Woher wissen wir, dass wir überhaupt existieren? Der französische Philosoph René Descartes wollte diesen existenziellen Zweifel durch einsame Selbstvergewisserung ausräumen: „Ich denke, also bin ich!“ Das hirnorganische Zentrum unseres Selbst vermutete er in der Zirbeldrüse. Doch die Neurobiologie der folgenden Jahrhunderte fand diesen „Homunkulus“ im Kopf nicht. Warum? Weil es ihn nicht gibt, wie wir inzwischen wissen. In der dezentralen Architektur des Gehirns ist kein Platz für ein solches Zentrum. Unser Identitätsempfinden beruht vielmehr darauf, von anderen Menschen wahrgenommen und als eigenes Wesen anerkannt zu werden. Das basale Gefühl des eigenen Selbst entsteht auf sozialem Wege, ursprünglich aus den anerkennenden Interaktionen des Kleinkinds mit seinen primären Bezugspersonen, im prozeduralen Gedächtnis als implizites Beziehungswissen gespeichert. Aus dem Du der Mutter (und des Vaters) wird das Ich des Kindes. Die cartesianische wird durch eine entwicklungspsychologische Identitätsformel ersetzt, die das werdende Selbst mit dem anderen verbindet: „Ich werde gesehen, also bin ich!“ An dieses frühkindliche Identitätsmuster – so meine Kernthese – können die interaktiven Medien mit ihrem Versprechen auf Sichtbarkeit und Resonanz andocken.
Die vernetzte Seele
Um den psychischen Untergrund der entfesselten Mediengesellschaft zu erforschen, sollten wir zunächst unsere klassisch-psychoanalytischen Theorien zur Entwicklung und Struktur des Seelenlebens überprüfen. Insbesondere der Mythos vom primär narzisstischen Säugling, der sich nur unter Triebnot in die reale Welt begibt, lässt sich im Licht neueren Wissens nicht aufrechterhalten. Der Mensch ist keine Monade, sondern von Beginn bis zum Ende seines Lebens existenziell auf andere Menschen angewiesen, vor allem auf emotionale Bindung und intersubjektive Anerkennung. Über Disziplingrenzen hinweg ist das der gegenwärtige Stand der humanwissenschaftlichen Forschung.
Soziale Einbettung ist geradezu die Bedingung für Individuierung. Erst über die Verinnerlichung von Erfahrungen des Gehalten- und Versorgtwerdens, des Gesehen- und Gehörtwerdens, der intersubjektiven Spiegelung und Anerkennung – das heißt aus dem Zwischenmenschlichen – gewinnt das Individuum jenen Stoff, den es schließlich zur subjektiven Aneignung seiner Lebenswelt, zur Entwicklung der eigenen Persönlichkeit und zur Formung seiner unverwechselbaren Identität verwendet. Ein Säugling bringt seine Bezogenheit bereits mit auf die Welt. Das Lächeln im Gesicht der Eltern, die ihn anschauen; die liebevolle Zuwendung der Menschen, die auf seine Bedürfnisse eingehen; das Interesse, das jemand zeigt, der mit ihm scherzt oder spielt; die Aufmerksamkeit, die andere ihm schenken; die Resonanz, die er von seiner primären Umwelt erfährt – die Summe solcher Beziehungserlebnisse gibt ihm eine erste Ahnung davon, wer er ist oder werden kann: Ich werde gesehen, also bin ich!
Die identitätsstiftende Urerfahrung, von anderen Menschen wahrgenommen und wertgeschätzt zu werden, machen sich die interaktiven Medien zunutze. Denn die interaktive Struktur digitaler Netzwerke passt ziemlich genau zur Netzwerkstruktur von Gehirn und Psyche, die von den modernen Humanwissenschaften nicht mehr als abgeschlossene Einheiten, sondern buchstäblich als Beziehungsorgane begriffen werden. Damit erklärt sich die enorme Verbreitung und Attraktivität der Sozialmedien. Zumindest im Unbewussten der Nutzer spielen das Sich-zeigen und Gesehen-werden sowie die darunter liegende Hoffnung auf Wertschätzung und Anerkennung eine entscheidende Rolle. Diesen Zusammenhang verkennt eine kulturpessimistische Modernekritik, die in der Massennutzung des Internet und seiner Derivate lieber einen psychosozialen Niedergang im Weltmaßstab zu erkennen meint. Wer jedoch stets nur Narzissmus, Exhibitionismus, Sucht, Flucht oder Regression am Werk sieht, dem entgeht ausgerechnet das Neue an der digitalen Moderne. Was aber ist neu daran und deshalb noch nicht verstanden?
