Im Jahr 2020, dreißig Jahre nach der Wiedervereinigung, erlebten wir eine Art Zeitreise zurück: Im Zuge der Coronakrise waren im Lockdown Grenzen wieder geschlossen, der öffentliche Raum war leergefegt, das gesellschaftliche Leben stillgelegt, der freie Austausch von Personen, die Versammlungs-, Bewegungs- und Reisefreiheit empfindlich eingeschränkt. Die Wirtschaft lag danieder. Die Grenzschließungen mögen so manchen an die Zeit des Eisernen Vorhangs vor 1989 und die Insellage West-Berlins erinnert haben. Die zweifellos meist notwendigen, staatlich-administrativ verfügten rigiden Maßnahmen zur Bekämpfung der weltweiten Seuche flankieren eine Krise, wie sie die westlichen Demokratien seit Ende des Zweiten Weltkriegs bisher nicht gekannt hatten. Und deren Folgen noch ungewiss sind: ökonomisch, politisch, gesellschaftlich und die Zukunft der Europäischen Union betreffend. Zudem bescheren uns die Coronakrise und die Versuche ihrer Bewältigung einen immensen Paternalisierungsschub. Der Staat schwingt das Zepter, und die Rückkehr zu Eigenverantwortung und Bürgersinn ist ins Stocken geraten. Auch wenn die Aussicht auf den Impfstoff das lang ersehnte Licht am Ende des Tunnels ist.
Es ist der größte Stresstest, den die liberalen Gesellschaften seit Ende des Zweiten Weltkriegs zu bestehen haben. Angesichts der Wucht der bedrohlichen Pandemie verblassen offensichtlich die jüngst vergangenen Krisenerfahrungen und Debatten. Doch Euro-Schuldenkrise, die wieder zunehmenden islamistischen Terroranschläge, die alte und erneut aufflammende Migrationskrise, der Brexit, die Krise der Volksparteien und der Erfolg rechter und linker Populisten in ganz Europa und den USA stellen die liberalen Demokratien und ihre Institutionen weiterhin auf eine harte Probe. Daran hat auch die Coronakrise nichts geändert. Betrachtet man die Zusammensetzung der Teilnehmer an Demonstrationen gegen die staatlichen Schutzmaßnahmen und Freiheitsbeschränkungen, findet man auch dort illustre Querfronten zwischen links und rechts, die Freiheit für sich reklamieren, aber die Freiheit und Unversehrtheit anderer gefährden. Generell eint die politischen Ränder eher ein ausgeprägt antiwestliches Ressentiment: die Skepsis gegenüber der Globalisierung, durchsetzt von Antikapitalismus, Europaskepsis, Putin-Verehrung, der Wunsch nach starker Führung und einer harten Hand, das Misstrauen gegenüber der parlamentarisch-repräsentativen Demokratie und stattdessen der Wunsch nach direkter Volksherrschaft und die Lust an der Revolte.
Es handelt sich dabei auch um einen Aufstand gegen die globalisierte Moderne und die von ihr bescherte grenzenlose, konfliktreiche Unübersichtlichkeit der Welt. Die Revolte richtet sich gegen das kosmopolitisch-urbane, global vernetzte sogenannte Establishment. Deshalb sind es eben nicht nur populistische Ressentiments, Skepsis gegenüber Einwanderung und Fremdenfeindlichkeit, die die europäischen Gesellschaften und ihre gewachsenen sozialen Ordnungen erschüttern: Es sind ganz neue und reale Probleme – nicht etwa nur diffuse Ängste der Bevölkerung –, neue Verwerfungen und soziale Spaltungen, die unsere bisher liberalen und offenen Gesellschaften samt ihrer demokratischen Institutionen und das politische Gefüge im Kern berühren. Die etablierte politische Klasse hat auf diese neuen Herausforderungen bisher keine überzeugenden Antworten gefunden. Die Kluft zwischen den einst staatstragenden Volksparteien und der Bevölkerung ist im Laufe der letzten Jahre immer größer geworden, und der Verdruss über die Große Koalition wuchs. Auch wenn dies während der Coronakrise vom Bonus der Kanzlerin als Krisenmanagerin zeitweilig überdeckt wurde.
Selbstzweifel und Selbsthass
Die großen gesellschaftlichen Debatten werden heute nicht aus der politischen Mitte heraus geführt, sondern entzünden sich an den Rändern und münden fast umgehend in Polarisierungen. Obwohl das ideologische Rechts-Links-Schema überwunden schien, greift es immer noch.
Ins Zentrum der erneuten Rechts-Links-Konfrontation ist nun vor allem der Streit über das Selbstverständnis der Nation, ihre Grenzen, ihren Zusammenhalt, gesellschaftliche Minderheiten und ihr Umgang mit ihnen gerückt. Die Polarisierungen in diesen Debatten sind flankiert von einem wachsenden Moralisierungsdruck. Denkverbote und ideologische Scheuklappen machen eine rationale Auseinandersetzung mit den gegenwärtigen Herausforderungen immer schwieriger. Die Selbstzweifel an der Erfolgsgeschichte unserer Zivilisation bis hin zum westlichen Selbsthass werden immer lauter. Sie sind nicht nur rechten und linken Rändern eigen, sondern zunehmend in Universitäten, Redaktionsstuben und Kulturinstitutionen beheimatet, wie der Streit über Rassismus und Kolonialismus zeigt. Und dies in einer Situation, in der die über Jahrhunderte mühsam errungenen westlichen Freiheiten und Lebensweisen weltweit unter immer stärkeren Druck geraten sind.
