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Bildmacht im öffentlichen digitalen Raum

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Bilder zu produzieren und sichtbar zu machen, war fast immer stark an ökonomische und technische Bedingungen geknüpft; die Existenz von Bildern stand in besonderer Weise unter dem Vorzeichen von Knappheit. Selbst für die einfachsten Bilder brauchte es Materialien wie Pigmente und Bindemittel, Träger wie Stein, Holz, Keramik oder Textilien und Werkzeuge wie Pinsel, Griffel oder Stichel, die nicht allgemein verfügbar waren. Die Herstellung verlangte handwerkliche Fertigkeiten und Kenntnisse. Oft war der Produktionsprozess zudem zeitaufwendig. Und was nützte das dauerhafteste und schönste Bild, solange nur wenige Menschen an den Ort kommen konnten, an dem es sich befand?

In der Kulturgeschichte unterlagen Bilder also den Vorgaben derer, die die finanziellen und technischen Hürden der Bildproduktion zu überwinden vermochten. Das waren in vielen Fällen nicht dieselben, die die handwerklichen und kreativen Fähigkeiten der Bildfindung hatten. Die Geschichte der Bilder ist deshalb auch eine Geschichte von Aufträgen und Kooperationen: In der politischen Propaganda, auf Briefmarken oder in der Werbung stellte jemand mit institutioneller oder finanzieller Macht anderen die Mittel bereit, um Bilder zu produzieren und zu vertreiben, nahm aber auch Einfluss auf das, was diese zeigen sollten. Von den meisten Ereignissen, Personen und selbst von großen gesellschaftlichen Gruppen sind jedoch gar keine Bilder überliefert. Erst nachdem es zugänglichere Techniken gab, Bilder zu produzieren und in Umlauf zu bringen, war es auch weniger Mächtigen und Wohlhabenden möglich, ihre Sicht auf die Welt zu manifestieren sowie Bilder in größerem Umfang zu sehen.

Aber erst dank der Digitalisierung, durch das Internet, durch Smartphones sowie die Etablierung der Sozialen Medien sind die limitierenden Faktoren von Bildern weitgehend überwunden. Erstmals wächst eine Generation heran, für die der Austausch von Bildern fast genauso ungehindert stattfindet und selbstverständlich ist wie der Austausch von Worten. Es ist deshalb berechtigt, einen „Iconic Turn“ zu diagnostizieren – ein Begriff, der bereits in den 1990er-Jahren aufkam und mit dem zuerst die Behauptung, mittlerweile jedoch bereits die Erfahrung verbunden ist, dass Erkenntnisse und Weltanschauungen vermehrt über Bilder erzeugt, gefasst und mitgeteilt werden, der lange Zeit herrschende Logozentrismus also relativiert und Evidenz ebenso durch Bilder wie durch sprachliches Argumentieren erzeugt wird.1

 

Sichtbarkeit als Machtfaktor

 

Besonders folgenreich ist, dass in den Sozialen Medien ein eigener öffentlicher Raum entstanden ist, der sich von analogen Formen von Öffentlichkeit zum Teil stark unterscheidet. Im digitalen Raum hinterlässt fast alles Spuren, wird gespeichert und kann noch nach Jahren Folgen haben. Ist der digitale öffentliche Raum damit einerseits riskanter als der analoge, so erscheint er andererseits sicherer und freier, da er keine physische Präsenz der Akteure verlangt und es ihnen erlaubt, sich hinter Inszenierungen zu verstecken.

In den Sozialen Medien werden Bilder jedoch nicht nur passiv rezipiert, sondern aktiv weiterverwendet, adaptiert und variiert. Sie sind hochmobil und, wie alle digitalen Dateien, sehr fluide, lassen sich durch Apps und Filter sekundenschnell und tausendfach verändern und von unüberschaubar vielen verschiedenen Akteuren neuen Kontexten anpassen, wie etwa der Erfolg von Internet-Memes belegt. Da man sich mit ihnen vergleichbar schnell, vielfältig und geschmeidig artikulieren kann wie mit Sprache, werden ihnen auch viele – meist kommunikative – Funktionen übertragen, die bisher nur mit Worten – gesprochen oder geschrieben – zu erfüllen waren.

Obwohl von ökonomischen Interessen motivierte Algorithmen der Plattformbetreiber dazu führen, dass nicht jede Aktivität in einem Sozialen Netzwerk dieselbe Chance auf Sichtbarkeit erhält, hatten noch nie auch nur halbwegs so viele Menschen die Chance auf visuelle Selbstbestimmung wie heute. Und das betrifft gerade auch Menschen aus bisher eher „unsichtbaren“ Schichten: aus Minderheiten und sozial schwachen Milieus. So erfährt die Öffentlichkeit heute unmittelbar, wie es in einem Flüchtlingslager aussieht oder wo gerade demonstriert wird. Bilder und Videos staatlicher oder anderer Gewaltausübung können im Nu viral gehen – mit Folgen wie 2020 nach dem gewaltsamen Tod von George Floyd, durch den die Black Lives Matter-Bewegung eine ungeahnte Dynamik erfahren hat. Sichtbarkeit ist somit mehr denn je ein entscheidender Machtfaktor – und erstmals sind Bilder nicht nur Medien mächtiger Eliten, eingesetzt als Propaganda gegen die Mehrheit, sondern sie sind Medien bisher Ohnmächtiger, die sich mittels ihrer gegen Hierarchien auflehnen können. Jede Art von Protest und Revolution ist mittlerweile vor allem bildgetrieben.

