Corona ist unheimlich. Sigmund Freud beschreibt das Unheimliche als etwas, das besser heimlich geblieben wäre, da es eine Erkenntnis erzwingt, die man lieber mit dem Siegel des Unbewussten versehen und aus dem Bewusstsein des Alltags verdrängt hätte. Auch Gesellschaften haben ihr je eigenes Verdrängtes; sozialpsychologische Theorien von Sigmund Freud, Jacques Lacan, Terry Eagleton oder Julia Kristeva haben das ausführlich beschrieben. Rebecca Solnit zeigt in ihrem Bestseller A Paradise Built in Hell, wie Katastrophen diese kollektiven Verdrängungen freilegen, indem sie das Hamsterrad der habitualisierten Handlungs- und Denkgewohnheiten anhalten und so den Lack des gesellschaftlich geprägten Alltagsbewusstseins durchbrechen. Eine Katastrophe ist in der griechischen Tragödie die unerwartete Wendung zum Schlimmen, sie setzt den Prozess der Katharsis, der „seelischen Reinigung“ der Zuschauer, in Gang.
Die Corona-Pandemie ist – aus europäischer Perspektive – die größte Katastrophe seit dem Zweiten Weltkrieg. Sie macht sichtbar, was ansonsten in der Normalität aufging und unsichtbar war. Das Wort „Normalität“ beinhaltet signifikanterweise die Norm: Normalität ist eine normierte Ordnung der Dinge, Werte und Menschen, die institutionell verankert, durch Rituale, Belohnungen und Sanktionen affirmiert und so naturalisiert wird, dass sie vielen Menschen als der einzig verfügbare Rahmen ihres Welt- und Selbstentwurfs gilt. Zerbricht dieser Rahmen, dann zerbricht das Gerüst, das Stabilität, Berechenbarkeit und Sicherheit suggerierte, solange es hielt.
Die radikalste Form der Unterbrechung der Normalität ist der Tod. In unserer spätmodernen Hochleistungsgesellschaft, in welcher die Idolisierung von Leistung, Effizienz, Mobilität und Vernetzung zum Dauerstress nicht nur der erwerbstätigen Generationen führt, zeigt der schlagartige Lockdown, die damit erzwungene soziale Isolierung und die – vielbeschworene, aber wenig praktizierte – Entschleunigung ähnlich drastische Wirkungen. In der Corona-Pandemie kommen Tod, radikale Verlangsamung und soziale Isoliertheit zusammen.
Let’s talk about death (Michael Hebb)
Das allstündliche Sterben normaler Bürgerinnen und Bürger wird bereits seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert zunehmend aus dem Alltag verbannt. Gestorben wird heute alltagsfern in Krankenhäusern und Hospizen – Bedingung, Ursache und Folge für die Verdrängung des Todes aus dem Bewusstsein der Industrienationen. Unsere Meisterschaft in der Verdrängung dieser ungewollten Wirklichkeiten zeigt sich beklemmend bei Corona-Partys und ungeschützten Großveranstaltungen zu Zeiten der Pandemie.
Was aus dem Bewusstsein verdrängt ist, ist unbewusst und dem Zugriff der Sprache entzogen. Gepaart mit dem Verlust der Autorität von religiösen Ritualen, die Formen der Darstellung und der Verarbeitung von Tod und Trauer bereithielten, fehlen uns Worte, Bilder und Verhaltensmuster, die das Skandalon des Todes in die Diskurse des Lebens einbetten. Und so griffen die Fernsehmacher auf immer gleiche Bilder zurück, die das Grauen über das medizinisch unbeherrschbare Sterben in Formen bannen sollten: Warteschlangen von italienischen Militärlastwagen vor den Krematorien, beladen mit den Särgen von Corona-Toten; entkleidete Körper mit unkenntlich gemachtem Gesicht, eingespannt in eine Maschinerie von Schläuchen und medizinischen Messgeräten; dystopisch vermummte Gestalten, die aus gläsernen Drehtüren vor die Kameras traten und resignierte Ohnmacht ausdrückten. Im Gegensatz zu den Großaufnahmen verstümmelter Körper und schmerzverzerrter Gesichter in den abendlichen Krimis blieben die Toten ebenso wie die existenzielle Einsamkeit der Schwerstkranken und des heroisch kämpfenden medizinischen Personals gnädig verborgen – und damit der Phantasie und dem Unbewussten der Betrachter überlassen. Nicht das Sterben, sondern die Unverfügbarkeit des Sterbens und des Todes wurde illustriert.