Bereits seit einigen Jahren tobt dieser Kulturkampf, der immer aberwitzigere Züge annimmt. Kinderbuchklassiker werden umgeschrieben, weil das Wort „Negerkönig“ inzwischen anstößig ist. Alte Filme werden aus dem Verkehr gezogen, weil sie aus heutiger Sicht rassistisch sind. Statuen werden vom Sockel geholt. Berühmte Bilder werden abgehängt, weil sie sexistisch seien. Die „Diskurspolizei“ ist auch an den Universitäten unterwegs. Es sind Eingriffe zugunsten eines vermeintlich gerechten, politisch korrekten Regimes, das es jeder Ethnie, jedem Geschlecht und jeder Religion recht machen will. Der Wunsch nach Eindeutigkeit und Einheitlichkeit, nach Reinheit und Säuberung hat sich in unterschiedlichen gesellschaftlichen Feldern ausgebreitet. Verletzte Gefühle einer Gruppe wiegen nun oft schwerer als die Prinzipien und die Ausübung der Kunst-, Wissenschafts- und Meinungsfreiheit. Obwohl doch gerade sie Antrieb und Resultat eines jahrhundertelangen Kampfes waren und als hohe Güter unsere Lebensweise auszeichnen. Inzwischen steht auch schon der Aufklärer Immanuel Kant wegen Rassismus am Pranger, weil er in seinen Frühschriften wie fast alle seiner Zeitgenossen die weiße „Race“ als vollkommenste der Menschheit ansah. Eine „Kritik der weißen Vernunft“ wird deshalb angemahnt. Doch dem späteren Kant verdanken wir gerade die wegweisende Definition von Mündigkeit und die Entfaltung dessen, was die Würde des einzelnen Menschen ausmacht.
Rückfall in den Tribalismus
Der Ausgang aus der „selbst verschuldeten Unmündigkeit“ war die Selbstermächtigung des Individuums mit dem Ziel seiner Emanzipation aus kollektiven Zwängen, flankiert von Solidarität und Gemeinsinn. Die Errungenschaft aus dieser zivilisatorischen Leistung über Jahrhunderte hinweg war die Gleichheit jedes Einzelnen vor dem Recht – gerade unabhängig von Hautfarbe, ethnischer Herkunft, Geschlecht oder Religion. Diese Ideale aus der Amerikanischen und Französischen Revolution sind bis heute nicht vollständig eingelöst, aber immer noch treibende Kraft für die Ausweitung der Chancengerechtigkeit.
Inzwischen scheint unsere Gesellschaft allerdings auf eine frühere Stufe ihrer Entwicklung zu regredieren, weg vom Ideal des autonomen, selbstbestimmten, aufgeklärten Individuums und wachen Staatsbürgers hin zum Stammesdenken und der Hordenbildung mit gefeierten Anführern. In den sich selbst bestätigenden Communities, verstärkt durch die neuen Medien, ist ein besorgniserregender Rückfall in den Tribalismus zu beobachten. Die Gesellschaft zersplittert in immer neue Kollektive, die für ihre partikularen Gruppeninteressen kämpfen. Die fremdenfeindliche Identitätspolitik der Rechten favorisiert einen Kollektivismus, der sein Heil in der ethnischen Homogenität der Volksgemeinschaft sieht und die universalistischen Prinzipien der Aufklärung und die Idee einer offenen Gesellschaft verwirft. Dies tut auch der politische Islam mit seiner spalterischen Identitätspolitik, die erfolgreich Parallelgesellschaften bei uns implementiert hat. Schnittflächen und Bündnisse gibt es dabei auch mit einer Linken, die immer lauter gegen sogenannten „antimuslimischen Rassismus“ zu Felde zieht. Denn antiwestlich und antiliberal geriert sich auch eine Identitätspolitik von links, die an den Hochschulen und im Kulturbetrieb Raum gewonnen hat. Großen Auftrieb hat sie erst recht seit der Black Lives Matter-Bewegung erhalten.
Sonderrechte für Opferkollektive?
Eigentlich begann es im Zuge der neuen sozialen Bewegungen seit den 1970er-Jahren durchaus emanzipatorisch. Mutig schlossen sich Frauen und soziale Minderheiten zusammen, um für ihre Rechte einzutreten. Sie machten auf historische und aktuelle Benachteiligungen aufmerksam und begehrten auf gegen Sexismus und Rassismus. Doch dann breitete sich mit dem Lob der kulturellen Vielfalt und Differenz ein ideologisch gewordener Multikulturalismus aus, der die freiheitlichen Errungenschaften der westlich-europäischen Zivilisation zunehmend relativierte. Immer neue soziale Gruppen, die sich als Opfer von gesellschaftlicher Diskriminierung verstanden, entwickelten ihre jeweils unterschiedlichen Opfernarrative und forderten besondere Rechte für sich. Eine regelrechte Opferkonkurrenz entstand.
