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Julia Klöckner über Konsequenzen aus dem Anschlag in Berlin und die Bedeutung der Debatte um die Vollverschleierung

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Der Anschlag auf den Weihnachtsmarkt an der Berliner Gedächtniskirche hat die mörderische Bedrohung durch den islamistischen Terrorismus in Deutschland endgültig vor Augen geführt. Was sind Schlussfolgerungen für die Politik, was sind nun die politischen Prioritäten?

Julia Klöckner: Der Anschlag in Berlin war ein barbarischer und feiger Akt. CDU und CSU treiben nicht erst seit dem 19. Dezember 2016 sicherheitspolitische Maßnahmen voran. Es geht uns konkret um die innere Sicherheit, um die richtige Balance von Freiheit und Sicherheit. Es muss schonungslos analysiert werden, wie es beispielsweise sein kann, dass ein abgelehnter Asylbewerber und Gefährder überhaupt noch zwischen mehreren Bundesländern hin und her reisen konnte, wieso er über zehn Identitäten hatte und man ihn einfach gewähren ließ.

Das versteht in der Bevölkerung niemand: Wenn jemand zwei Minuten seine Parkzeit überzieht, spürt er sofort die Macht der öffentlichen Hand. Da darf man fragen, ob die Relationen noch stimmen, und muss schauen, was zu geschehen hat: ob etwa Hindernisse im Datenaustausch zwischen Bund und Ländern beseitigt werden müssen, ob es Fragen gibt, die nicht allein den Ländern überlassen werden können – wie beispielsweise, ob jemand observiert, inhaftiert oder abgeschoben wird.

 

Wie bewerten Sie dann die Aussage des NRW-Innenministers Ralf Jäger, dass eigentlich alles ordnungsgemäß gelaufen sei und nur die Mittel gefehlt hätten?

Julia Klöckner: Man muss fragen, ob Herr Jäger die letzten zwei Jahre in Deutschland gelebt hat. Mein Eindruck ist, dass er sich an irgendwelche vermeintlichen Buchstaben klammert, ohne den wirklichen gesetzlichen Spielraum des Landes NRW vor Augen zu haben.

 

Als eine der Ersten in der Union haben Sie bereits vor Jahren ein Vollverschleierungsverbot – landläufig „Burkaverbot“ genannt – gefordert. Welchen Stellenwert besitzt diese Forderung im aktuellen Kontext? Manche haben ja schon vor dem Anschlag in Berlin behauptet, dass man sich am falschen Thema festbeißt, schließlich gebe es schätzungsweise nur 800 Burkaträgerinnen in Deutschland.

Julia Klöckner: Zum einen ist das Teil einer gesellschaftlichen Debatte. Zum anderen diskutiere ich das Vollverschleierungsverbot unter der Frage der Integrationserfolge oder -misserfolge. Darüber hinaus hat die Qualität bei der Bewahrung unseres Menschenbildes nichts mit Quantitäten der Erscheinung zu tun. Würden wir das, was erlaubt oder verboten sein soll, nur an Zahlen festmachen, würden wir der Bedeutung des Einzelnen und damit dem Kern unseres Menschenbildes nicht gerecht. Hier geht es um etwas Grundsätzliches: um Gleichberechtigung. Warum sollen sich Frauen aufgrund ihres Geschlechts verhüllen? Und die Integration in eine offene Gesellschaft wird so nicht gelingen. Denn eine Frau, die ihrer Identität in der Öffentlichkeit beraubt und hinter einem Stück Stoff versteckt wird, wird niemals hier ankommen, niemals am Arbeitsmarkt teilhaben wie andere Frauen.

 

Bis auf wenige Ausnahmen sind die islamistischen Attentäter männlich. Müsste man daher nicht eher beispielsweise die typische Bekleidung und die Bärte der Salafisten – Kamel Daoud spricht von einem „behaarten Tumor“ – als Ausdruck ideologischer Verblendung interpretieren und vielleicht dann auch verbieten?

Julia Klöckner: Durch eine Rasur bekommen Sie eine Verblendung nicht weg.

 

Aber auch nicht durch Entschleierung.

Julia Klöckner: Ja, aber das sind doch zwei sehr unterschiedliche Paar Schuhe. In einem Patriarchat entscheiden die Männer über die Frauen. Eine Frau kann dort selten selbst Entscheidungen treffen, wo der Vater, Bruder oder Sohn die Frau begleiten muss, wenn sie das Haus verlässt. Das ist bei den Männern anders, denen weitaus mehr Freiraum zur selbstständigen Entscheidung bleibt.