Im Spiegel des anderen
Offenbar haben sich im digitalen Zeitalter die Reservate des medialen Narzissmus geöffnet. Gehörte es in früheren Zeiten zu den Privilegien der Reichen, Schönen und Mächtigen, sich im Licht der Öffentlichkeit zu sonnen, haben Vernetzung, Medialisierung und Digitalisierung der Alltagswelt inzwischen dafür gesorgt, dass das einstige Vorrecht gesellschaftlicher Eliten gewissermaßen demokratisiert worden ist. Auch für Blogger, Podcaster und Influencer gilt schließlich: Berühmt ist, wer erkannt wird! Nahezu jeder und jede kann heute die zahllosen Spiegelund Echoräume der Kommunikationsgesellschaft nutzen, um seine Gedanken, seine Meinungen, seine Werke oder sich selbst einem hoffentlich interessierten Publikum zu präsentieren. Alle, die wollen und etwas zu bieten haben, können sich zeigen. Und sie bekommen Rückmeldungen, die in jedem Fall Resonanz bedeuten, ganz gleich, wie sie ausfallen mögen. Denn selbst negative Resonanz liefert Anerkennung, da sie beweist, dass man in seiner Existenz von anderen Menschen wahrgenommen wird.
Nehmen wir das Selfie, das schlichteste und zugleich erfolgreichste Produkt einer weltweit boomenden Ökonomie der Aufmerksamkeit: Auf Selfies sehen wir Menschen, wie sie sich selbst sehen möchten. So scheint es zumindest. In Wahrheit zeigen Selfies – gern auch als Doppel- oder Gruppenselfie mit Prominenz –, wie ihre Produzenten von anderen Menschen gesehen werden möchten. Denn die digitalen Selbstporträts sind nicht für das private Fotoalbum gedacht. Ins Internet gestellt, über Facebook oder Instagram an Freunde, Bekannte oder Unbekannte verschickt, sollen sie potenzielle Betrachter interessieren. Insgeheim – um nicht zu sagen: im Unbewussten – zielt das Selfie auf Resonanz, auf eine Spiegelung der eigenen Person, auf ein soziales Echo. Das per Smartphone in Sekundenschnelle aufgenommene, mit zwei, drei Klicks in die virtuelle Welt übertragene Selbstbild ist binnen weniger Jahre zur Massenware auf der breiten Angebotspalette eines „mentalen Kapitalismus“ geworden, auf dessen Märkten bekanntlich Selbstdarstellung gegen Beachtung getauscht wird. Mit dem Selfie ruft man der Welt zu: Schaut her! Hier bin ich! So bin ich! Was haltet ihr davon? Wie findet ihr mich?
Die Klickraten, die Zahl der „Friends“, „Follower“, „Likes“ oder „Flames“, die Rückmeldungen auf Postings, die Kommentare zu Kommentaren, die Antworten in den Chatrooms, die Quoten des interaktiven Fernsehens mit all seinen Talk-, Quiz-, Game-, Koch-, Casting- und Realityshows, die zum Mitmachen einladen und das Sichzeigen schon im Namen tragen – aus dem Blickwinkel einer relationalen Psychoanalyse bedeuten die digitalen Feedbacks in den neuen Medien nichts anderes als soziale Resonanz durch ein virtuelles, reales oder imaginiertes Publikum. Insofern erfüllen sie dieselbe, zu Unrecht als bloß „narzisstisch“ denunzierte Funktion wie in der traditionellen Kulturszene die Auflage von Büchern, die Preise auf dem Kunstmarkt, die Einladung zu Ausstellungen, die Besucherzahl von Museen oder der Beifall des Theater-, Opern- und Konzertpublikums. Auch Schriftsteller, Maler oder Musiker brauchen am Ende ein Publikum in Gestalt von Lesern, Betrachtern oder Zuhörern: Es ist eben keineswegs nur das Werk, das den Meister lobt.
Auf der Suche nach Resonanz
Die Moderne ist ständig in Bewegung. Hatte bereits die industrielle Revolution im Fabrikzeitalter nicht nur die Arbeitswelt, sondern auch die Lebenswelt und das Seelenleben der Menschen verändert, gilt das für die digitale Revolution im Informationskapitalismus umso mehr. Der Modernisierungsprozess reicht in die Weichteile entwickelter Gesellschaften hinein, bis in die Tiefenstrukturen der Psyche, die sich ebenfalls modernisiert. Sexuelle Befreiung, kulturelle Liberalisierung und gesellschaftliche Individualisierung haben im Verein mit partnerschaftlichen Erziehungsmethoden bereits dazu beigetragen, dass Kinder heute in freiheitlichen, weniger reglementierten, stärker an Selbstbestimmung orientierten und kommunikativ anspruchsvolleren Milieus aufwachsen als in vergangenen Zeiten. Die Entwicklungspsychologie spricht von einer „Modernisierung der Seele“ (Martin Dornes): das Es weniger triebhaft, das Ich weniger gepanzert, das Über-Ich weniger streng und die Beziehung zwischen psychischer und sozialer Realität offener als in vordigitalen Charakterformationen.