 

Konkurrenz um Aufmerksamkeit

 

Angehörige von Minderheiten müssen dennoch oft erst dafür kämpfen, dass ihre Abweichung von bisherigen Normen anerkannt wird und sie sich mit den Bildern, die sie von sich posten, nicht selbst an den Pranger stellen. Insbesondere der Feminismus hat diesbezüglich viel erreicht; er ist heute weniger mit Theorien und Manifesten als mit Hashtags und – vor allem – mit einer offensiven Bildpolitik erfolgreich. Dass Frauen erstmals selbst darüber entscheiden können, wie sie abgebildet werden wollen, bringt nicht zuletzt eine Pluralisierung von Körperbildern mit sich, fungiert aber ebenso als Strategie des Empowerment: Mehr Sichtbarkeit führt zu mehr Gerechtigkeit.2

Je mehr Menschen die Chance auf Sichtbarkeit haben, desto größer wird jedoch auch die Konkurrenz um Aufmerksamkeit. Denn so sehr die Möglichkeiten, sich und die eigenen Anliegen publik zu machen, gestiegen sind, so wenig ist die Menge an Zeit gestiegen, die zur Verfügung steht, um all das, was gepostet wird, wahrzunehmen. Es herrscht deshalb ein lebhafter Wettbewerb um kreative und immer wieder neue Formate, der auch die Tendenz begünstigt, einzelne ästhetische Eigenschaften zu steigern, um die erwünschte Aufmerksamkeit zu erzielen.

Viele Filter und Masken sorgen für Verfremdungen, die krass oder bizarr, besonders lustig oder niedlich sind, auf jeden Fall aber eine Übertreibung bieten. Dabei ist denjenigen, die diese Bilder sehen, bewusst, dass es sich um Manipulationen handelt – dennoch ziehen sie diese den nicht bearbeiteten Bildern oftmals vor: aus Lust an Unterhaltung und Abwechslung, aber auch, um ein Thema oder eine Aussage prägnanter und zugespitzter vermittelt zu bekommen. Manipulierte Bilder werden deshalb kaum als Lüge oder Fälschung kritisiert. Vielmehr fungieren Bildbearbeitungen und die daraus resultierende, für die Sozialen Medien mittlerweile konstitutive „Mischwirklichkeit“ als rhetorische Mittel, die emotionalisieren, stimulieren, polarisieren oder vor Missverständnissen schützen sollen.3

 

Anstrengende neue Diversität

 

Es führt allerdings auch zu neuen Konflikten, wenn viel mehr und viel unterschiedlichere Menschen als früher eine aktive Rolle im öffentlichen Raum der Sozialen Medien einnehmen. Diese neue Diversität ist – auch unabhängig von jenen bildrhetorischen Übertreibungen – für alle Beteiligten anstrengend. Für diejenigen, die bisher den öffentlichen Raum beherrschten, bedeutet es, einen Teil ihrer Macht und ein Stück ihrer Sichtbarkeit abgeben zu müssen. Sie müssen teilen lernen und häufiger Rücksicht nehmen als früher.

Anstrengend ist der öffentliche Raum der Sozialen Medien aber auch, weil man jederzeit mitbekommen kann, wie in anderen Kreisen über einen oder über das eigene Milieu gedacht wird. Zwar wird oft gesagt, jeder bleibe am liebsten in seiner Filterblase und bekomme daher nur mit, was Leute mit ähnlichen Meinungen von sich geben; das ist allerdings nur die halbe Wahrheit, denn es gibt immer User, die kolportieren, was in anderen Filterblasen abläuft, und das findet dort genauso öffentlich statt wie das, was in der eigenen Filterblase über andere geäußert wird. Alle herabsetzenden Witze, Karikaturen und Bilder, die früher in einem Teilnehmerkreis blieben, werden heute auch von denen wahrgenommen, die selbst davon betroffen sind. Das schürt wechselseitig negative Gefühle, vergiftet das gesellschaftliche Klima und erfordert neue soziale Standards.

Es ist damit zu rechnen, dass Menschen künftig noch empfindlicher auf alles reagieren, was sie als Verletzung ihrer visuellen Selbstbestimmung ansehen; dass sie jedoch auch zunehmend über Techniken verfügen, sich dagegen zu wehren. Vor allem aber werden sie öfter und stärker als bisher versuchen, selbst Einfluss zu nehmen auf das öffentliche Bild von allem, was sie direkt oder auch nur indirekt betrifft. Follower ihrer Accounts werden sie noch stärker als eine Macht begreifen, die sich einsetzen lässt, um Druck zu machen oder um Aktionen zu starten. Der „Iconic Turn“ hat gerade erst begonnen.

 

Wolfgang Ullrich, geboren 1967 in München, Kunsthistoriker und Kulturwissenschaftler, unter anderem 2006 bis 2015 Professor für Kunstwissenschaft und Medientheorie, Staatliche Hochschule für Gestaltung Karlsruhe, seither freiberuflich in Leipzig als Autor, Kulturwissenschaftler und Berater tätig.

 

1 Vgl. Christa Maar / Hubert Burda (Hrsg.): Iconic Turn. Die neue Macht der Bilder, Köln 2005.
2 Vgl. Annekathrin Kohout: Netzfeminismus. Strategien weiblicher Bildpolitik, Berlin 2019.
3 Moritz Baßler / Heinz Drügh: Gegenwartsästhetik, Göttingen 2021, S. 272.

 

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