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Zur Notwendigkeit institutioneller Autorität in Erziehung und Bildung

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In Anbetracht aktueller Entwicklungen, wie der oftmals ausgeübten Gewalt gegen Lehrkräfte, des Nichterreichens von Mindestleistungen in den Kulturtechniken Lesen und Rechnen sowie des massiven Anstiegs von Eingliederungshilfen für Minderjährige, kann niemand bestreiten, dass im deutschen Bildungswesen einiges im Argen liegt. Bereits 2004 sollten die sogenannten Bildungspläne der Bundesländer als Reaktion auf das schlechte Abschneiden deutscher Kinder in diversen Studien, wie PISA und IGLU (Internationale Grundschul-Lese-Untersuchung), klare Orientierungen geben, wie frühkindliche Bildung neugestaltet werden könne. Aus den unterschiedlichen Bildungsplänen lassen sich zwei Theorierichtungen herausdestillieren, die ein gemeinsames Fundament darstellen – so erstens, dass Bedürfnisse bei Kindern nach Bindung vorhanden sind, um befriedigt zu werden, und zweitens, dass die (gesellschaftliche) Realität eine (Ko-)Konstruktion ist.

Die erste Theorie wird wesentlich durch die Bindungstheorie repräsentiert. Sie geht davon aus, dass Kinder mit der angeborenen Disposition zur Welt kommen, emotionale Bindungen einzugehen. Möchte man Kinder erziehen, die ihr Umfeld aufmerksam erkunden und damit Lernerfahrungen sammeln, ist es nach dieser Theorie wichtig, die Bindungssignale des Kindes angemessen, zuverlässig und prompt zu beantworten. Die Bindungsperson beziehungsweise das Umfeld werden so zu einem dauerhaften Interpretanten und Dienstleister der kindlichen Bedürfnisse.

Die zweite Theorie, der Ansatz der Ko-Konstruktion, nimmt an, dass das Verstehen der Welt mit und durch andere geschieht. Eine verbindliche Wirklichkeit an sich gibt es nach diesem Ansatz nicht, sodass Wissen letztlich relativ ist und eine bloße soziale Vereinbarung von Interpretationen darstellt.

 

Scham anstelle von Schuld

 

Die beiden Theorien eint offensichtlich eine wesentliche Tendenz – die fast monomanische Orientierung am Subjekt und seinen Interaktionen. In der konkreten Praxisumsetzung verlangt dies, mit den Kindern ausschließlich auf Augenhöhe zu kommunizieren und ein „Von-oben-herab“ zu vermeiden. Daher wird zwingend auf den Wissensvorsprung Erwachsener verzichtet, und den Kindern werden nur mehr Rechte ohne korrespondierende Verpflichtungen vermittelt.

Für die moralische Bildung bedeutet ein solcher Verzicht auf allgemein orientierungsgebende Maßstäbe, dass an die Stelle von Schuld, die sich durch das Übertreten allgemein akzeptierter Normen einstellt, Scham tritt. Bei dieser bestimmt die Angst vor Ächtung durch die dominanteste Interpretationsgemeinschaft das Handeln und nicht ein verinnerlichter, allgemeiner Wertekanon. Es sollte hellhörig machen, wenn aktuelle Erziehungsleitlinien genau das widerspiegeln, woran die Gesellschaft krankt. Deutungen der Welt durch Meinungsverbünde werden zum leitenden Maßstab gemacht, was dazu führt, dass die aggressive Durchsetzung des Subjektiven zu einer leidvollen Norm geworden ist. Wird hier nicht der ideologische Bock zum Gärtner gemacht?

Um es auf den Punkt zu bringen: Die einseitige Subjektorientierung in Erziehung und Bildung offenbart eine chronische Vermeidung von (eigener) Autorität, die sich nicht zuletzt in der Vernachlässigung orientierungsgebender Themen wie Regeln, Vorbildern und Macht zeigt.

