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Zu den Unterschieden zwischen Stadt und Land

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Eine Welt, one world: Das ist nicht nur eine Kurzfassung von Globalisierung und internationaler Verantwortung, das drückt aus, dass sich Unterschiede immer mehr verwischen. Auch die zwischen Stadt und Land. Das alte Klischee vom aufgeschlossenen Städter und vom in alten Strukturen gefangenen Land-/Kleinstadtbewohner stimmt längst nicht mehr. Die allgemeine Teilhabe an umfassender Kommunikation, flächendeckende Onlinepräsenz und Vernetzung sowie große Mobilität führen zur Angleichung der Lebens- und Sichtweisen.

Und trotzdem: Großstädte ticken anders – nicht, weil die Bewohner per se aufgeschlossener oder aufgeklärter sind, sondern weil die tatsächlichen Bedingungen, die auch politische Meinungen und Handlungen prägen, anders sind. Warum?

Soziale Bindungen und damit Engagement in Vereinen und Verbänden sowie Prägung von Meinungen sind in großen Städten geringer. Das liegt an der hohen Fluktuation der Einwohnerschaft. Die Menschen kommen und gehen, zum Beispiel, um zu studieren, wegen eines Arbeitsplatzwechsels oder infolge der Veränderungen privater Verhältnisse. Pro Jahr rechnet man mit etwa 150.000 Zuund Wegzügen, das heißt, dass sich statistisch in acht bis zehn Jahren die Bevölkerung vollständig austauscht. Der Umzug innerhalb der Stadt von einem Viertel in ein anderes mit weiten Fahrtstrecken kommt hinzu. Für die politische Meinungsbildung bedeutet das, dass der Anteil der durch soziale Bindungen Geprägten – Mitglieder in Vereinen, Kirchen, Gewerkschaften, Verbänden, Kammern – erheblich geringer ist als der in Dörfern und Kleinstädten.

Das Zusammenleben vieler Menschen auf kleinem Raum beschleunigt gesellschaftliche Entwicklungen in Großstädten im Positiven wie im Negativen. Verarmung und Verelendung werden dort beispielsweise schneller sichtbar, tendenzielle Bindungslosigkeiten führen zur Notwendigkeit, Probleme selbst oder mit staatlicher Hilfe statt in der Familie oder im Bekanntenkreis zu lösen. Es bilden sich spontane, kurzfristige Zusammenschlüsse im gesellschaftlichen Engagement; weniger soziale Kontrolle führt zu unkonventioneller Kreativität, aber auch zu asozialem Verhalten; wirtschaftliche Impulse, aber auch Verwerfungen wirken schneller.

 

Konsequenzen für die Politik

Die Funktion der Großstadt als kultureller Mittelpunkt, Verkehrsknotenpunkt, Konsumzentrum oder als universitärer Standort führt neben der virtuellen Teilhabe an den Entwicklungen der Welt auch zur tatsächlichen Wahrnehmung dieser Entwicklungen. Was heißt das für die Politik?

Erstens: Politische Meinungen werden kurzfristig und volatil und nicht durch langfristige Bindungen geprägt. Tradition ist kein Wert an sich.

Zweitens: Von der Politik werden Problemlösungen oder konkrete Entwürfe und nicht weltanschauliche Stringenz erwartet. Der Politiker ist „Gesellschaftsmanager“ und nicht „Sonntagsredner“.

Drittens: Die Kommunikation zwischen Politik und Bürgern ist weniger direkt. Das Gespräch nach dem Gottesdienst, beim Vereinstag, beim Neujahrsempfang und Feuerwehrfest gibt es zwar noch, aber ohne eine große Auswirkung oder Bindungswirkung.

Viertens: Die persönliche Übereinstimmung zwischen dem Politiker und dem „Gefühl der Stadt“ ist wichtig, weil die Wahlentscheidung eher dadurch als durch die Überzeugung aufgrund tradierter Bindungen getroffen wird.

Fünftens: Die Aufgeschlossenheit gegenüber neuen gesellschaftlichen Entwicklungen spielt eine große Rolle, weil jeder diese Entwicklungen täglich vor Augen hat.

