Aus zwei Gründen – so die drei Autoren – sei ihr Buch entstanden: Mit Fakten wollen sie den „wesentlichen“ Beitrag der SPD am Zustandekommen der deutschen Einheit belegen und zugleich an den Mauerfall vom 9. November 1989 erinnern, in dessen Folge am 3. Oktober 1990 die deutsche Einheit Wirklichkeit wurde.
Hans-Jochen Vogel, von 1983 bis 1991 Vorsitzender der SPD-Bundestagsfraktion und von 1987 bis 1991 Parteivorsitzender, weist den „Vorwurf“ zurück, die SPD habe im deutschen Einigungsprozess zu zögernd und zurückhaltend reagiert und zu lange an einer Zwei-Staaten-Lösung festgehalten. Erhard Eppler unterstreicht die Bedeutung Willy Brandts in der Deutschland- und Ostpolitik, schildert seine Eindrücke aus dem Raum der evangelischen Kirche und reflektiert seine Rolle und Erfahrungen als Vorsitzender der Grundwertekommission bei der Entstehung des SPD/SED-Papiers „Der Streit der Ideologien und die gemeinsame Sicherheit“ vom 27. August 1987; dabei kommt auch die Resonanz auf seine viel beachtete Rede zum 17. Juni im Jahr 1989 zur Sprache, in der er von früheren Positionen Abstand nahm. Wolfgang Thierse richtet schließlich den Blick auf die Wiederentstehung und die Aktivitäten der ostdeutschen Sozialdemokratie im Jahr 1989/90.
Hans-Jochen Vogel will die Kritik an der SPD-Deutschlandpolitik in Medien und zeitgeschichtlichen Publikationen, die sich selbst in Veröffentlichungen der SPD-nahen Friedrich-Ebert-Stiftung findet, nicht hinnehmen, sondern seiner Partei Gerechtigkeit widerfahren lassen, ohne Irrtümer und Fehler zu verschweigen. Um die Kritik, die er in neun Punkten konkretisiert, zu widerlegen, greift Vogel auf Beschlüsse und Entscheidungen der Parteispitze wie der Bundestagsfraktion zurück und kommentiert mit zahlreichen Zitaten aus internen Sitzungen und öffentlichen Verlautbarungen den Ablauf der wesentlichen Ereignisse der Jahre 1989 und 1990. Diese Zitate und ihre Einbettung in die jeweils konkrete historische Situation belegen Vogels Resümee, dass die SPD-Gremien die Ereignisse und den Einigungsprozess mit kritischer Zustimmung und auch mit konkreten Vorschlägen begleitet haben.
Ausführlich geht Vogel zum Beispiel auf seine Rede am 28. November 1989 im Bundestag ein: Noch bevor Bundeskanzler Helmut Kohl in der gleichen Sitzung mit seinem berühmten „Zehn-Punkte-Plan“ zur Erlangung der deutschen Einheit Freund und Feind überraschte, hatte er selbst ein „Fünf-Punkte-Konzept“ vorgestellt, in dem er konföderative Strukturen, ja eine „Konföderation“ als Zwischenstation auf dem Weg zu „Einheit und Freiheit Deutschlands“ vorschlug. Dass Johannes Rau gleichartige Vorstellungen in Form von gemeinsamen Kommissionen, die sich „mit Währungs- und Devisenfragen, mit Wirtschafts- und Strukturfragen, mit Umweltschutz- und Energiepolitik, mit Verkehr und Infrastruktur“ befassen sollten, schon am 15. November 1989 im Landtag von Nordrhein-Westfalen entwickelt hatte, erwähnt Vogel nicht; wohl aber weist er auf ähnliche Überlegungen von Karsten Voigt vom 13. November und von Horst Ehmke vom 20. November 1989 hin. In Medien und Öffentlichkeit war die Resonanz auf diese SPD-Verlautbarungen freilich eher gering.
