Was ist der Unterschied zwischen dem sogenannten alten Mediensystem, das von wenigen großen Medienorganisationen wie Fernsehsendern oder Verlagshäusern dominiert wurde, und dem neuen? Diese Frage wurde bereits oftmals diskutiert.
Dabei wurde allerdings ein Aspekt bislang nur selten berücksichtigt: Die Mitteilungen, die auf Social-Media-Plattformen zirkulieren, benötigen die Hilfe vieler Einzelner. Ein wichtiger Treiber für Popularisierung unter den Bedingungen digitaler Plattformen ist deshalb, dass Mitteilungen sichtbar machen, wie sehr sie diese Hilfe der vielen benötigen.
Die bislang validesten Antworten auf die Frage nach dem Wandel der Öffentlichkeit betreffen die Art und Weise, in der Information unter den Bedingungen des Internets anders fließt. Die bisherigen Gatekeeper in den Redaktionen der Medienorganisationen etwa hätten erstens nicht mehr den Einfluss, den sie früher hatten. Zwar könnten sie ihre Tore weiterhin öffnen, und das durchaus mit weitreichenden Folgen. Sie hätten aber ihre Exklusionsmacht verloren. So versuchten jüngst auch Whitney Phillips und Ryan Milner in ihrem Buch You Are Here1 die Konjunktur sogenannter Verschwörungstheorien wie die um QAnon unter anderem dadurch zu erklären, dass Erzählungen der Satanic Panic in den frühen 1980er-Jahren, als sich in den USA unbegründete Verschwörungstheorien über satanische Sekten verbreiteten,2 noch in vom Mainstream abgetrennten Kanälen geflossen seien, während sie heute unkontrolliert Plattformen wie YouTube mit „toxischen“ Inhalten überfluten.
Zweitens wird oftmals Algorithmisierung als neue Form des Gatekeeping genannt. Hier bestehe der Wandel nicht in einem entgrenzten Fließen von Kommunikation, sondern in deren neuartiger Steuerung. Und drittens wird eine folgenreiche Änderung der Größenverhältnisse diagnostiziert. Das Internet und seine Plattformen hätten stets skalenfreie Netze ausgebildet, also Netze, zwischen deren Knoten es gleichsam unbegrenzt viele Verknüpfungen geben könne. Deshalb entstünden Power Law-Distributions3, extrem ungleich verteilte Häufigkeiten. Deren Ergebnis sei eine Tendenz zum Quasi-Monopol: Immer weniger Akteure fällen immer weitreichendere Konsequenzen für den globalen Informationsfluss, während sich gleichzeitig ein „Long Tail“ der extrem vielen kleinen Akteure mit begrenzter Reichweite bildet.
Die Diagnose dieser drei Transformatoren der Gegenwart scheint mir plausibel. Dennoch ist damit bei Weitem nicht alles über den mediengeschichtlichen Wandel der Gegenwart gesagt. Während der Feldforschung für mein Buch Die soziale Logik des Likes, eine Ethnographie über eine Gruppe deutschsprachiger Twitter-User von 2011 bis 2015, fiel mir einerseits eine Spezifik plattformisierter öffentlicher Kommunikation auf. Es gab eine ganze Menge von Mitteilungen, etwa Tweets prominenter Politikerinnen und Politiker oder von Medienorganisationen, die es ohne Weiteres durch die Schleusen der Redaktionen schaffen würden oder eben schon geschafft haben, die aber auf Twitter erstaunlich selten geteilt wurden.
#Yasmin auf Rang eins
Daran hat sich bis heute wenig geändert. Um nur ein paar Beispiele zu nennen: Unter den aktuell (13. Januar 2022, 13.30 Uhr) zehn jüngsten Tweets von @FAZ_ NET, dem ressortübergreifenden Account der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ), sind acht Tweets null Mal retweetet, null Mal gelikt und null Mal kommentiert worden. Lediglich ein Tweet sticht mit sieben Retweets, neun Likes und null Kommentaren heraus – immer noch bemerkenswert niedrige Werte dafür, dass der Account fast 70.000 Follower hat.
