In Anbetracht der Schnelllebigkeit unserer digitalisierten, vermehrt in fast allen Bereichen durch Künstliche Intelligenz gesteuerten Gesellschaft und der Sprache, die sich im ständigen Wandel befindet, scheinen wir einen zentralen Punkt aus den Augen zu verlieren. Komplexes lässt sich nicht in einer vereinfachten Sprache vermitteln ohne „inhaltliche“ Verluste. Der Annehmlichkeit wegen scheinen wir jedoch genau diese Verluste in Kauf zu nehmen. Das Verlangen nach unwiderlegbarer Faktizität und unumstößlichen Konkretheiten war – zumindest dem Anschein nach – selten so groß wie heute. Rasche Antworten auf vielschichtige Sachverhalte werden verlangt. Wer zu weit ausholt und sich in grauschattierte Sphären wagt, erfährt kaum mehr Resonanz. Kurzförmigkeit ist angesagt. Man denke an die Plattitüden eines Donald Trump: anspruchsloses, auf Schlagwörter reduziertes Sprechen mit potenziell verheerender Wirkung. In der Kürze liegt wohl die (gefährliche) Würze. Wobei sich die Frage stellt, was zuerst da war. Ist diese Art zu sprechen das unumgängliche Resultat einer bereits verkümmerten Denkfähigkeit, oder hat sie unsere Gedanken abgestumpft – sodass wir mittlerweile gar nicht dazu fähig zu sein scheinen, ohne größere Anstrengung auf Antagonismus zulaufende Denk- und Sprechmuster zu durchschauen?
Worte können von einer Schärfe sein, dass sie zu Waffen werden, verletzen, ja töten können. Als Friedrich Hölderlin Anfang des 19. Jahrhunderts das ungeheuerliche, auf die Sprache bezogene Wort „tödtlichfaktisch“ prägte, brachte er auf einen durchschlagenden Begriff, was in der Befehlssprache an schneidender Genauigkeit möglich ist. Zum sprachlichen Waffengebrauch gehört in erster Linie das Schlagwort, das rhetorische und (vor)verurteilende Bedeutung haben kann. So lässt sich etwa am inflationär gebrauchten „Populismusvorwurf“, wie der Soziologe und Politologe Jan-Holm Sussiek in seinem Buch Von Volkstümlern und Falschspielern erläutert hat,1 aufzeigen, wie ein seinerzeit durchaus effektiver, weil in einzelnen Fällen bewusst gegen den politischen Kontrahenten erhobener und daher noch Substanz aufweisender Vorwurf – ein Populist zu sein oder sich populistischer Vorgehensweisen zu bedienen – inzwischen seine Wirksamkeit nahezu verloren hat. Das Um-sich-werfen mit solchen nach Sensation heischenden und daher schlagzeilenreifen Begriffen, die jedoch auf beziehungsreiche Zusammenhänge verweisen und nuanciert zu behandeln wären, verändert nicht nur die Sprachlandschaft, sondern auch die Wahrnehmung dessen, was etwa ein Populist ist. Mit Recht lässt sich fragen, wie in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung geschehen, ob der „Populismusvorwurf durch seinen inflationären Gebrauch im Bundestag also an moralischer Schärfe“ verliert.2 Was in den gängigen, etwas gedankenlos betriebenen Diskursen erkennbar wird, ist die mehr und mehr gekappte Verbindung zwischen dem „komplexen Inneren“ eines Begriffs (oder einer Aussage) und seinem „einfachen Außen“. Mit anderen Worten: Bestimmte Begriffe (dazu gehören unter anderem auch „Rassist“, „Verschwörungstheoretiker“ oder „Impfgegner“) haben mittlerweile nur noch plakative Funktion. Wer sie ohne weitere Ausdifferenzierung in den Mund nimmt, will nicht nur seinen Gegner verunglimpfen, sondern vor allem sich selbst in ein „moralisch gutes Licht“ stellen. Diese vereinfachte Schwarz-Weiß-Malerei hat fraglos verheerende Konsequenzen für die Meinungsbildung in einer Gesellschaft und das sonst allseits stets geforderte kritische Denken.
