Schüler, die ihr Abitur mit der Traumnote 1,0 ablegen, gibt es einige. Abiturienten, die die Hochschulreife absolvieren und gleichzeitig eine Bachelor-Arbeit an der Universität einreichen, sind dagegen selten. Benjamin W. war so ein Schüler. Für den Gymnasiasten kam der reguläre Unterricht im Fach Physik einer Magerkost gleich, mit der er seinen Wissenshunger nicht stillen konnte. Die Lehrer erkannten Benjamins außergewöhnliche Begabung frühzeitig. So machte ihn die Begabtenförderungsbeauftragte an seiner Schule auf das Frühstudium einer nahe gelegenen Universität aufmerksam. Fortan tanzte Benjamin auf zwei Hochzeiten. An zwei Tagen in der Woche besuchte er Vorlesungen in Experimentalphysik. Die restlichen Tage drückte er die Schulbank an einem Gymnasium in der Nähe von Dresden. Benjamins Bildungswege – der schulische und universitäre – wurden in diesem Jahr mit Erfolg gekrönt.
Nicht auszudenken, was passiert wäre, wenn Benjamins besondere Fähigkeiten unerkannt und ihm zusätzliche Chancen für den Wissenserwerb verwehrt geblieben wären. Die Verkümmerung seines besonderen Talents wäre allein schon schlimm genug gewesen. Dauerhafte geistige Unterforderung führt bei besonders begabten Schülern häufig zu Langeweile, die früher oder später in Verhaltensauffälligkeiten und Störverhalten umschlagen kann. Schulverweigerung kann die Folge davon sein. Sicherlich wäre es vermessen, jede Form von Schulversagen für ein Anzeichen herausragender Intelligenz zu halten. Doch für leistungsstarke wie für leistungsschwache Schüler gilt gleichermaßen: Werden Stärken und Schwächen nicht erkannt, bleibt die Chancen- und Bildungsgerechtigkeit auf der Strecke!
Talentsuche – individuell zugeschnitten
Umso erstaunlicher ist es, dass die Kultusministerkonferenz (KMK) erst in diesem Jahr – noch dazu zum ersten Mal – eine Förderstrategie für leistungsstarke Schülerinnen und Schüler beschlossen hat. Bislang wurde der Blick auf die leistungsschwächeren Schüler gerichtet und das nicht ohne Erfolg, wie die neueren Bildungsstudien zeigen. Es war jedoch höchste Zeit, auch zu fragen, wie gute Schüler besser unterstützt werden können. Es wäre unfair, wenn das Bildungssystem die Potenziale der Talente nicht voll entwickeln würde, wenn Schule ungleiche Schüler gleich behandeln würde.
PISA-Studien haben gezeigt, dass es nur einen vergleichsweise geringen Anteil von Schülerinnen und Schülern auf den beiden oberen Kompetenzstufen gibt – sowohl im Bereich der Naturwissenschaften/Mathematik als auch in Deutsch und Englisch. Die Anzahl der Schüler, die es in die obersten Leistungsstufen schaffen, hat sich zudem nicht wesentlich verändert. Das unterstreicht die Notwendigkeit des Blicks auf begabte Schüler. Es ist nicht nur ein Gebot der Chancengerechtigkeit, sondern auch der wirtschaftlichen und wissenschaftlichen Notwendigkeit für den Standort Deutschland. Doch wie sollte die Talentpflege aussehen? Die Antwort lautet: So individuell Schüler sind und so mannigfaltig die örtlichen Rahmenbedingungen für die Schulen ausfallen, so vielfältig muss der Förderkatalog für leistungsstarke Schüler aufgebaut sein. Individualisierung von Lernprozessen bedeutet, für alle Schülerinnen und Schüler Lernbedingungen zu schaffen, die ihnen eine optimale Entfaltung ihrer Potenziale ermöglichen und ihnen die bestmögliche Bildung vermitteln, die ihrer individuellen Leistungsfähigkeit entspricht. Deshalb empfiehlt die KMK den Ländern mit ihrer Förderstrategie für leistungsstarke Schülerinnen und Schüler ein umfangreiches Maßnahmenpaket.
Die Zielgruppe der Förderstrategie umfasst Schülerinnen und Schüler, die bereits sehr gute Leistungen erbringen, ebenso wie Kinder, deren Potenziale es zu erkennen und durch gezielte Anregung und Förderung zu entfalten gilt. Entsprechend der Mehrdimensionalität des Leistungsbegriffes geht es neben der vorrangigen Förderung der allgemeinen intellektuellen Begabung auch darum, die musischen, sportlichen oder emotionalen Fähigkeiten besser zu entwickeln. Die begabungsgerechte Förderung muss die gesamte Lernbiografie eines Kindes umfassen. Die KMK-Förderstrategie bezieht sich auf den Primarbereich und die Sekundarbereiche und lenkt den Blick auch auf die schulischen Übergänge. Was beinhaltet die Förderstrategie konkret?
Elemente der Förderstrategie
Diagnostik
Wer leistungsfähige und leistungsstarke Schülerinnen und Schüler fördern möchte, muss in der Lage sein, ihre Potenziale zu erkennen. Dazu bedarf es in allen Phasen der Lehrerbildung erhöhter Anstrengungen, um Kenntnisse und Kompetenzen von Lehrkräften im Bereich der schulischen und außerschulischen Förderung von leistungsstarken und potenziell leistungsfähigen Schülerinnen und Schülern auszubauen. Wie bei Benjamin W. erweisen sich besonders geschulte Beratungslehrkräfte als hilfreich. Der lernbegleitende Diagnoseprozess kann bei Bedarf durch eine schulexterne Diagnostik ergänzt werden. So hat zum Beispiel der Freistaat Sachsen eine Beratungsstelle zur Begabtenförderung eingerichtet. Diese betreut neben Schulen vor allem Eltern, die bei einer vermuteten Hochbegabung ihrer Kinder Beratung und Unterstützung wünschen. Um Diagnoseverfahren für die schulische Entwicklung der Schüler wirksam werden zu lassen, ist die Dokumentation aller Ergebnisse in einem durchgängigen Entwicklungs- und Förderplan erforderlich. Dieses Instrument gewinnt insbesondere an den Schnittstellen der Schullaufbahn zunehmend an Bedeutung.