Diese Bankrotterklärung westlich-aufklärerischer Selbstmächtigkeitsideologien wurde angereichert durch die Untergrabung kollektiver Mythen des Alltags. Drei Beispiele: Obdachlose und Arme, die mit der Schließung der Heime und Tafeln keine Bleibe für die Nacht, keine Dusche und kein Essen haben, zerstören die glatte Fassade einer abgesicherten, reichen und gesättigten Wohlstandsgesellschaft; Eltern, die im Homeoffice abwechselnd den Computer benutzen und eventuell noch die Online-Schulaufgaben ihrer Kinder weitergeben und betreuen sollen, strafen den Mythos des Homeoffice als Arbeitsmodell der Zukunft – individuell zu handhaben, f lexibel, eigenständig – Lügen: Homeoffice braucht eine zeitlich geregelte und zuverlässige institutionelle Infrastruktur, die Kinder versorgt, Mahlzeiten organisiert, das individuelle Zeitmanagement und die monologische Arbeitssituation bewältigen hilft, will heißen: Das „Familienleben“ muss um fixe Arbeitszeiten herum organisiert werden – genau wie bei der aushäusigen Arbeit. Und schließlich der Mythos Familie als Lebensmittelpunkt: Sehr viele Paare, Eltern und Kinder ertragen es kaum, wochenlang nur aufeinander angewiesen zu sein, das Funktionieren des Familienverbandes ist angewiesen auf die gesellschaftlichen Netzwerke der einzelnen Familienmitglieder – von der Kinderkrippe über die Schule bis zum Altersheim. Familie ist für viele nicht Lebensmittelpunkt, sondern ein Knotenpunkt diverser Netzwerke – oftmals nicht der wichtigste.
Die Gegentherapie für diese allgemeinen Verunsicherungen: Expertengespräche, die den Tod auf ein medizinisches Phänomen reduzieren, das wir durch einen Impfstoff oder ein Medikament in absehbarer Zukunft werden beherrschen können. Und damit wäre der beunruhigende Blick in den Abgrund einer nur illusorischen Selbstmächtigkeit wieder verdeckt? Nicht ganz. Denn die vielen Professoren und wenigen Professorinnen in ritualisierten TV-Extras zeigten, wie mühsam das Geschäft der Forschung ist, wie unsicher der jeweils erreichte Wissensstand und wie falsch das Bild des autarken Individuums, das qua Intellekt die Welt erkennen und beherrschen kann. Sie weigerten sich, beruhigende Pseudogewissheiten in die Welt zu setzen, und markierten den begrenzten Geltungsraum ihrer Empfehlungen. Die allgemeine Aufkündigung vermeintlicher Sicherheiten machte damit vor der Epistemologie nicht halt: Explizierte und reflektierte Unsicherheit und Offenheit für Alternativen sind das neue alte Qualitätsmerkmal von Wissen. Ein Teil der herrschenden politischen Minderheit, allen voran die Kanzlerin – selbst ausgebildete Wissenschaftlerin –, hat diesen Paradigmenwechsel begriffen.