Lenkendes Verbrämen
Doch nicht nur mit polemischen und vorverurteilenden Schlagwörtern lassen sich Sachverhalte den eigenen Interessen und Zielsetzungen entsprechend „einrahmen“ respektive „einkleiden“, um auf diese Weise die Denkrichtung der Rezipienten vorzugeben. Auch idiomatische Ausdrücke wie „by the way“ („übrigens“) lassen sich zur Kategorie des lenkenden Verbrämens zählen. So kann zum Beispiel niemand ein „by the way“ unbefangener in seinen Diskurs einführen als der einstige britische Premierminister Tony Blair. Die von ihm insbesondere in Interviewsituationen verwendete Ausdrucksform hat sich mittlerweile zu einer Trope entwickelt, die ihr eigenes Akronym hat (BTW). Laut der britischen Zeitung The Standard gilt sie als „a peculiarly Blairite phrase“. Diese „Nebenbei-erwähnt-Phrase“ kann ein fraglos neutrales rhetorisches Mittel sein, um bestimmte – für die Darstellung des eigenen Standpunkts wesentliche – bis dahin nicht besprochene Aspekte in eine Diskussion einzuführen. Wenn der Interviewpartner nicht die „richtigen“ Fragen stellt, erlaubt es einem ein „Übrigens“, ein „Am-Rande-erwähnt“ oder ein „Nebenbei-bemerkt“, Argumentationspunkte anzubringen, die sonst ungenannt geblieben wären. Diese kolloquialen Ausdrucksformen à la „Erwähnt-sei-noch“ können jedoch den illusorischen Eindruck entstehen lassen, dass eine zweifelsfreie Verbindung besteht zwischen der vorangehenden Argumentation und den nun beiläufig neu eingeführten Ausführungen.
„By the way“ ist also eine Art rhetorischer Sprung, mit dem man von Einem ins Andere gelangen kann, ohne diesen Übergang im Detail ausführen zu müssen. So können einzelne Berührungspunkte, ja sogar Ursache-Wirkung-Beziehungen hergestellt werden, die, sähe man genauer hin oder fragte man genauer nach, womöglich gar nicht vorliegen.
Eiertanz vor laufender Kamera
Das Gegenstück zu dieser Direktheit anmutenden Beiläufigkeit im Sprechen (eine Direktheit wie gesagt, die sich bei genauerem Hinhören als eine Verkürzung entpuppen kann) ist das im Politischen ebenso allseits bekannte Drumherum-Reden. Niemand steht mehr in Verdacht, verschwommene Aussagen bewusster einzusetzen als Politiker. Das Lavieren, Taktieren, das Sich-winden, der Eiertanz vor laufenden Kameras – es scheint zu den Grundvoraussetzungen für den Politikerstand zu gehören. Obwohl doch gerade von ihm gefordert wird, „Tacheles zu reden“ und ohne Umschweife auf den Problempunkt zu kommen. Nun scheinen sich aber vor allem Politiker – unabhängig von ihrer politischen Ausrichtung – das Prinzip des vielen Redens, um möglichst wenig Substanzielles zu sagen, zu eigen gemacht zu haben. Warum nur dieses nie endende Phrasendreschen, die sich wiederholenden Worthülsen und Sprechblasen, die schiefen Metaphern und nichts aussagenden Vergleiche, die stereotypen Ausdrücke – alles das, um das Eigentliche auszusparen. Man könnte zuweilen glauben, es handele sich um ein überlebensstrategisch angewandtes Prinzip des „unbedingten An-der-Sache-Vorbeizielens“. Dabei hat diese Art des Redens entscheidend zum Vertrauensverlust gegenüber der Politik beigetragen.