Andererseits ließen sich während meiner Feldforschung sehr viele sehr häufig geteilte Tweets beobachten, deren Inhalte gerade nicht – oder noch nicht – in den Publikationen solcher Medienorganisationen auftauchen. Bewegungen wie #Aufschrei oder #MeToo entwickelten auf diesem Wege eine enorme Kraft, auf die die Redaktionen reagieren mussten. Auch hierfür lassen sich vergleichbare Beispiele nennen, etwa zum Zeitpunkt der Niederschrift des vorliegenden Textes ein Tweet der Heinrich-Heine-Realschule Hagen,4 der einen Artikel in der Westfalenpost verlinkt: „Unsere Schülerin Yasmin ist ein sehr reflektierter junger Mensch und möchte auf Missstände rund um die schulischen Corona-Maßnahmen hinweisen. Das Jugendamt der Stadt @Hagen_Westfalen5 möchte das verhindern und spricht von Inobhutnahme. #twlz “.6 In den deutschsprachigen Twitter-Trends rangiert deshalb #Yasmin zur Stunde auf Rang 1; der zitierte Tweet hat mehr als 2.000 Retweets, 5.500 Likes und 600 Kommentare.
Es kommt auf die Hilfe Einzelner an
Der Unterschied zwischen all den ungelikten und ungeteilten FAZ-Artikeln und der massiven Reichweite des Posts der Heinrich-Heine-Realschule ist, dass Letztere ein Thema aufgreift, das der Hilfe gegenüber einer Institution bedarf: dem Jugendamt Hagen, das offenbar eine Schülerin an ihrem Protest gegen die nach ihrer Sicht zu lockeren Corona-Maßnahmen hindern möchte. Die FAZ-Artikel hingegen brauchen niemandes Hilfe, denn sie stehen bereits in der Zeitung.
Viele Mitteilungen werden mit anderen Worten insbesondere auch deshalb online populär, weil vielen Usern unmittelbar klar wird, dass sich niemand ausreichend um sie kümmern wird, wenn sie es nicht selbst tun. Die so häufig geteilten Tweets kommunizieren – und das in der Regel, ohne es explizit zu erwähnen –, dass es auf die Hilfe der Einzelnen ankommt, oder mit anderen Worten: dass es sich um hilfsbedürftige Mitteilungen handelt.
Dieses Prinzip der hilfsbedürftigen Mitteilung ist nicht grundsätzlich neu. Der Dokumentarfilm, der ein vergessenes Thema erforscht, die Zeitung, die eine unterrepräsentierte politische Strömung abbildet – es lassen sich leicht historische Vorläufer finden. Allerdings ist das In-Dienst-Stellen der eigenen kommunikativen Macht durch die Plattformen zu einem Alltagsphänomen der vielen geworden.
Die allen Social-Media-Plattformen eingeschriebene Aufforderung des Teilens impliziert die – oftmals moralische – Entscheidung, sich einer Sache anzunehmen oder es zu lassen. In aller Regel entscheidet man sich für Letzteres. Man kann gar nicht anders, als die Macht der eigenen Follower- oder Abonnentenzahl nur sehr selektiv einzusetzen; allein schon deshalb, weil jene, die zu sorglos kuratieren, ihren Followercount schnell wieder verkleinert oder unwirksam gemacht haben.
Singularität und Gemeinschaftlichkeit
Diese Plattformen bilden deshalb nicht bloß eine Ökonomie der eigenen Beachtung aus. Die Münze, die in dieser Ökonomie gewissermaßen gegeben und empfangen wird, ist immer auch die Beachtung Dritter (zum Beispiel die der eigenen Follower, in deren Timelines man retweetet) für eine Sache, die es wert ist. Die Anlässe für dieses Urteil können vielfältig sein – auch Kuriositäten oder Humoristisches können als beachtenswert gelten. Die Hilfsbedürftigkeit einer Mitteilung darf allerdings als einer der häufigeren Gründe für die Gabe der eigenen Beachtungsmacht gelten.
Doch was macht eine Mitteilung hilfsbedürftig? Digitale Kulturen funktionieren, wie etwa Felix Stalder beobachtet,7 auf Grundlage des Ideals der gleichzeitigen Konstitution von „Singularität und Gemeinschaftlichkeit“. Das heißt, es gibt einen sanften Zwang für eigene Bewertungspraktiken, also solche, die sich von etablierten unterscheiden. Wird die Eigenheit zur Maxime, folgt eine Vielzahl oft gegensätzlicher Bewertungen der scheinbar gleichen Information. Die Alltagspraxis der Plattformen zeichnet sich deshalb gerade dadurch aus, nicht bloß eindeutige Informationsflüsse zu empfangen, sondern sie aktiv und oft konträr zu bewerten, um Singularität und Gemeinschaftlichkeit zu konstituieren.