Für diesen problematisierenden Umgang mit Autorität im sozialwissenschaftlichen Feld insgesamt kann schon die Diskussion Arnold Gehlens mit Theodor W. Adorno im Südwestfunk aus dem Jahr 1965 als maßgeblich erachtet werden. Entscheidend ist in dieser der Begriff der Institution. Institutionen können grob verstanden werden als etablierte und anerkannte soziale Regeln, Normen und Statuspositionen, die durch Personen oder Organisationen realisiert werden. Gehlen betonte die stabilisierende Funktion von Institutionen für das Mängelwesen Mensch. Ohne Orientierung an Institutionen und deren Autorität könne das instinktlose Individuum kaum seine Lebensprobleme lösen. Deshalb müssten Institutionen auch in ihrem Grundwirken frei von Widerspruch bleiben. Adorno hingegen bestand auf der dauerhaften Kritik an Institutionen, gerade weil sie einen unterdrückenden Charakter hätten. Mündigkeit wurde von ihm als Loslösung von der Bedürftigkeit der Institutionen gedeutet. Über diesen polarisierenden Diskurs im Hinblick auf Institutionen sind die Sozialwissenschaften bis heute nicht hinausgekommen.

 

X gilt als Y in Z

 

Wie könnte aber nun ein balanciertes Verständnis und ein zielführender Umgang mit Institutionen und ihrem Autoritätsgehalt in der Erziehung und Bildung aussehen? Die Bedingung der Möglichkeit einer Institutionenbildung überhaupt ist uns allen durch unser Sprachvermögen gegeben. Wie der Philosoph John Searle herausgearbeitet hat (Searle 2017), erzeugen wir neue soziale Tatsachen durch eine besondere Form des sprachlichen Handelns. Mit bestimmten Wörtern, wie zum Beispiel „ernennen“, „taufen“, „befördern“ und so weiter, die Deklarativa – Sprechakte, die sich in einem stark etablierten und institutionalisierten Rahmen bewegen – genannt werden, beziehen wir uns sprachlich nicht auf eine gegebene Realität, sondern erzeugen objektiv eine neue soziale Gegebenheit mit realen Wirkungen. Wenn Thomas, acht Jahre, zum heutigen Kinderratsmoderator ernannt wird, dann muss er verstehen, dass er (X) jetzt als Kinderratsmoderator (Y) im Kinderrat gilt (Z). Thomas muss also ein Symbolverständnis besitzen (X gilt als Y; etwas gilt als etwas anderes) und Fiktion von Nicht-Fiktion – was der Fall ist, von dem, was der Fall sein könnte – unterscheiden (in Z; in jedem möglichen Kontext). Searle spricht technisch davon, dass allen Deklarativa (konstitutive) Regeln zugrunde liegen, die die Formel X gilt als Y in Z haben.

Bereits Kinder unter sechs Jahren üben solche Regeln ein, wenn sie in Fiktionsspielen den Konjunktiv II als Vorläuferform gebrauchen („Du [X] wärst jetzt [Z; in diesem Spiel] die Mama [Y]“) und Möglichkeitsszenarien mit unterschiedlichen Rollen auf einer Form von Miniaturbühne simulieren (vgl. Dümig 2021). Im Alter von sechs Jahren verwenden Kinder dann im Alltag Deklarativa und spielen Fiktionsspiele, ohne eine eigene sprachliche Markierung vornehmen zu müssen. Das heißt, durch ihre Vorübungen können sie nun konkrete Einzelpersonen eindeutig von zugewiesenen Rollen unterscheiden und somit auch objektive Funktionen, wie Lehrer oder Erzieher, von den sie tragenden Privatpersonen trennen. Im zweiten Schritt führt diese Unterscheidungsfähigkeit zur Akzeptanz der Werte, die durch diese (an-)erkannten Funktionen angetragen werden.

Zwei Dinge sind also vonnöten: erstens eine hinreichend ausgeformte Syntax, sodass Konjunktivkonstruktionen für Fiktionsspiele verwendet werden können. Auch hier deutet der massive Anstieg an Sprachbeeinträchtigungen darauf hin, dass Sprachförderung als Grundbaustein des Institutionenverständnisses anders und mehr als bisher fokussiert werden muss.