Dennoch ist angeblich jeder um Klarheit bemüht, wie die bekannten rhetorischen Floskeln belegen: „Ich sage es mit aller Deutlichkeit“, „Lassen Sie mich klarstellen“. Ist womöglich sogar ein unbedingter Antrieb zur Präzision und Perfektion schuld daran, dass wir in den – sagen wir es paradox – seichten Tiefen der Unschärfe von Plattitüden und Worthülsen unterzugehen drohen? Das Aberwitzige daran: Je mehr unwiderlegbare Faktizität und unumstößliche Konkretheit verlangt wird, umso mehr sprachliche Ungenauigkeiten entstehen. Woran liegt das? Womöglich bedingen sich auf der Ebene der Vermittelbarkeit Exaktheit und ihr Gegenteil wechselseitig, und vielleicht ergeht es uns wie dem Protagonisten in Benjamin Constants Roman Adolphe (1816), der von sich behauptet: „Je länger ich redete […], um so deutlicher spürte ich, wie meine Gedanken unschärfer wurden und meine Entschiedenheit nachließ.“ Wenn die Gedanken an Kontur verlieren und diffus werden aufgrund eines floskelhaften Vielredens, das um das Wirkliche zirkelt, ohne den eigentlichen Kern zu fassen, dann entstehen fortlaufend neue Undeutlichkeiten in der Kommunikation mit der Tendenz, ins Triviale abzugleiten.
Bestes Anschauungsmaterial lieferten in den vergangenen Wochen hierzulande die Aussagen zum Thema „Bundeshaushalt“. Der fliegende Wechsel von markig-scheingenauen Aussagen zu dehnbaren Unverbindlichkeiten grenzte ans Artistische. „Man“ wollte sich nicht festlegen müssen vor aller Öffentlichkeit, nicht Ross und Reiter nennen, die Teile ihres Zaumzeugs würden opfern müssen.
Taktische Unschärfe als Erfordernis für Politiker
Das aber bedeutet: Man hält die Öffentlichkeit nicht für vertrauenswürdig, glaubt, sie mit Floskeln, Worthülsen abspeisen zu können, obgleich sie es ist, die später zur Kasse gezwungen wird. Nun ist das keineswegs eine deutsche Eigenart; sie gehört offenbar zum Verfahren des Politischen an sich, eine prekäre Einsicht, die wir uns wohl immer wieder neu einzuschärfen haben. Sollen wir demnach die Befähigung zur taktischen Unschärfe als Erfordernis für Politiker akzeptieren, als unverzichtbaren Aspekt ihres Berufsbildes?
Ein weiteres Beispiel bietet das in Deutschland seit Juli 2023 geltende Hinweisgeberschutzgesetz, das Whistleblower rechtliche Deckung gewährt, wenn sie über Missstände berichten; das heißeste Eisen im Bereich des Persönlichkeitsschutzes und seiner globalen Bedeutung. Es führt zu rechtlicher Genauigkeit im Umgang mit Informanten; zugleich schafft es größere Grauzonen, indem dadurch bedingt weitaus mehr regierungsamtliche und behördliche Vorgänge als geheime Verschlusssachen deklariert werden können. Machen Whistleblower deren Inhalt publik, werden sie straffällig. Unklar bleiben auch die Bestimmungsfaktoren, die darüber entscheiden, wer welche Information unter welchen Bedingungen zur Verschlusssache erklären kann. Um das Wechselspiel und Wechselbad der Meinungen, ihre Schärfung und Entschärfung studieren zu können, böte es sich an, eine Geschichte der Bundespressekonferenzen zu schreiben, versehen mit den Sprachprofilen der jeweiligen Regierungssprecher – in der Bundesrepublik Deutschland von Felix von Eckardt bis Steffen Hebestreit. Nicht ohne Grund werden im politischen Netflix-Dauerbrenner Designated Survivor übermäßig oft Pressekonferenzen eingeblendet, geleitet von Seth Wright (Kal Penn) als Pressesprecher des Präsidenten, einem Meister in Sachen Worthülsenproduktion. Präzise Fragen der Journalisten werden in der Antwort aufgeweicht, entstellt, oft in ihr Gegenteil verkehrt.