Enrichment
In Schulen bestehen zahlreiche Möglichkeiten, das Lernangebot für leistungsstarke Schüler zu erweitern (Enrichment). Dazu zählen Angebote wie Projektarbeit, spezielle Aufgabenformate oder Lernstofferweiterung. Ebenso bewähren sich Freiräume für selbstbestimmtes und eigenverantwortliches Lernen. Gerade das selbstständige und eigenverantwortliche Lernen erweist sich bei begabten Kindern und Jugendlichen als Erfolg versprechend. Herausragende Leistungen entstehen durch schöpferische Arbeit, für die es Raum, Zeit und Toleranz gegenüber Fehlern geben muss. Temporär gebildete Lerngruppen in klassen- oder jahrgangsübergreifender Form helfen begabten Schülern, ihre Lernpotenziale zu entfalten. Durch die Teilnahme an Schülerwettbewerben, Schüleraustauschprogrammen oder gar am Frühstudium, wie bei Benjamin W., können Kinder und Jugendliche ihre Kenntnisse vertiefen, zusätzliche Kompetenzen erwerben und wissenschaftliche Methoden anwenden.
Akzeleration
Schnelleres Bearbeiten des Lehrplans oder ein schnelleres Durchlaufen der Schullaufbahn, sprich die Akzeleration, gilt als eine der am besten wissenschaftlich erforschten Fördermaßnahmen für besonders begabte und motivierte Schüler. Auch hier sind verschiedene Fördermaßnahmen, wie das Überspringen einer Klassenstufe, flexible Schuleingangsstufen oder altersgemischte Klassen, denkbar. Als erfolgreich erweist sich auch die zeitweilige Teilnahme am Unterricht höherer Klassenstufen, das sogenannte Drehtür-Modell.
Gruppierung (äußere Differenzierung)
Eine besondere Form der äußeren Differenzierung ist die Bildung von Spezialklassen oder der Besuch von Spezialschulen. Ziel solcher Klassen oder Schulen ist es, die kognitive und emotionale Entwicklung besonders begabter Schüler ganzheitlich zu fördern, sodass sich ihre Kreativität entfaltet, ihr besonderes Leistungsprofil herausbildet und sie zu sozialer Verantwortung erzogen werden.
Integrierte Fördermaßnahmen (innere Differenzierung)
Die meisten leistungsstarken Kinder und Jugendlichen besuchen reguläre Schulen und ihrem Alter entsprechende Klassen. Das Prinzip der inneren Differenzierung setzt darauf, diesen Schülern besondere Lernangebote und ein besonderes Lernumfeld zu schaffen. All das kann neben besonderen Aufgabenformen auch offene Unterrichtsformen wie Freiarbeit, Wochenplanarbeit oder Werkstatt- und Stationenlernen umfassen.
Stärkung von Bildungspartnerschaften
Die für eine optimale Förderung notwendige Professionalität kann eine Schule oftmals nicht allein realisieren. So spielt die Familie für die Persönlichkeitsentwicklung von Kindern eine zentrale Rolle. Kinder benötigen vor allem im Elternhaus schon frühzeitig Anregungen und Gelegenheiten, sich Fähigkeiten anzueignen und diese zu zeigen. Darüber hinaus ist Begabtenförderung besonders erfolgreich, wenn verschiedene Personen und Einrichtungen mit unterschiedlichen Kompetenzen an der Förderung mitwirken. Dabei kommt dem Aufbau von Schulnetzwerken und regionalen Bildungsnetzwerken besondere Bedeutung zu. In Sachsen haben wir zum Beispiel ein Netzwerk mit 32 Grundschulen und ein Netzwerk mit 21 Gymnasien. Sie entwickeln Möglichkeiten der integrativen Begabtenförderung und erproben sie.
Qualitative Weiterentwicklung der Lehrerbildung
Begabte Schülerinnen und Schüler zu fördern, setzt seitens der Unterrichtenden entsprechende Kompetenzen voraus. Die Lehrerbildung muss sich an den spezifischen Bedürfnissen der unterschiedlichen Schülergruppen orientieren. Bereits im Studium müssen angehende Lehrkräfte auf den Umgang mit einer zunehmend heterogenen Schülerschaft vorbereitet werden.
Ungeachtet der vielfältigen Strategien, leistungsstarke Schülerinnen und Schüler zu fordern und zu fördern, steht und fällt der Erfolg mit den Lehrerinnen und Lehrern. Ohne ihre planerische, pädagogische und methodische Professionalität sowie ihre Bereitschaft, sich über den normalen Schulalltag hinaus ihren Schülern/Schülerinnen zu widmen, werden die empfohlenen Instrumente keinen Erfolg haben. Pädagogen, die für ihre Schüler brennen, können auch viel Gutes entfachen. Bei Benjamin W. ist viel entfacht worden. Gesellschaft und Wirtschaft können dankbar dafür sein, dass es solche Lehrerinnen und Lehrer gibt.
Brunhild Kurth, geboren 1954 in Burgstädt, Sächsische Staatsministerin für Kultus, seit dem 1. Januar 2015 Präsidentin der Kultusministerkonferenz (KMK).