Soll man sich für das Zypern-Problem interessieren? Lohnt das überhaupt? Diese Fragen mögen zynisch klingen, doch viele erfahrene Beobachter des politischen Geschehens auf der vor den Küsten Syriens und der Türkei gelegenen drittgrößten Insel des Mittelmeeres haben die Hoffnung aufgegeben, dass sich die Teilung des südöstlichsten Mitglieds der Europäischen Union (EU) je werde überwinden lassen. Mehr noch: Sie haben das Interesse an dem Prozess verloren. Seit Jahrzehnten hat es immer wieder Verhandlungen über eine Wiedervereinigung gegeben, doch alle sind gleichermaßen gescheitert. Am deutlichsten wurde dieses Scheitern bei dem Referendum über den sogenannten Annan-Plan im April 2004. Dieser nach dem damaligen UN-Generalsekretär benannte Plan sollte die seit 1974 bestehende Teilung der Insel überwinden. Im Sommer 1974 besetzten türkische Truppen den Norden Zyperns, um den drohenden Anschluss des Inselstaates an Griechenland zu verhindern und die türkischen Zyprer vor Übergriffen zu schützen. Stattdessen wurden nun Griechen aus dem Inselnorden vertrieben, sie verloren Haus und Hof, einige sogar ihr Leben. Andererseits flohen auch fast alle Türken aus dem griechischen Teil der Insel. So kam ein Drittel Zyperns unter Kontrolle des türkischen Militärs. Der Annan-Plan sah den nahezu vollständigen Abzug der türkischen Besatzungstruppen vor, die zu Zehntausenden im Norden der Insel stationiert waren und immer noch sind. Sogar die türkische Regierung unterstützte den Plan, weil der seinerzeit noch an Europa orientierte damalige türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdoğan sich von einem wiedervereinigten Zypern einen Schub für die eigenen Beitrittsambitionen zur EU erhoffte. Dazu musste aber die bizarre Konstellation überwunden werden, dass ein Drittel eines EU-Staates von der Armee eines EU-Beitrittskandidaten besetzt gehalten wird.
Der Annan-Plan scheitert
Doch geändert hat sich damals nichts: Zwar stimmten die türkischen Zyprer im Norden der Insel 2004 zu 65 Prozent für ein Ende der Teilung, im griechischen Süden aber sprachen sich 76 Prozent der Abstimmenden dagegen aus. Die griechischen Zyprer wussten zum Zeitpunkt des Referendums nämlich bereits, dass sie wenige Tage später – am 1. Mai 2004 – ohnehin in die EU aufgenommen werden würden. Das hatte ihnen Griechenland Jahre zuvor mit der an die EU gerichteten Drohung zugesichert, sollte Zypern nicht Teil der großen Erweiterungsrunde 2004 sein, werde man die gesamte Ost-Erweiterung blockieren. Hinzu kam, dass der Annan-Plan der griechischen Bevölkerungsmehrheit einige deutliche Zugeständnisse abverlangt hätte, so eine Einschränkung der Niederlassungsfreiheit sowie einen partiellen Verzicht auf Restitutionsansprüche. Die Befürworter des Plans wurden nicht müde, zu betonen, dass Wiedervereinigungen eben ihren Preis haben und Kompromisse erfordern, doch sie fanden bei einer Mehrheit der griechischen Zyprer kein Gehör. Das Scheitern des Annan-Plans war eine Zäsur. In der Folge erlahmte das Interesse der Staatengemeinschaft an der Insel deutlich – aus zum Teil durchaus verständlichen Gründen. Denn wenn die (griechischen) Zyprer nicht bereit sind, für eine Wiedervereinigung nennenswerte Kompromisse in Kauf zu nehmen, warum sollten sich dann Ausländer dafür interessieren?
Seit einigen Monaten ist nun jedoch ein Optimismus in der Zypern-Frage zu beobachten, wie man ihn seit 2004 nicht mehr erlebt hat. Nicht wenige Zyprer halten eine mögliche Wiedervereinigung sogar für wahrscheinlicher denn je. Das hat vor allem mit einer günstigen personellen Konstellation zu tun: Erstmals sind auf beiden Seiten der Insel Politiker an der Macht, die unbedingt eine Lösung wollen. Eine so günstige Sachlage gab es noch nie, weil bislang entweder der griechische oder der türkische Teil der Insel von einem Hardliner geführt wurde – und manchmal waren im Süden wie im Norden Falken an der Macht. So hatte in der völkerrechtlich nur von der Türkei anerkannten sogenannten „Türkischen Republik Nordzypern“ von 1985 an zwei Jahrzehnte lang der Vereinigungsgegner Rauf Denktasch das Sagen. Jahrelang hatte der versöhnlich und kompromissbereit auftretende Inselpräsident Glafkos Klerides vergeblich mit Denktasch verhandelt. Als dann 2004 endlich doch das Referendum stattfand, hatte Klerides jedoch sein Präsidentenamt an Tassos Papadopoulos verloren, der eine Vereinigung allenfalls zum Nulltarif wollte und bei den Griechen mit der Unterschlagung von Fakten und propagandistischen Verzerrungen erfolgreich für eine Ablehnung des Annan-Plans warb.
