Rechtsordnung ist immer das Verbot zu rechtfertigen und das Verbotene unmissverständlich zu definieren. Dies ist auch in dieser schwierigen Frage möglich.

 

Kein Sonderstrafrecht

Ich spreche mich auch nicht für ein Sonderstrafrecht für Ärztinnen und Ärzte aus. Vielmehr begrüße ich, dass die Ärzteschaft im Rahmen von Berufsethos und Standesrecht klarstellt: Selbsttötungshilfe ist keine ärztliche Aufgabe. Zu den angeblich sehr unterschiedlichen Regelungsgehalten in den Berufsordnungen hat der Präsident der Bundesärztekammer in einer gemeinsamen Pressekonferenz mit Vertretern aller Landesärztekammern am 12. Dezember 2014 deutlich gemacht: Die Formulierungsunterschiede in den einzelnen Berufsordnungen sind keine Unterschiede in der Sache: Der Arzt dient dem Leben. Selbsttötungshilfe ist keine Behandlungsvariante. Wo aber Genesung nicht mehr möglich ist, sind Ärztinnen und Ärzte verpflichtet, dem leidenden Menschen beizustehen und seine Schmerzen bestmöglich zu lindern.

Wenn ein Arzt in einem dramatischen Einzelfall seinem Gewissen folgt und – entgegen der berufsrechtlichen Norm – Selbsttötungshilfe leistet, ist es Aufgabe der zuständigen Ärztekammer, den konkreten Fall, wenn er vorgelegt wird, angemessen zu würdigen. Einzelfallgerechtigkeit im Rahmen der Rechtsanwendung ist aber etwas anderes als die Aufweichung der Norm selbst. Ich habe großes Vertrauen in die Ärzteschaft, dass eine solche Prüfung wie in der Vergangenheit mit Vernunft und Augenmaß erfolgt. Kein Arzt ist in den vergangenen Jahrzehnten wegen einer Selbsttötungshilfe im Einzelfall berufsrechtlich belangt worden. Strafrechtlich hätte er auch in Zukunft nichts zu befürchten – es sei denn, er bietet Suizidassistenz als regelmäßige Dienstleistung an.

 

Tötung auf Verlangen

Wer dennoch – wie einige Abgeordnete – fordert, ein gesetzlicher Kriterienkatalog solle auflisten, unter welchen Bedingungen ein Arzt Selbsttötungshilfe leisten darf, der hat nicht verstanden, dass sich auf Extremfälle kein Gesetz und auch kein Berufsrecht aufbauen lässt. Und der muss erklären, wie er die Einschätzungs- und Abgrenzungsprobleme lösen will, die sich bei solchen Kriterien unweigerlich einstellen. Wer etwa hat ein Recht auf eine solche Hilfe zum Sterben? Der Schwerstkranke? Und wie verhält es sich bei Demenzkranken? Müssen sie ihre Entscheidung dann möglichst früh treffen, um sich noch bei vollem Verstand zu erklären? Muss bei der Diagnose Demenz künftig entschieden werden, ob und wann der Arzt Sterbehilfe leisten darf? Zudem wäre die Frage zu beantworten, weshalb der Arzt, der dem Handlungsfähigen die tödliche Arzneimittelmischung hinstellt, diese dem vollständig Gelähmten dann nicht einflößen sollte? Wie schnell wären wir da bei der Tötung auf Verlangen, wie sie in den Benelux-Staaten heute praktiziert wird?

 

Lebenswillige Schwerkranke als Last?

Das Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Patient ist ein hohes Gut, das es zu schützen gilt. Auch in Zukunft soll sich kein Patient scheuen müssen, seine Sorgen und Ängste, auch Suizidgedanken und Hilfewünsche gegenüber seinem Arzt anzusprechen. Nur wenn sich Patienten ihrem Arzt anvertrauen, kann dieser Hilfe leisten. Dass es Einzelfälle gibt, in denen trotz aller angebotenen Hilfen zum Leben Menschen an ihrer Selbsttötungsabsicht festhalten, will ich nicht bestreiten. Die Frage ist, ob sich daraus ein Anspruch gegenüber der Rechts- und Solidargemeinschaft ableiten lässt, die Umsetzung der Suizidabsicht durch rechtliche Maßnahmen zu erleichtern. Die Autonomie des Einzelnen stößt hier an die Grenze dessen, was andere tun sollen, dürfen und auch wollen. Zudem darf es nicht sein, dass sich am Ende derjenige rechtfertigen muss, der die organisierte Suizidbegleitung trotz schwerer psychischer oder physischer Erkrankung nicht „nutzt“ und weiterhin seinen Angehörigen und der Solidargemeinschaft „zur Last fällt“. Wollen wir eine solche Entwicklung riskieren?

 

Beistand in der letzten Lebensphase

Als Bundesgesundheitsminister trete ich für den Ausbau der Palliativ- und Hospizversorgung ein. Wir brauchen Palliativmedizin und Hospizkultur überall da, wo Menschen sterben – ob zu Hause oder in Krankenhäusern, in Pflegeheimen oder Hospizen. In diesem Sinne stellen wir die gesetzlichen Weichen, um in ganz Deutschland ein flächendeckendes Hospiz- und Palliativangebot zu verwirklichen. Geplant ist, stationäre Hospize finanziell besser zu fördern. Zudem soll die ambulante ärztliche Palliativversorgung zum Beispiel durch finanzielle Anreize gestärkt werden. Auch in den Altenpflegeeinrichtungen muss die Hospiz- und Palliativversorgung ausgebaut werden.

Viele Menschen verbringen ihre letzten Lebensmonate dort. Deshalb sollen Pflegeeinrichtungen sicherstellen, dass Bewohner stationärer Einrichtungen ein ihren Wünschen entsprechendes Angebot an Palliativversorgung und Hospizbetreuung in ihrer letzten Lebensphase erhalten. Dazu sollen Pflegeeinrichtungen stärker mit Hospizdiensten und Ärzten zusammenarbeiten. Zudem sollen Versicherte künftig einen Anspruch auf individuelle Beratung und Hilfestellung durch die Krankenkasse bei der Auswahl und Inanspruchnahme von Leistungen der Palliativ- und Hospizversorgung erhalten. Wichtig ist mir zu betonen: Die Hospizbewegung ist aus bürgerschaftlichem Engagement entstanden und wird bis heute von diesem Engagement getragen. Ehrenamtliche werden neben der Arbeit der „Professionellen“ weiterhin eine unverzichtbare Rolle spielen, wenn es darum geht, Menschen in ihrer letzten Lebensphase beizustehen.

Die genannten Maßnahmen mit dem Ziel, schwerstkranken und sterbenden Menschen zu helfen, lohnen jede Anstrengung. Es handelt sich aber, das will ich offen sagen, um eine unabschließbare Aufgabe, denn: Wir werden das Unheimliche von Sterben und Tod nie ganz aufheben können. Doch menschliche Zuwendung und Begleitung sowie professionelle Unterstützung – all das können und werden wir geben. Das ist unsere Antwort auf die Herausforderungen am Ende des Lebens: Hilfen im Sterben als gelebte Menschlichkeit.

 

Hermann Gröhe, geboren 1961 in Uedem, Staatsminister a. D., von 2009 bis 2013 Generalsekretär der CDU Deutschlands, seit Dezember 2013 Bundesminister für Gesundheit.

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