Entscheidend für die Innovationsfähigkeit der Lebenswissenschaften sind ihre genetischen Erkenntnisse. Spätestens seit der Entdeckung der DNA (Desoxyribonukleinsäure) als das für die Speicherung der Erbinformation relevante Molekül und der Möglichkeit, die DNA zielgerichtet zu verändern, nimmt das Verständnis von biologischen Strukturen und Funktionen rasant zu. Gleichzeitig wächst die Fähigkeit, dieses Wissen technisch zu nutzen – etwa in der Biotechnologie, aber auch in der medizinischen Diagnostik und Therapie. Die Molekularbiologie mit ihren ausgefeilten Methoden der DNA-Analyse und der gezielten DNA-Veränderung ist zu einer Schlüsseldisziplin innerhalb der Lebenswissenschaften, einschließlich der Medizin, geworden.
Die DNA als Informationsspeicher hat sich in der Evolution bewährt. Sie ist in (fast) allen Organismen zu finden. Forschungsergebnisse, die anhand eines Organismus ermittelt werden, geben Anhaltspunkte für die Forschung an anderen Organismen. In der Molekularbiologie ist infolgedessen eine Forschungsdynamik entstanden, in der sich die Ergebnisse gegenseitig befruchten: in der Breite organismischer Vielfalt und in der Tiefe molekularer Mechanismen und Strukturen. Es ist daher nicht nur sinnvoll, das Genom des Menschen in den Blick zu nehmen, sondern zum Beispiel auch das Hefe Genom, die Genome von Mäusen, Schweinen, Affen und anderer Tiere, aber auch Pflanzengenome und die Erbinformationen von Bakterien und Viren.
Der genetische Code besteht aus lediglich vier DNA-Bausteinen und beschreibt dennoch die gesamte genetische Komplexität der Organismen. Auch das Konzept, was Gene sind und wie die Entwicklung von der DNA als Informationsträger zum Protein funktioniert, erscheint auf den ersten Blick einfach. Tatsächlich wird jedoch das Bild, das die Molekularbiologie von den biologischen Strukturen und Mechanismen zeichnet, immer komplizierter. Der Blick auf die Gene allein reicht nicht; ihre Wechselwirkungen sind mit entscheidend. Deshalb ist die Genomforschung so wichtig. Und zur Genetik muss die Epigenetik hinzukommen, um genau zu verstehen, wie Vererbung und Entwicklung von Organismen funktionieren. Ohne ausgefeilte Methoden wäre diese komplexe Forschung nicht möglich. Nur die wenigsten von ihnen sind in der Öffentlichkeit bekannt, gegebenenfalls das Genome Editing und die Polymerase-Kettenreaktion, die meisten aber sind zu kompliziert, um außer halb von Fachkreisen Aufmerksamkeit zu erregen. Für Innovationsprozesse ist es wichtig, diese hochkomplexe Grundlagenforschung zuzulassen und zu unterstützen. Auch wenn in der Gesellschaft nicht unmittelbar einsichtig ist, wozu sie gut sein soll, legt sie letztlich die Grundlagen für künftige Innovationen. Die Relevanz von Forschung zeigt sich oftmals erst viele Jahre später.
Krebs und Seltene Krankheiten
Immer häufiger basieren medizinische Diagnosemethoden auf dem Nachweis krankheitsverursachender Veränderungen der DNA, besonders prominent etwa in der Tumormedizin, aber auch bei den Seltenen Krankheiten, die – im Gegensatz zu den Volkskrankheiten – meistens auf einem Defekt in nur einem einzigen Gen beruhen. Das Genom des Menschen besteht aus mehr als 3,2 Milliarden DNA-Bausteinen und enthält vermutlich rund 20.000 Gene. Bei 4.000 Genen hat man mittlerweile krankheitsverursachende Varianten identifiziert. Die Brustkrebsgene BRCA1/BRCA2 sind wahrscheinlich die bekanntesten Beispiele aus einer weiter wachsenden Fülle detektierbarer krankheitsrelevanter Genveränderungen, die ursächlich mit der Tumorentstehung in Verbindung gebracht werden.
Krebs auf der Ebene der Gene nachweisen zu können, ist ein Meilenstein des medizinischen Fortschritts. Aber das neue Wissen kann Betroffene zusätzlich unter Druck setzen, denn es erfordert Entscheidungen, die viele überfordern: Ist man Träger einer genetischen Mutation, die mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit in Zukunft zu Krebs führen könnte, stellt sich etwa die Frage nach prophylaktischen Maßnahmen (beispielsweise der vorbeugenden Amputation der Brust), die tief in das eigene Leben eingreifen. Ein verantwortlicher Umgang mit Gentests setzt unbedingt Beratung voraus. Deutlich wird an diesem Beispiel, dass Innovationen allein noch nicht zu einem (humanen) Fortschritt führen, besonders nicht in den Lebenswissenschaften, die den Menschen selbst zum Objekt haben und dadurch einerseits Handlungsoptionen eröffnen, aber andererseits neue Entscheidungszwänge verursachen. Genetische Untersuchungen sind auch Voraussetzung für die personalisierte Medizin, die sich dadurch auszeichnet, dass sie nicht mehr Standardtherapien für alle anbietet, sondern maßgeschneiderte, die individuell wirksam sind. Gerade bei schweren, lebensbedrohlichen Erkrankungen wie Krebs kommt es darauf an, möglichst frühzeitig Therapien zu identifizieren, die beim betroffenen Patienten wirken. Die Wirksamkeit vieler Therapien hängt von der Art des genetischen Defekts ab, der den Tumor verursacht. Die genetische Analyse ermöglicht eine individuelle – personalisierte – Behandlung des Patienten und führt damit zu besseren Therapieerfolgen. Fortschritte in den Lebenswissenschaften haben also einen sehr konkreten Nutzen für Patienten. Ohne Molekularbiologie sind Diagnose und Therapie oft nicht mehr denkbar. Das Genom nimmt zunehmend einen zentralen Platz in der Humanmedizin ein und führt zu einer stärkeren Personalisierung, die den einzelnen Patienten und sein unverwechselbares Genom in den Mittelpunkt stellt.