 

Dass unzählige Frauen in vielen muslimisch geprägten Ländern unter fundamentalistischen und patriarchalischen Diktaten und Konventionen zu leiden haben, steht außer Frage. Aber wie sicher können wir uns sein, dass muslimische Frauen in Deutschland die Vollverschleierung nicht als Ausdruck ihrer religiösen Freiheit verstehen?

Julia Klöckner: Hundertprozentige Selbstbestimmung kann es nicht geben – allenfalls vielleicht bei Eremiten. Wo die Freiheit des einen auf die des anderen trifft, braucht es Regeln. Wer in einer Gesellschaft lebt, muss auch die Regeln des Zusammenlebens mit anderen beachten. So betrachtet es manch einer vielleicht als zentralen Ausdruck seiner Selbstbestimmung, nackt durch die Fußgängerzone zu laufen. Das funktioniert aber nicht und stößt auf den Widerstand anderer – weswegen es in Deutschland auch nicht erlaubt ist.

Insofern kann nicht immer das eigene Befinden der alleinige und entscheidende Maßstab sein, sondern die zentrale Frage in unserem Zusammenhang ist, wie Integration möglich wird. Und das heißt: Wer sich weigert, in einer offenen Gesellschaft Gesicht zu zeigen, und damit quasi als Werbebanner des fundamentalistischen Islams agiert, dem können wir nicht mit offenen Armen und Toleranz begegnen, sondern müssen ihm sagen, wie die Spielregeln bei uns sind.

 

Kritikerinnen des Vollverschleierungsverbots wenden ein, dass Emanzipation ein Vorgang des „Sich-selbst-Befreiens“ sein müsse und nicht verordnet werden dürfe.

Julia Klöckner: Ganz ehrlich, das ist dummes Zeug. Ich halte es ist für zynisch, Frauen sagen zu wollen, sie müssten sich selbst befreien. Sagen Sie das mal einer Frau, die nicht ohne männliche Begleitung das Haus verlassen darf, geschweige denn jemals einen Beruf erlernen könnte – sie lebt in einer totalen Abhängigkeit! Ich kenne eine muslimische Frau, die in einem Frauenhaus Zuflucht suchen musste, weil sie den Schleier abgelegt hat.

Mich erstaunen Feministinnen, die zwar für eine gendergerechte Sprache, gesetzliche Frauenquoten und für vieles andere eintreten und dennoch im Jahre 2017 für voraufgeklärte Geschlechterbilder Verständnis aufbringen.

 

Der Burkini ist in Australien erfunden worden, damit traditionelle Musliminnen Rettungsschwimmerinnen werden konnten. Kann der Burkini nicht auch in Deutschland ein Instrument zu mehr Teilhabe von muslimischen Frauen sein?

Julia Klöckner: Das sehe ich differenziert und gelassen, bin aber, was den Schwimmunterricht an den Schulen betrifft, gegen den Burkini, weil er dort eine falsche und schädliche Sicht vermittelt: Wenn Jungen und Mädchen mit einem kruden Geschlechterbild aufwachsen, das quasi besagt, dass der Mädchen- und Frauenkörper Anstoß erregt und deshalb verhüllt werden muss, dann trägt sich das natürlich bis ins Erwachsenenleben weiter.

Wer sich aber individuell entscheidet, am Strand einen Burkini zu tragen, wie andere sich entscheiden, einen Neoprenanzug zu benutzen, folgt darin einem freien Willen – selbst wenn ich dabei immer noch ein beklommenes Gefühl habe und mich frage, warum Frauen glauben, sie müssten sich verhüllen, nur weil sie Frauen sind. In den Badeanstalten gilt die jeweilige Hausordnung: Wenn dort andere Kleidung als die übliche Schwimmbekleidung zugelassen ist, okay. Aber wenn T-Shirts und Neoprenanzüge aus hygienischen Gründen untersagt sind, aber Burkinis aus angeblich religiösen Gründen nicht, dann ist das nicht nachvollziehbar. Und noch einmal: Im Schulunterricht geht das nicht. Die Verhüllung der Mädchen, die der Gleichberechtigung und einem aufgeklärten Geschlechterbild widerspricht, kann nicht auch noch von der Schule unterstützt und anderen Kindern gelehrt werden.

 

An der Côte d’Azur, wo Polizisten zu Louis de Funès’ Zeiten gegen zu viel Nacktheit vorgingen, ist eine Frau vor nicht allzu langer Zeit für zu viel Bedecktheit polizeilich verfolgt worden. Inwieweit ist körperliche Freizügigkeit inzwischen ein Zeichen von weiblicher Emanzipation? Oder anders gefragt: Stellen sich in Anbetracht der Burkinidebatte nicht auch selbstkritische Fragen an die westliche Kultur, die den weiblichen Körper in der Werbung und noch mehr in leicht zugänglicher Pornografie vermarktet?