The same, same old story (Cat Stevens): Die neue Normalität I
Und dann kam der Ausstieg aus dem Lockdown, sprachgeregelt als „die neue Normalität“. Als erstes preschte ein Landesvater mit der Forderung vor, Autohäuser wieder zu öffnen. Nicht Kitas, Schulen, Universitäten, Pflegeheime, nicht Museen, Theater oder Sportstätten, nein: Autohäuser durften der Corona-verschreckten Kundschaft ihr technisch veraltetes Neublech als Kompensation für erlittene Entbehrungen anbieten, womöglich noch gefördert durch steuerfinanzierte Prämien – eine un-heimliche Überblendung von Politik und Wirtschaft.
Damit begann eine Serie dezidiert männlicher Selbstprofilierungen der politischen folks on the hill (John Lennon) durch immer neue Öffnungsstrategien, getrieben von ökonomischen Erwägungen und der Hoffnung, den diffusen Corona-Beschränkungsüberdruss der Bevölkerung in politisches Kapital umzumünzen. Beängstigend die Mischung aus Wunschdenken und Selbsttäuschung, wenn ein Landesfürst die Pandemie kurzerhand für überwunden erklärt und wenn einer seiner Kollegen das gesetzte Maximum an Neuinfektionen auf Landkreisebene für erneute Restriktionen des öffentlichen Lebens – fünfzig Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner in sieben Tagen – rechnerisch vervielfacht. Dabei erreichte nicht einmal die Hälfte aller Kreise je den gesetzten Wert, und die Coronakrise wäre nach dieser Zählung ein rein süddeutsches und nordrhein-westfälisches Phänomen gewesen.
Aber Medien und Bevölkerung spielten mit: Am Tag der Öffnung von Verkaufsflächen bis 800 Quadratmetern verkündete ein Mann im Menschen- und Warengetümmel eines Kaufhauses zur besten TV-Sendezeit: „Es ist wunderbar. Ich muss gar nichts kaufen – nur hier zu sein und zu wissen, dass ich das alles kaufen könnte: Das ist Freiheit.“
Imagine (John Lennon): Die neue Normalität II
Corona kam nach Deutschland und fegte in wenigen Tagen die unhinterfragten Selbstverständlichkeiten eines geregelten, abgesicherten und berechenbaren Alltags in einem der reichsten Länder der Welt vom Tisch. Und fast genauso schnell schienen sich die Menschen zu verändern, verdeckte Seiten offen zu legen, Vergessenes zu erinnern: fast entwöhnte Ruhe, leere Zeit-Räume. Noch nie habe ich so viele Menschen explizit sagen hören, dass sie die „alte“ Normalität nicht zurückhaben wollen: so schnell, so gestresst, so überfüttert mit Informationen, Gelegenheiten, Terminen, Einladungen und Verpflichtungen – und das von Menschen, deren ökonomische Existenz am Abgrund stand. Innerhalb von Tagen brachen sich Kreativität und zivilgesellschaftliche Hilfsbereitschaft in einem Ausmaß Bahn, das nur erstaunen konnte: Eine Studentin von gegenüber fragte, ob sie für mich einkaufen sollte, Kinder in Hamburg veranstalteten ein allabendliches Balkonkonzert für die Nachbarschaft, Videos, Witze und Mutmachtexte kamen von Adressen, die seit Jahren nichts von sich hatten hören lassen. Eine Welle der offenkundigen Freude am gegenseitigen Austausch sprach aus den Texten, Liedern und Bildern, die durch die sozialen Medien kursierten, eine Freude angesichts einer Katastrophe, für die es nach Rebecca Solnit keinen Namen gibt, „this emotion, in which the wonderful comes wrapped in the terrible, joy in sorrow, courage in fear“.