Wer diese Analyse teilt, wird verstehen, warum es für die Union in Großstädten nicht einfach ist.


Schnörkelige Sprache

Die CDU hat sich lange gesellschaftlichen Entwicklungen verschlossen, die in Großstädten schon „gar kein Thema“ mehr waren. Das beginnt bei der Rolle der berufstätigen Frau, der alleinerziehenden Mutter, der Kinderbetreuung und geht über die Akzeptanz der Einwanderung („Deutschland ist kein Einwanderungsland“) und gleichgeschlechtlicher Partnerschaften bis hin zur wachsenden Bedeutung des Autos in der innerstädtischen Mobilität. Wenn Politik Gesellschaftsmanagement bedeutet, muss der Politiker die Gesellschaft vielleicht nicht mögen, aber sie sehen, wie sie ist. Sonst ist er sich seiner Tradition vielleicht treu, erfüllt aber die gestellten Aufgaben nicht und wird nicht gewählt. Im Laufe der letzten Jahre hat sich in dieser Frage sehr viel getan, aber das Image ändert sich nur langsam.

Die Sprache der Politik, auch der Union, war und ist oft zu schnörkelig. Statt traurig ist man „betroffen“, statt „ein bisschen“ geht man „ein Stück weit“, statt Danke zu sagen, spricht man „herzliche Worte des Dankes“ aus. Statt „einwandern“ „zuwandern“, wer noch nichts erreicht hat, sieht sich aber „auf dem richtigen Weg“, die Zahl der Flüchtlinge soll „spürbar reduziert“ werden und so weiter. Das hat natürlich Tradition und auch eine ungewollte Komik, das Problem ist nur: Die Menschen merken instinktiv, dass durch pathetische Sprache die mangelnde Konkretisierung getarnt werden soll.

Die Entscheidung über die zur Wahl Stehenden war häufig zu intern oder zu exekutiv geprägt. Ein guter Behördenleiter muss nicht ein guter Bürgermeister sein (und umgekehrt) und: Stallgeruch ist im Stall angenehm, wird aber von außen anders empfunden. Daher ist es gut, dass zunehmend Parteiunabhängige ihre Chance erhalten.

 

Grundsätze nicht über Bord werfen

Die Gegenargumente sind bekannt: Man kann die Parteiprogramme nicht je nach Größe der Stadt splitten. Union ist eben Union. Für Bundestagswahlen gilt das. Aber im Kommunalen kann man durchaus differenzieren, ohne Grundsätze über Bord zu werfen. So wurden zum Beispiel mit Zustimmung der CDU und unter der CDU-Regierung in Hamburg Fixerstuben eingerichtet, wurde Heroin an Schwerstabhängige unter staatlicher Aufsicht vergeben, ein nachfragegesteuertes Gutscheinsystem für die Kita-Betreuung eingeführt, wurden Bauwagenplätze mit Verträgen legalisiert, eingetragene Partnerschaften im Beamtenrecht gleichgestellt, Quoten für die Ausbildung von Jugendlichen mit ausländischem Kulturhintergrund bei der Stadt und bei öffentlichen Unternehmen eingeführt, die städtischen Wohnungen (etwa 139.000) und die Wasserversorgung nicht privatisiert. Die Maßnahmen waren eher unionsuntypisch, zur Lösung gesellschaftlicher Probleme und Aufgaben aber notwendig und wurden letztlich vom Wähler honoriert.

Noch einmal: Die Grundsätze der Union, wie das christliche Menschenbild, Chancengleichheit statt Gleichmacherei, Wettbewerb und Leistung, Nächstenliebe, dürfen nicht zur Disposition gestellt werden; der Spielraum des konkreten Handelns ist innerhalb dieser Grundsätze aber groß.

Das alles gibt keine Garantie, in Großstädten erfolgreich zu sein, jeder hat seine eigenen Erfahrungen – vielleicht erhöht es aber die Chancen.


Ole von Beust, geboren 1955 in Hamburg, von 2001 bis 2010 Erster Bürgermeister der Freien und Hansestadt Hamburg, Mitgesellschafter der Ole von Beust Consulting GmbH & Co KG.