Den Wortlücken nachspüren
Beständig geschärft werden soll unser Blick auf die Dinge und Verhältnisse; auch unser Bewusstsein steht unter Schärfungsdruck. Dabei zeigt sich immer wieder, dass diese Leistungsvorgabe in ihr Gegenteil umschlagen kann und es oft auch tut. Aus der Optik weiß man ja, dass überscharfe Einstellungen zu Verzerrungen führen können. Ein prägendes Beispiel hierfür ist unsere begrifflich hypersensible Zeit. Missverständnisse lauern überall: Ein angeblich unzeitgemäßes Wort hier, eine vermeintlich abgelebte Bezeichnung dort, und schon gerät die halbe Welt in Aufruhr. Und wer soll’s richten? Die Sprache selbst? Worte werden zu Tätern, der Text zum Tatort. Da helfen nur noch die selbsternannten oder in quasiideologischem Auftrag agierenden Sprachreiniger. Könnte es jedoch nicht sein, dass diese Neigung zu einer angeblichen Spracheindeutigkeit zwecks Schaffung verkennungsfreier Räume, je ungestümer, ja radikaler sie sich zeigt, sich plötzlich auf der entgegengesetzten Seite des Pendels wiederfindet? Führt die im Namen von „Solidarität“, „Gleichberechtigung“ und „Inklusion“ eingeführte Eingrenzung des Sprachgebrauchs in Wahrheit womöglich noch zu einer Ausgrenzung derer, die „anders“ sind, weil sie „anders“ denken? Eine solche Überregulierung kann auf Dauer nur die einseitige Abstumpfung des Denkens und Sprechens zur Folge haben.
Von Max Frisch stammt die Bemerkung, er habe keine Sprache für die Wirklichkeit. Sprache verstand er als eine Annäherung an das Eigentliche, ohne dieses jemals wiedergeben zu können. Als Schriftsteller galt sein Interesse „dem Weißen zwischen den Worten“. Dagegen sprächen die Worte selbst stets nur von „Nebensachen, die wir eigentlich gar nicht meinen“. Beim Versuch des sprachlichen Festhaltens von „faktischer Wirklichkeit“ entstehen Unschärfephänomene, die den darzustellenden Gegenstand in ein „unscharfes Licht“ stellen. Frisch bezeichnete dies als ein „Drumherum-Schreiben“. Doch sei dieser Umstand nicht als Manko zu verstehen, im Gegenteil: Vielmehr mache diese Art des Schreibens Literatur aus. Obwohl für die Politikersprache andere Voraussetzungen gelten, so lohnt es sich auch im öffentlichen Diskurs, mehr diesen Wortlücken, dem Ausgesparten und Nicht-Gesagten nachzuspüren. Mit Blick auf das Ganze ist vielleicht keine sprachskeptische Frage aktueller als jene, die Horatio in Shakespeares Hamlet gestellt hat: „Ist es nicht möglich, uns in einer anderen Sprache zu verständigen?“ Denn der politische Wörterbeutel scheint leer, alle „goldenen Worte sind ausgegeben“.
Kaltërina Latifi, geboren 1984 in Pristina (Kosovo), ist eine schweizerisch-deutsche Literaturwissenschaftlerin und Essayistin. Seit 2021 ist sie Kolumnistin für die Schweizer Wochenzeitschrift „Das Magazin“, seit 2023 Privatdozentin für Neuere deutsche Literatur, Georg-August-Universität Göttingen.
1 Jan-Holm Sussiek: Von Volkstümlern und Falschspielern. Der Populismusvorwurf in Deutschland, Campus Verlag, Frankfurt / New York 2023.
2 Mina Marschall: „Die Eindeutigkeit geht verloren“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 18.12.2023.