Julia Klöckner: Aber das gibt es inzwischen ja auch mit Männern. Die Grenzen des guten oder schlechten Geschmacks mögen in der Tat oft fließend und fragwürdig sein, aber entscheidend ist doch die Frage, ob eine freie Entscheidung des Einzelnen zugrunde liegt, die wiederum nicht absolut sein kann, wie ich eben erläutert habe. Denn nackt darf keiner in der Fußgängerzone rumlaufen und kein Motorradfahrer darf mit Helm in die Bank gehen. Das Vorgehen der Polizei am offenen Strand von Nizza fand ich überzogen. Grundsätzlich bleibe ich aber dabei, dass es voraufgeklärt und problematisch ist, wenn Frauen sich verhüllen müssen, nur weil sie Frauen sind. Ob jemand einen kurzen oder langen Rock anzieht, ist herzlich egal, das muss jeder selbst entscheiden – unabhängig davon, ob es stilsicher ist oder nicht. Gesicht zu zeigen oder nicht, ist hingegen keine Modefrage.

 

Aber ist es denn nachvollziehbar, dass man heute sagt, der verhüllte Körper macht Frauen zu Lustobjekten und nicht mehr der unverhüllte? Salafisten ködern junge Mädchen bekanntlich mit dem Satz: „Bei uns seid ihr mehr als euer Körper!“

Julia Klöckner: Mag sein, aber das ist wiederum nicht die entscheidende Frage, sondern: Warum laufen denn nicht auch Männer in dieser Weise verhüllt herum? Wogegen ich mich wehre, ist, dass Frauen und junge Mädchen das Gefühl suggeriert bekommen, dass sie nur dann, wenn sie ihren Körper verhüllen, anständig sind. Dabei liegt die Frage, was anständig oder unanständig ist, im Auge des Betrachters. Die Problematik resultiert, wie gesagt, daraus, dass nur an einem Geschlecht exemplifiziert wird, was Anständigkeit oder Unanständigkeit bedeuten.

 

Seit dem Essener Parteitag im Dezember ist die Forderung nach einem Vollverschleierungsverbot die offizielle Position der CDU – allerdings soll sie „unter Ausschöpfung des rechtlich Möglichen“ verwirklicht werden. Warum dieser Zusatz?

Julia Klöckner: Weil es unter Juristen unterschiedliche Interpretationen gibt, was rechtlich möglich ist. Die einen sagen, die Vollverschleierung falle unter die Religionsfreiheit. Die anderen sind überzeugt, die Vollverschleierung sei nicht religiös begründet, und selbst wenn doch stehe die Religion nicht über dem Grundgesetz, was bedeutet, dass die Gleichheit und Gleichberechtigung ebenso ihren Stellenwert besitzen. Deshalb macht der Beschluss einerseits klar, dass wir Vollverschleierung ablehnen, weil sie frauenverachtend und integrationshemmend ist und nicht zum Leben in einer offenen Gesellschaft wie Deutschland passt. Andererseits übergeht er nicht die Schwierigkeit der unterschiedlichen Rechtsinterpretationen – wobei ich hinzufügen möchte, dass ich, gestützt auf Verfassungsrechtler wie Friedhelm Hufen oder Udo Di Fabio, ein umfassendes Verbot der Vollverschleierung für verfassungsfest halte – also nicht nur auf Ämtern und Gerichten, sondern generell in der Öffentlichkeit.

 

Seit dem Parteitag ist noch nicht viel Zeit vergangen, dennoch die Frage: Wie geht es mit dem Beschluss weiter?

Julia Klöckner: Das ist nicht zuletzt auch eine Frage an die Länderparlamente. In den rheinland-pfälzischen Landtag haben wir zum Beispiel einen Antrag für ein solches Verbot eingebracht, der aber leider von Rot-Grün und Gelb ablehnt worden ist. Andererseits wird Herr Minister de Maizière jetzt im Bund das regeln, was der Bund in dieser Frage regeln kann – zum Beispiel ein Verbot der Vollverschleierung auf Ämtern oder etwa ein Verbot zur Gewährleistung der Sicherheit beim Autofahren. Dabei braucht man für vieles aber auch Mehrheiten, und da blockieren Rot und Grün weitergehende Schritte. Andererseits sind Parteitage glücklicherweise Versammlungen, bei denen der eigene politische Standpunkt deutlich wird und bei denen man nicht den Koalitionsausschuss vorwegnehmen muss.


Das Gespräch führte Bernd Löhmann am 6. Januar 2017.

Julia Klöckner, geboren 1972 in Bad Kreuznach, Vorsitzende der CDU Rheinland-Pfalz, Vorsitzende der CDU-Fraktion im Landtag Rheinland-Pfalz, stellvertretende Vorsitzende der CDU Deutschlands.

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