Mit dem Einzug der Kommunikationstechnologie in die persönliche Lebenswelt sind unsere Kontaktmöglichkeiten ins Grenzenlose gewachsen, sodass wir an (fast) jedem Ort und zu (fast) jeder Zeit mit anderen in Verbindung treten, uns exponieren und inszenieren können. Die Einladung auf die Schaubühnen und in die Spiegelkabinette der modernen Lebenswelt nimmt das zeitgenössische Selbst gern an. Das Sehen und Gesehenwerden ist zur Basis eines zunehmend exzentrischen Sozialcharakters geworden, der ohne Hemmungen aus sich herausgeht, um der Welt zu zeigen, was alles in ihm steckt.
Früher wurden solche Schau- und Zeigebedürfnisse nur Kindern und pubertierenden Jugendlichen zugestanden, die ihnen im Lauf ihrer weiteren Sozialisation jedoch als regressiv, unreif oder ungehörig ausgetrieben wurden. Verleugnet, verdrängt oder auf andere Weise abgewehrt, durften die scheinbar voyeuristischen und narzisstischen Wünsche bestenfalls künstlerisch sublimiert oder irgendwie getarnt auf Befriedigung hoffen. Im Medienzeitalter kehren sie nun mit Macht in eine panoptische Lebenswelt zurück, wo sie gefördert und befriedigt werden. Doch hinter dem Massenbedürfnis nach sozialer Sichtbarkeit verbirgt sich ein elementares Verlangen nach Resonanz und Anerkennung. Zeitdiagnostisch könnte man sagen: Die Kinder der digitalen Moderne haben offenbar weniger Angst davor, überwacht als übersehen zu werden.
Dann aber sollten wir darauf vertrauen, dass jede Generation sich die Lebenswelt, die sie vorfindet, auf ihre besondere Weise aneignen muss – mitsamt all dem uns Unvertrauten, Ungewohnten, Unverstandenen und gerade deshalb so Befremdlichen. Genau darin liegt das Wesen des Generationenkonflikts, selbst in einer Welt, die allmählich zusammenwächst. Warum sollte das ausgerechnet der kosmopolitischen Internetgeneration nicht gelingen?
Auf der anderen Seite registrieren wir gerade in den liberalen Demokratien des Westens ein wachsendes Unbehagen an der Moderne, die ich mit dem nötigen Schuss an Geschichtsoptimismus den Geburtswehen der Globalisierung zurechnen möchte. Populistische Gegenströmungen wenden sich entschieden gegen den Pluralismus von Glaubensrichtungen, Alltagskulturen, Essgewohnheiten, Sexualpräferenzen und Lebensentwürfen. Ihrerseits auf der Suche nach Medienresonanz, pflegen sie demonstrativ ihre völkischen, weltanschaulichen oder religiösen Gewissheiten, indem sie sich lärmend gegenüber dem anderen als dem Fremden, Ungläubigen, Abtrünnigen, Verräter oder Feind abgrenzen und eigene Führungsfiguren erschaffen. Voller Selbstherrlichkeit und Bekennerdrang inszenieren sie sich als Retter des Vaterlands vor der Globalisierung, als Krieger des Guten gegen das Böse, als opferbereite Märtyrer für den wahren Glauben – wobei sie sich zugleich modernster Medienstrategien bedienen.
Das Internet ist zwar ein universelles, aber moralisch indifferentes Leitmedium, das für alle möglichen Zwecke tauglich scheint: eine virtuelle Identitätsmaschine, bei der es auf die tatsächlichen Motive und Absichten der Nutzer ankommt.
Der Text verdichtet Überlegungen aus der Publikation des Autors „Ich werde gesehen, also bin ich! Psychoanalyse und die neuen Medien“, Vandenhoeck & Ruprecht, Reihe „Psychodynamik kompakt“, 2019.
Martin Altmeyer, geboren 1948 in Völklingen (Saar), Diplom-Psychologe, Supervisor (BdP), Privatdozent für psychoanalytische Psychologie, Mitglied der IARPP („International Association for Relational Psychoanalysis and Psychotherapy“), eigene paar- und familientherapeutische Praxis in Frankfurt am Main, Autor von Zeitungs und Zeitschriftenaufsätzen zur Anwendung einer modernen Psychoanalyse auf Kultur und Gesellschaft („PSYCHE“, „Forum der Psychoanalyse“, „Frankfurter Rundschau“, „taz“, „Der Spiegel“).