Wirkungsloses Treffen am Werbellinsee
Vogel bedauert dies und führt die mangelnde Wirkung darauf zurück, dass in einer brisanten nationalen Lage die Regierung gegenüber der Opposition immer im Vorteil ist. Die Gestaltung der Deutschlandpolitik und die Pflege der Beziehungen zwischen den beiden deutschen Staaten lagen seit 1982 vor allem in den Händen des Kanzleramts und des Innerdeutschen Ministeriums. Dabei knüpfte die Regierung Kohl an die von ihren Vorgängerregierungen geschaffene Vertragsgrundlage mit der DDR zwar an, setzte allerdings in ihrer Politik andere Akzente. Dies signalisierte Kohl mit seinem ersten – von der sozial-liberalen Koalition zuvor abgeschafften – „Bericht zur Lage der Nation im geteilten Deutschland“ am 23. Juni 1983. Voraussetzung waren das Festhalten an der deutschen Einheit, das Offenhalten der deutschen Frage und das Ziel, das Leben der Menschen in Deutschland zu erleichtern, ohne dabei bundesdeutsche Positionen ohne substanzielle Gegenleistungen der DDR aufzugeben. Erste Ergebnisse dieser Politik zeigten sich nach der Gewährung des „Milliardenkredits“ mit dem Abbau der Selbstschussanlagen an der innerdeutschen Grenze, im Ausbau des Besucherverkehrs, in der Abschaffung des Mindestumtauschs für Kinder und nicht zuletzt in der Erhöhung der Zahl der Übersiedler. Im Unterschied dazu war das Treffen von Bundeskanzler Helmut Schmidt mit Erich Honecker am Werbellinsee im Dezember 1981 (nicht 1983, wie es auf Seite 23 heißt) weitgehend ergebnislos verlaufen. In der Oppositionsrolle konnte die SPD noch weniger bewegen; sich damit zufriedengeben wollte sie jedoch nicht.
„Neben-Deutschlandpolitik“
Um innenpolitisch stärkere Akzeptanz zu erreichen und neues Profil zu gewinnen, setzte sie deshalb auf eine „Neben-Deutschlandpolitik“ mit über 100 Gesprächskontakten zur SED bis 1989 und gemeinsamen Arbeitsgruppen über Sicherheits- und Abrüstungsfragen. Auch medienwirksame „Wahlhilfe“ durch die SED vor Bundes- und Landtagswahlen war erwünscht und wurde gerne in Anspruch genommen (Gerhard Schröder 1985, Johannes Rau 1986/87, Björn Engholm 1987). Wortführer dieser Politik waren vor allem Egon Bahr, Harry Ristock, Walter Momper, Karsten Voigt, Jürgen Schmude, Gerhard Schröder und Oskar Lafontaine, die geneigt waren, zugunsten des Primats der Sicherheitspolitik die Einheit der Nation hintanzustellen, die Staatsbürgerschaft der DDR völkerrechtlich anzuerkennen, die Zweistaatlichkeit hinzunehmen und auf das Ziel der Wiedervereinigung zu verzichten. Selbst Willy Brandt bezeichnete in den 1980er-Jahren mehrfach die „Wiedervereinigung als Lebenslüge der Nation“. Hinzu kam die Konzession – die auch Hans-Jochen Vogel mittrug –, die Erfassungsstelle Salzgitter aufzulösen. Die SPD-geführten Länder stellten deren Mitfinanzierung ein und entsprachen damit einer der Geraer Forderungen Erich Honeckers vom Oktober 1980.
Die Erarbeitung des umstrittenen Streitkulturpapiers mit der SED bildete in dieser „Neben-Deutschlandpolitik“ gewissermaßen den Höhepunkt. Die SPD ignorierte dabei völlig, dass sie als Partei eines pluralistischen demokratischen Staats in Verhandlungen mit der Staatspartei einer Diktatur trat und diese quasi in den Rang einer ebenfalls legitimen demokratischen Partei erhob. Nachträglich werden diese Kontakte und Konzessionen, die zu heftigen parteipolitischen Auseinandersetzungen führten, mit dem Argument zu rechtfertigen versucht, man habe einerseits den sicherheitspolitischen Gesprächsfaden zur DDR nicht abreißen lassen wollen und andererseits die SED-Führung einer „Sozialdemokratisierung“ unterziehen wollen, um eine Liberalisierung der DDR von oben anzustoßen. Auch der Jurist Vogel argumentiert post festum in diesem Sinn. Es trat bekanntlich weder ein sicherheitspolitischer Gewinn noch eine Liberalisierung der DDR ein, und zum Offenhalten der deutschen Frage taugte das Papier ebenfalls nicht.