Zweitens muss eine genuine Förderung des Institutionenverständnisses stattfinden. Ziel derselben sollte Sprechhandlungsbewusstheit sein. Diese beinhaltet das Vermögen, die Doppelnatur von Deklarativa bewusst einzusehen: Einerseits sind soziale Tatsachen von uns selbst sprachlich erzeugt und sind deshalb, im Sinne Adornos, auch veränderbar – andererseits sind sprachliche Festlegungen orientierungsgebende Verbindlichkeiten, die nicht willkürlich von Einzelnen aufgehoben werden können, so wie es Gehlen betonte.

In der praktischen Bildungsarbeit bedeutet dies, die Orientierungsgebung und Würde, die auctoritas, einer institutionellen Funktion nicht in Formen intersubjektiver Partnerschaftlichkeit aufzulösen. Das Kind muss an den konkreten Fachkräften lernen, dass sie beides sind – wichtige Bindungspersonen, aber auch Bildungsverantwortliche für alle und deshalb institutionelle Machtinhaber. Nur so, und dies kann man gar nicht oft genug wiederholen, können sie überhaupt einen geeigneten Rahmen schaffen, in dem Bildungsprozesse stattfinden können.

 

Subjektivität und institutionelle Autorität

 

Kindern sollten institutionelle Funktionen und Regeln zudem sichtbar gemacht werden. Dies gelingt nur dadurch, dass sie selbst häufig Regeln erzeugen und Rollen annehmen dürfen (Selbsterprobung), diese anerkannt werden und mit Befugnissen einhergehen (Sichtbarkeit von Effekten) und sie für das jeweilige Alter überschaubar sind (zeitliche Begrenzung). Projektarbeit, in der Theorie zwar seit Langem vorhanden, in der Praxis allerdings kaum durchgeführt, ist hierfür maximal zielführend.

Zu guter Letzt muss das objektive Argument im Kontrast zur Meinung rehabilitiert werden. Pädagogische Fachkräfte sollten das Vermögen besitzen, Regeln altersangemessen begründen zu können. Wenn Macht die Fähigkeit ist, jemanden dazu zu bringen, eigenen Wünschen und Neigungen zuwiderzuhandeln, dann sollte dies durch Argumente und nicht durch Zwang geschehen. Auch jüngere Kinder sind dem rationalen Austausch von Argumenten zugänglich. Diese aufkeimende Vernunft altersspezifisch zu fördern, sollte in pädagogischen Curricula endlich das vornehmste Ziel werden.

Es gilt also, gänzlich neue Wege einzuschlagen, damit Kinder lernen können, dass Gemeinschaft nur im Zusammenspiel von Subjektivität und institutioneller Autorität gelingt. Dies betonte bereits Wilhelm von Humboldt am 1. Juni 1792 in seinem Brief an den Naturforscher Georg Forster: „Denn der isolierte Mensch vermag sich ebensowenig zu bilden, als der in seiner Freiheit gewaltsam gehemmte.“

 

Sascha Dümig, geboren 1977 in Offenbach am Main, staatlich anerkannter Erzieher, promovierter Germanist und Dozent an den Ludwig Fresenius Schulen, Frankfurt am Main.

 

 

 

Literatur

 

Dümig, Sascha: „Meine, deine, unsere Kita. Deklarative Sprechakte, Projektmethode und der Erwerb von Institutionenverständnis“, in: Textor, Martin R. / Bostelmann, Antje (Hrsg.): Das Kita-Handbuch, 2021, ausschließlich online erschienen, 2021, www.kindergartenpaedagogik.de/fachartikel/ bildungsbereiche-erziehungsfelder/sprache-fremdsprachen-literacy-kommunikation/meine-deine-

unsere-kita-deklarative-sprechakte-projektmethodeund-der-erwerb-von-institutionenverstaendnis/#_ blank [letzter Zugriff: 08.05.2023].

Searle, John: Wie wir die soziale Welt machen. Die Struktur der menschlichen Zivilisation, Suhrkamp Verlag, Berlin 2017.

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