Gentherapie und Biopharmaka
In der sogenannten Gentherapie, die auf die Korrektur defekter Gene abzielt, sind die Fortschritte noch nicht so groß wie erwartet; dennoch gibt es hoffnungsvolle Ansätze, deren Ziel darin besteht, Krankheiten nicht nur symptomatisch, sondern ursächlich behandeln zu können. Noch befindet sich dieser Ansatz im experimentellen Stadium, und Erfolge sind keineswegs sicher. Da aber nicht nur das Wissen über die genetische Konstitution des Menschen und anderer Lebewesen ständig zunimmt, sondern auch das methodisch-technische Know-how wächst, ist zu erwarten, dass sich im Laufe der nächsten Jahrzehnte die Gentherapie über das derzeitige experimentelle Stadium hinaus zu einer etablierten Therapieform entwickeln wird. Am Beispiel der genetischen Diagnostik und der Gentherapie zeigt sich, dass Innovation nicht unbedingt nur eine wirtschaftlich relevante Erneuerung bedeuten muss, sondern auch ein neuartiger Weg sein kann, drängende Probleme zu lösen. Im Fall der Medizin geht es um Heilung und Gesundheit, also ethisch hoch wertige Ziele, für die sich der Einsatz allemal lohnt. Deshalb sollten Kritiker der „Genmedizin“ nicht vorschnell neue Diagnose und Therapieoptionen mit Hinweisen auf ethische Probleme ablehnen.
Besonders deutlich werden die wirtschaftlich nutzbaren innovativen Potenziale DNA-basierter Technologien im pharmazeutischen Bereich: Mehr als ein Drittel der neu zugelassenen Medikamente wird inzwischen gentechnisch hergestellt. Obwohl die Gentechnik in ihrer Anfangszeit auf große Widerstände gestoßen ist, hat der Standort Deutschland aufgeholt und gehört mittlerweile weltweit zu den größten Herstellern gentechnischer Pharmawirkstoffe. 2018 wurden nach Angabe des Verbandes Forschender Arzneimittelhersteller 38 Biopharmaka neu zugelassen. Der Umsatz betrug 11,4 Milliarden Euro. Rund 400 Unternehmen sind in Deutschland in der medizinischen Biotechnologie tätig und beschäftigen fast 50.000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter.
Mit Blick auf Innovationen ist es erforderlich, diesen positiven Trend durch staatliche Fördermaßnahmen zu unterstützen, denn weltweit wird auch an anderen Standorten intensiv in die Lebenswissenschaften investiert. Wenn Deutschland an der Wertschöpfung teilhaben will, muss es mithalten. Eine steuerliche Forschungsförderung für Unternehmen wäre hilfreich. Sie benötigen außerdem starke Kooperationspartner in Hochschulen und nicht universitären Forschungseinrichtungen. Eine Biotech-Strategie – ähnlich der Strategie Künstliche Intelligenz (KI) der Bundesregierung –, die Ziele für die Biowissenschaften und ihre Anwendungen formuliert, würde dem Innovationsstandort Deutschland einen weiteren Schub verleihen.
Sozialethische Frage mit neuer Brisanz
Die zunehmende Zentrierung auf das Genom in Medizin und Pharmazeutik ist zweifellos eine besonders wegweisende innovative Entwicklung mit konkretem Nutzen für Betroffene. Allerdings ist sie mit erheblichen Kosten verbunden. Zur Behandlung der tödlich verlaufenden Spinalen Muskelatrophie wurde kürzlich in den USA ein Medikament zugelassen, das rund zwei Millionen Dollar pro Einzeldosis kostet. Dies ist sicherlich ein Extremfall; es gibt jedoch viele andere Beispiele für exorbitant teure Therapien. Die sozialethische Frage, wie die knappen Ressourcen im Gesundheitswesen am besten ein gesetzt werden sollten, stellt sich dadurch mit neuer Brisanz.
Wissenschaftlicher Fortschritt führt, wie skizziert, oft zu humanem Fortschritt, der Patienten hilft. Aber entsteht daraus auch ein gesellschaftlicher Fortschritt? Oder provoziert er soziale Ungleichheiten, die eigentlich vermieden werden müssen? Innovationspolitik kann nur verantwortlich betrieben werden, wenn die Frage nach den sozialen Konsequenzen nicht ausgeblendet wird. Spätestens an diesem Punkt wird deutlich, dass in das Innovationsgeschehen nicht nur die Lebenswissenschaften, sondern auch Ethik, Recht und Sozialwissenschaften eingebunden werden müssen.
Norbert Arnold, geboren 1958 in Ellar, Leiter des Teams Bildungs- und Wissenschaftspolitik, Hauptabteilung Politik und Beratung der Konrad-Adenauer- Stiftung.