Nach Katastrophen ist ein solcher Ausbruch von Solidarität, Kreativität und Nächstenliebe die Regel, wie Solnit in A Paradise Built in Hell an vielen Beispielen aufzeigt, und das belegt für sie zweierlei: zum einen, wie dünn die Schicht der kulturellen Prägung ist, die diese Bedürfnisse nach und diese Bereitschaft zu Nähe, Kreativität und Gemeinschaft verbirgt. Zum anderen entlarvt diese Reaktion – und darauf geht Solnit ausführlich ein – unser „everyday life as desaster“: Effizienz verträgt keine spielerische Kreativität, Eindruck schindet, wer unnahbar und unverletzlich auftritt, Autorität wird suggeriert durch zweckrationale Selbstkontrolle.
Die Leopoldina, gegründet 1652 und damit die älteste dauerhaft existierende naturforschende Akademie der Welt, steht nicht im Verdacht des Utopismus. Ihr Ad-hoc-Statement zur Corona-Pandemie vom 13. April 2020 versteht das globale Ausmaß der Pandemie ausdrücklich als „Chance zum gegenseitigen Lernen, zur Überprüfung der eigenen Reaktionen und zum Erwerb eines neuen Verhaltensrepertoires“, für die Leopoldina vor allem mit Blick auf „zivilisatorische Herausforderungen […] des Klima- und Artenschutzes und der transnationalen Kooperation“. Genau so wichtig ist es jedoch, die weniger greifbaren Missstände im eigenen Land anzugehen: überholte Mythen des Alltags und darauf gegründete (politische) Programme anzupassen, Werteskalen zu überdenken und systemische und institutionelle Veränderungen zu ermöglichen, die einer nicht-effizienten gemeinschaftsorientierten Lebenspraxis Raum geben für die Entwicklung von „another kind of society [supplying] connection, participation, altruism, and purposefulness“ (Solnit). Das ist nur ohne Patentrezepte möglich; unabdingbar dagegen ist die Bereitschaft der Politik, den nicht ökonomisierbaren Bedürfnissen der Menschen absolute Priorität zu geben, und das heißt einen radikalen Wechsel der Blickrichtung: Gemeinschaftsrelevant sind weder Banken noch die Großindustrie, sondern Menschen, die für hilfs-, freude- und liebesbedürftige Menschen und nicht in die eigene Tasche arbeiten, in Kindergärten, Krankenhäusern, Altersheimen, Bildungseinrichtungen, Theater und Kunst. Das einzig relevante Zeichen der Wertschätzung für diese Gemeinschaftsarbeit unter den Bedingungen des Spätkapitalismus ist das ökonomische: bessere Bezahlung, bessere Personalausstattung, bessere Förderungsmöglichkeiten. Gemeinschaftsarbeit – professionelle und zivilgesellschaftliche – braucht Zeit und Ruhe. Entschleunigung als Teil der „neuen Normalität“ zu ermöglichen und zu fördern, hat langfristig weitreichende systemische, institutionelle und kulturelle Konsequenzen. Denn wie die Kulturwissenschaftlerin Corinna Carduff in Szenen des Todes ausführt, „Zeit haben“, „in der Zeit sein“ und die Zeit wieder zu erfahren, ist die Voraussetzung, um die Welt und die Menschen jenseits der Forderungen des Tages in den Blick zu bekommen, im Bewusstsein der reziproken Verbundenheit und Abhängigkeit und im Horizont der gemeinsamen Vergänglichkeit.
Der Hinweis auf Sachzwänge und Nichtfinanzierbarkeit als Gegenargument für eine solche Normalität kann nach den einschneidenden Veränderungen der letzten Wochen, die in Deutschland in international bewundertem Tempo bewerkstelligt wurden, nicht mehr überzeugen: Wo der politische Wille, da sind auch Möglichkeit und Geld.
Anna Margaretha Horatschek, geboren 1952 in Steinfeld, Altstipendiatin und ehemalige Vertrauensdozentin der Konrad-Adenauer-Stiftung, 2000 bis 2018 Inhaberin des Lehrstuhls für Englische Literaturwissenschaft an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel, seit 2016 Vizepräsidentin der Akademie der Wissenschaften in Hamburg.