Es geht dabei um Wiedergutmachung erfahrenen Leids und den Wunsch nach sozialer und kultureller Wertschätzung. Entstanden ist daraus über die Jahrzehnte eine ausgeprägte Identitätspolitik, die ausdrücklich die jeweils kollektive religiöse, kulturelle, sexuelle und ethnische Zugehörigkeit ins Zentrum stellt. Nicht für Individuen werden Rechte eingefordert, sondern für die jeweiligen Opferkollektive, die Sonderrechte beanspruchen, um bisherige gesellschaftliche und historische Benachteiligung zu kompensieren. Aus den ehemals emanzipatorischen Bestrebungen sind identitäre Communities entstanden, die ihre Anliegen ideologisiert haben und einen lautstarken moralisierenden Feldzug gegen die sogenannte Mehrheitsgesellschaft führen. Wenn ständig in Täterund Opferkategorien gedacht und agitiert wird, schwindet der gesellschaftliche Zusammenhalt immer mehr und leistet weiterer Polarisierung Vorschub. Hauptfeind Nummer eins ist der alte, heterosexuelle, weiße Mann, der entmachtet werden soll.
Paradoxerweise wird der wohlfeile Antikolonialismus und Antirassismus selbst rassistisch, wenn er die ethnische Herkunft und Hautfarbe zum essenziellen, identitätsstiftenden Zugehörigkeitskriterium der von der Mehrheitsgesellschaft vorgeblich diskriminierten Opferkollektive macht. Erschreckend sind zudem die Rigidität und die Wut, die den Wunsch nach Reinigung begleiten: Sprache, Geschichte, Bücher, Plätze, Erinnerung sollen von allem Bösen gesäubert werden. Das ursprüngliche Ansinnen ist totalitär geworden. Aber diese „Cancel Culture“ betreibt letztlich eine Entsorgung der Vergangenheit. An den Universitäten ist die linke Identitätspolitik in den Sozial- und Geisteswissenschaften so dominant geworden, dass sie die Freiheit der Wissenschaft und der Meinung ernsthaft gefährdet. Die antirassistische Lehre von der Critical Whiteness, abgeleitet aus dem westlichen „Schuldkomplex“ (Pascal Bruckner), prägt längst über die Hochschulen hinaus den gesellschaftlichen Diskurs. Sie verleitet angesichts der Gräuel des Kolonialismus und der Sklaverei die Mehrheitsgesellschaft zu paternalistischer Überkompensation gegenüber den nachgeborenen „Opfern“ – angetrieben vom Wunsch, die Schuld zu tilgen. Vermeintliche Täter und vermeintliche Opfer bleiben so in einer reziproken, komplizenhaften Dynamik gefangen, die einer sachlichen und kritischen Aufarbeitung der Geschichte im Wege steht.
Die Erfolgsgeschichte der westlichen Zivilisation hat uns über die Jahrhunderte den besten Lebensstandard, den wir je hatten, beschert, Partizipation und Freiräume erweitert – freilich begleitet von grauenhaften Kämpfen, Katastrophen, Diktaturen, kolonialen Verbrechen, vielen Irrtümern und Inkonsequenzen. Wir können diese widersprüchliche Geschichte nicht glattbügeln oder retuschieren. Wir müssen mit ihr leben. Denn: „Aus so krummem Holze, aus dem der Mensch gemacht ist, kann nicht gerades gezimmert werden“ (Immanuel Kant).
Was wir benötigen, um dem Furor dieses identitären Fundamentalismus, der von Rechten, Linken und Islamisten gleichermaßen bedient wird, entgegenzutreten und ihn zu entzaubern, ist eine antitotalitäre Selbstaufklärung, die aus der politischen Mitte kommt und sich auf unsere Freiheitstraditionen besinnt. Sie wird uns nur gelingen in der offenen Austragung von Konflikten, jenseits abgeschotteter Gesinnungslager. Wir brauchen lebendige Debatten ohne Denkverbote und Moralisierung und wieder eine Erweiterung des Mainstreams, der die Pluralität der Meinungen und Interessen umfassender abbildet als bisher. Nur so wird es uns gelingen, über Fehler der Vergangenheit und neue Ideen klug zu streiten, um zu den besten Lösungen zu gelangen. Selbstgewissheit wäre fehl am Platz. Aber ein wacheres Bewusstsein für die Fragilität unserer Freiheiten täte uns gut und würde uns etwas krisenfester machen.
Ulrike Ackermann, geboren 1957 in Mainz, promovierte Sozialwissenschaftlerin und Soziologin, Professorin für Politikwissenschaft, Gründerin und Direktorin des John Stuart Mill Instituts für Freiheitsforschung e.V., Bad Homburg.
Literaturhinweis
Ackermann, Ulrike: Das Schweigen der Mitte. Wege aus der Polarisierungsfalle, Darmstadt 2020.