Das Problem der SPD bestand jedoch nicht nur in diesem Zeitraum darin, dass sie keineswegs eine einheitliche Linie vertrat. Innerhalb der Partei gab es verschiedene Strömungen, die kaum unter einen Hut zu bringen waren. Es gab SPD-Vertreter, die den Kontakt mit DDR-Oppositionellen suchten, wie der Bundestagsabgeordnete Gert Weisskirchen, dem daraufhin die Einreise in die DDR verweigert wurde; die SPD protestierte dagegen nicht. Egon Bahr und seine Anhänger waren dagegen Befürworter der Zweistaatlichkeit („Die Chancen der Geschichte in der Teilung suchen“) und ganz dem Konzept der „Sicherheitspartnerschaft“ und der Nichteinmischung verhaftet, was für viele Beobachter den Beigeschmack von Anbiederung hatte.
„Politische Umweltverschmutzung“
Noch 1988/89 verwarf Bahr wiederholt die Ansicht, die Wiedervereinigung sei vordringlichste Aufgabe deutscher Politik; sie sei vielmehr „objektiv Lüge, Heuchelei, (…) politische Umweltverschmutzung“. Bei aller Bereitschaft zum Dialog mit der SED stand eine dritte Gruppe um Hans-Jochen Vogel und den SPD-Parteivorstand zur Präambel des Grundgesetzes und zum Urteil des Bundesverfassungsgerichts von 1973. Allerdings hatte auch Vogel noch am 3. Oktober 1989 vor der SPD-Fraktion geäußert, die vom Parteivorstand und der Fraktion bekräftigten Positionen, „nämlich (…) die Ablehnung des leichtfertigen und illusionären Wiedervereinigungsgeredes, finden auch außerhalb der SPD mehr und mehr Zustimmung“.
Nur zögernd nahm die SPD als Ganze nach dem Fall der Mauer von ihren alten Vorstellungen Abstand und sprang auf den Zug zur Einheit auf. Der Versuch der Parteispitze, das Bild der Zerrissenheit und Widersprüchlichkeit in der Öffentlichkeit zu retuschieren, wurde allerdings immer wieder konterkariert durch einzelne Repräsentanten, die – so Vogel – „ungeachtet der großen Mehrheit, mit der die Beschlüsse in den Organen der Partei und der Bundestagsfraktion gefaßt worden sind, (…) abweichende, zumindest aber mißverständliche Meinungen öffentlich“ artikulierten. So forderten noch im Februar 1990 mehrere SPD-Bundestags- und -Landtagsabgeordnete die „Anerkennung der DDR als einen eigenen souveränen Staat“. Diese internen Bruchlinien verdeutlichen, welch undankbare Aufgabe der Oppositionsführer zu bewältigen hatte.
Maßgeblichen Anteil am Bild mangelnder Geschlossenheit hatte der saarländische Ministerpräsident und Kanzlerkandidat für die Bundestagswahl 1990, Oskar Lafontaine. Noch am 25. November 1989 hatte er angeregt, die materiellen Hilfen für Aus- und Übersiedler aus der DDR „zu überdenken“, und indirekt erneut die Anerkennung der DDR-Staatsbürgerschaft gefordert. Das SPD-Präsidium distanzierte sich zwar umgehend von seinen Äußerungen, nominierte Lafontaine aber im vollen Bewusstsein, dass er kaum in die insgesamt konstruktive Politik der SPD-Spitzengremien einzubinden war, am 19. März 1990 zum Kanzlerkandidaten. Die Bedenken bestätigten sich, als er wegen seiner Ablehnung des Staatsvertrags über die Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion – unterstützt durch den niedersächsischen Ministerpräsident Gerhard Schröder – mit seinem Rücktritt von der Kanzlerkandidatur drohte und dadurch die SPD in eine heftige Zerreißprobe führte. Den so entstandenen Eindruck einer zwiespältigen SPD-Politik, der sicherlich zum Ergebnis der ersten gesamtdeutschen Wahlen am 2. Dezember 1990 beigetragen hat, vermag auch Hans-Jochen Vogel nicht zu entkräften.
Günter Buchstab, geboren 1944 in Lauchheim, bis 2009 Leiter der Hauptabteilung Wissenschaftliche Dienste/Archiv für Christlich-Demokratische Politik der Konrad-Adenauer-Stiftung e.V.