Aberwitzig konträre Bewertungsgemeinschaften
Auch deshalb bilden sich auf Social-Media-Plattformen sehr diverse Bewertungsgemeinschaften. In politisch extremen Kreisen kann eine Mitteilung etwa deshalb als hilfsbedürftig gelten, weil die „Mainstream-Medien“ sie „totzuschweigen“ scheinen. Den Eindruck der Hilfsbedürftigkeit erhalten Mitteilungen deshalb mitunter gerade dadurch, dass Redaktionen sie aus guten Gründen ausschließen.
„Alte“ und „neue“ Medien entwickeln so teils ein paradoxes Verhältnis zueinander: Nicht obwohl, sondern weil etwas so abwegig ist, dass sich Redaktionen gegen eine Thematisierung entscheiden, entsteht der Eindruck, jemand müsse sich der Sache annehmen, weil es sonst offenbar niemand tut. Denn gerade das macht diese Mitteilungen hilfsbedürftig – dass sich beobachten lässt, dass andere diese Hilfe unterlassen.
Dass auf den Plattformen eine Vielzahl divergierender, oft aberwitzig konträrer Bewertungsgemeinschaften entsteht, lässt sich freilich weder nur auf eine Konjunktur von Singularitäten noch auf die Ökonomie der Beachtungsgabe reduzieren. Beide Faktoren treiben diesen Prozess allerdings derart stark an, dass die Negation etablierter Deutung selbst zum Popularisierungsprinzip wird. Selbst die leicht falsifizierbaren Verschwörungserzählungen der Satanic Panic werden so auf eine Weise aus den Tiefen der 1980er-Jahre wieder hochgespült, die demokratische Systeme vor grundlegende Probleme stellen kann, wie etwa die Stürmung des Kapitols am 6. Januar 2021 demonstriert hat.
Es ist aber durchaus ein Unterschied, ob man dies als eine Folge der Öffnung von Schleusen eines mit toxischen Substanzen gefüllten Reservoirs betrachtet oder als einen paradoxalen Effekt gegenwärtiger Mediensysteme. Denn der Eindruck der Hilfsbedürftigkeit ist auch Ergebnis eines kollektiven Lernprozesses, der sich wandeln lässt und möglicherweise bereits im Wandel begriffen ist.
Die Bewertungsgemeinschaften der frühen 2020er-Jahre mögen sich noch in großen Teilen in Opposition zu einem „alten“ Mediensystem konstituieren. Hilfe kann jedoch gegenüber allen möglichen Akteurinnen und Akteuren notwendig erscheinen. Im Fall der bereits erwähnten Hagener Realschülerin gab es etwa unterstützende Beiträge vom Westdeutschen Rundfunk und der Westfalenpost; das Unverständnis der Twitter-User richtete sich gegen das Jugendamt, nachdem die Westfalenpost darüber berichtet hatte. Wo die Oppositionslinien heute und in Zukunft verlaufen, ist insofern nicht festgelegt – wohl aber, dass Userinnen und User der Social Media sich weiterhin zu der Frage stellen müssen, welchen Mitteilungen sie ihre Hilfe zuteilwerden lassen.
Johannes Paßmann, geboren 1984 in Düren, Junior-Professor für Geschichte und Theorie sozialer Medien und Plattformen, Institut für Medienwissenschaft, Ruhr-Universität Bochum.
1 Whitney Philipps / Ryan M. Milner: You Are Here. A Field Guide for Navigating Polarized Speech, Conspiracy Theories, and Our Polluted Media Landscape, MIT Press, Cambridge/Massachusetts 2022.
2 Siehe auch Alan Yuhas: „It’s Time to Revisit the Satanic Panic“, in: New York Times, 31.03.2021, www.nytimes.com/2021/03/31/us/satanic-panic. html [letzter Zugriff: 18.01.2022].
3 Clay Shirky: „Power Laws, Weblogs and Inequality“, in: Extreme Democracy, 10.08.2004, S. 46–52, https://extremedemocracy.com/chapters/ Chapter%20Three-Shirky.pdf [letzter Zugriff: 18.01.2022].
4 Siehe Heinrich-Heine-Realschule (@heinereal), https://twitter.com/heinereal/status/1481353860 149088259?s=20 [letzter Zugriff: 18.01.2022].
5 Siehe Twitter-Account der Stadt Hagen, https:// twitter.com/Hagen_Westfalen [letzter Zugriff: 18.01.2022].
6 Siehe Twitter-Account Netzlehrer, https://twitter. com/hashtag/twlz?src=hashtag_click [letzter Zugriff: 18.01.2022].
7 Felix Stalder: Kultur der Digitalität, Suhrkamp Verlag, Berlin 2016 (Ersterscheinung).