Ideale Partner Anastasiadis und Akıncı
Doch die Umstände sind nun andere. Präsident Zyperns ist seit 2013 Nikos Anastasiades, ein Pragmatiker, der 2004 einer der wenigen maßgeblichen Politiker der griechischen Zyprer war, die für den Annan-Plan warben. Seit etwa einem Jahr hat Anastasiadis im türkischen Teil der Insel einen idealen Partner. Im April 2015 gewann Mustafa Akıncı die Präsidentenwahl im Norden. Akıncı war von 1976 bis 1990 Bürgermeister des türkischen Teils der geteilten Stadt Nikosia gewesen und gilt wie Anastasiadis als ein pragmatischer Befürworter einer Wiedervereinigung. Anastasiadis begrüßte die Wahl Akıncıs enthusiastisch: „Endlich haben wir große Hoffnungen, dass dieses Land wiedervereinigt werden kann.“ Das Duo Anastasiadis-Akıncı begann auch gleich im Mai 2015 mit einem Prozess intensiver Verhandlungen. Ein halbes Jahr später las sich die Bilanz eindrucksvoll: Anastasiadis und Akıncı hatten zehn formale Treffen abgehalten, ihre Unterhändler trafen sich fünfzig Mal und die technischen Komitees zur Erörterung von Sachfragen sogar fast neunzig Mal.
„Ein grundsätzlicher Optimismus kann in den Aussagen der beiden Führungen und der Repräsentanten der Vereinten Nationen beobachtet werden“, fasst der türkisch-zyprische Politikwissenschaftler Sertaç Sonan die Stimmung zusammen. Sonan hat die jüngsten Verhandlungen in einem unlängst in den Südosteuropa-Mitteilungen (München) veröffentlichten Aufsatz beschrieben, in dem er auch Espen Barth Eide zitiert, den UN-Sondergesandten für Zypern, der sagte, ein Ende der seit mehr als vier Jahrzehnten währenden Teilung „könnte schneller kommen, als man denkt“.
Energiepolitisches Kalkül
Die Optimisten führen außer der günstigen personellen Fügung auf der Insel zudem einen regionalpolitischen Aspekt als Grund für ihre Zuversicht an. Es geht dabei um Energiepolitik, die Türkei, Russland, Israel – und um Zyperns potenziell wichtige Rolle in diesem Geflecht. Die russisch-türkischen Beziehungen haben sich im Zuge des Krieges in Syrien stetig verschlechtert. Besonders nach dem Abschuss eines russischen Kampfjets durch die türkische Flugabwehr im November 2015 befinden sich die Beziehungen zwischen Moskau und Ankara rhetorisch und politisch in einer Abwärtsspirale aus immer schärferen wechselseitigen Vorwürfen und Sanktionen. Die Verwirklichung des einst mit Aplomb von Erdoğan und dem russischen Präsidenten Wladimir Putin angekündigten Projekts „Turkish Stream“, mit dem Gas aus Russland unter dem Schwarzen Meer hindurch in die Türkei geleitet werden sollte, erscheint weniger realistisch denn je. Die Türkei bemüht sich im Gegenteil angestrengt darum, ihre Energieabhängigkeit von Russland zu vermindern. Um dieses Ziel zu erreichen, könnten Israel und Zypern wichtig werden: Ende 2011 stieß die texanische Energiefirma „Noble Energy“ bei Probebohrungen im sogenannten Aphrodite-Feld vor der Südküste Zyperns auf Gasvorkommen. Die Nachricht versetzte die Führung in Nikosia in Euphorie. Das Land werde in den nächsten hundert Jahren keine finanziellen Sorgen mehr haben und einer der wichtigsten Energielieferanten der EU sein, prophezeiten zyprische Politiker. Doch bald stellte sich Ernüchterung ein, denn es zeigte sich, dass die entdeckten zyprischen Vorkommen womöglich zu gering sind, um den Aufwand einer Förderung zu decken. Der zyprische Markt ist winzig, die Insel hat weniger Einwohner als München. Die großen Energiekonzerne werden nur investieren, wenn sie den größten Teil des Gases exportieren dürfen, und auch dann ist die Förderung angesichts der stark gesunkenen Gaspreise allenfalls in Kooperation mit Israel sinnvoll, in dessen Gewässern schon Ende der 1990er-Jahre Gasfelder entdeckt wurden – bedeutend größer als jene vor Zypern.
Problem der Entschädigung
Als einzig wirtschaftlich sinnvolle Route für den möglichen Export der israelischen, zyprischen (und womöglich auch ägyptischen) Gasvorkommen gilt eine Pipeline über die Türkei mit einem möglichen Anschluss an das europäische Netz in Griechenland. Ende Januar führte Nikos Anastasiadis dazu auf Zypern Gespräche mit den Regierungschefs Israels und Griechenlands, Benjamin Netanjahu und Alexis Tsipras. Einen türkischen Vertreter konnte er nicht einladen, da die Türkei Zypern nicht anerkennt. Die energiepolitischen Faktoren könnten jedoch Gründe dafür sein, dass die Türkei sich in den Verhandlungen zwischen Anastasiadis und Akıncı bisher äußerst konstruktiv verhält.
Ein entscheidendes Problem ist aber noch vollkommen ungelöst: Kommt es zu einer Wiedervereinigung, müssten die griechischen und türkische Zyprer, die 1974 im jeweils anderen Teil der Insel Haus und Hof verloren, entschädigt werden. Zwar liegen keine exakten Zahlen vor, aber auf Zypern ist oft zu hören, dass sich die Entschädigungszahlungen auf mindestens fünfzehn, vermutlich eher zwanzig oder 25 Milliarden Euro belaufen könnten. Dieses Geld fehlt Zypern. Einige zyprische Politiker erwecken bei ihren Landsleuten den Eindruck, die Staatengemeinschaft werde für die Kosten aufkommen. Doch das ist, vorsichtig formuliert, wenig aussichtsreich.
Michael Martens, geboren 1973 in Hamburg, seit 2009 Korrespondent der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ in Istanbul (Türkei).