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Über die nicht zuletzt linken Wurzeln des gegenwärtigen Judenhasses

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Wäre es nicht so unendlich deprimierend, es ließe sich sagen: Deutschland entdeckt, dass es auch linken Antisemitismus gibt – wieder einmal. Dabei ist das Überraschendste das Verdutztsein selbst. Als wäre das „Nieder mit Israel/ Stoppt den Zionismus“-Gebrüll der letzten Wochen, in das auch zahllose linke bis linksextreme (Klima-)Aktivisten lautstark mit einstimmten, ein Novum. Als hätte das eliminatorische, Israel bereits rhetorisch ausradierende „From the river to the sea / Palestine will be free“ keinerlei historische Vorgänger, als geschähe derlei nicht in einem ganz bestimmten historischen Rahmen, in einem über Jahrzehnte lang eifrig kultivierten Mindset.

Hatte man bereits vergessen, dass – neben „Ho-Ho-Ho-Chi-Minh“ und der kriegerischen Parole „Schafft ein, zwei, viele Vietnam“ – auf nicht wenigen 68er-Demonstrationen auch der Slogan „Schlagt die Zionisten tot / Macht den Nahen Osten rot“ skandiert worden war? Dass danach zahlreiche junge Terroristen der Rote Armee Fraktion (RAF) in Camps der Palästinensischen Befreiungsorganisation (Palestine Liberation Organization, PLO) nahe der israelischen Grenze ausgebildet worden waren und man gewiss nicht Psychologie studiert haben muss, um zu erkennen, von welchem Motiv diese deutschen Täter-Sprösslinge dabei angetrieben wurden? Ganz gewiss war dies nicht zuvörderst die „internationale Solidarität“ oder die Empathie mit den „Verdammten dieser Erde“ – solange die Bewohner des Westjordanlandes und des Gazastreifens noch unter jordanischer beziehungsweise ägyptischer Herrschaft standen, hatte niemand von „Neokolonialismus“ gesprochen. Auch die um Erklärung bemühte These, Teile der Linken hätten nach ihrer Enttäuschung über die konsumorientierte, reformistische anstatt revolutionsdürstende westliche Arbeiterklasse ab Mitte der 1960er-Jahre nun eben die sogenannte „Dritte Welt“ (heute, nicht weniger homogenisierend, den „globalen Süden“) als Objekt ihrer Projektionen entdeckt, greift zu kurz. Weshalb dann die nahezu alleinige Fokussierung auf Israel als „Täternation“ inklusive der schon manischen Verwendung von eindeutig assoziierenden Vokabeln wie „faschistisch, nazistisch, völkermordend, Ghetto Gaza“ et cetera?

Wer all dies nun für „alte Kamellen“ hält, argumentiert ahistorisch und unterschätzt die Kontinuität eines toxischen Wahns, der in Wirklichkeit eben alles andere als „neu“ ist. Denn so brandgefährlich der importierte Antisemitismus in gewissen migrantischen Milieus auch ist und so bösartig weiterwuchernd der Judenhass der Rechtsextremen – es führt kein Weg daran vorbei, auch jenen „autochthonen“ Antisemitismus in den Blick zu nehmen, der seinen Namen nicht nennt, sondern sich vermeintlich progressiv wahlweise „antizionistisch“ oder „antikolonialistisch“ gibt.

 

Wüste Agitprop im Nazi-Stil

So zeigte bereits vor dem Hamas-Massenmord vom 7. Oktober 2023 der Skandal um die jüngste Kasseler documenta, wie bestimmte Kulturmilieus in Deutschland „ticken“. Man erinnere sich: Unter den verschämt wohlwollenden Blicken deutscher Kuratorinnen und Kuratoren war wüste Agitprop im Nazi-Stil gezeigt worden, so etwa Schweinsgesichter mit Davidstern und der Bezeichnung „Mossad“. Da jedoch Auswärtige, in diesem Fall ein indonesisches „Künstlerkollektiv“, die Auswahl getroffen oder selbst gepinselt hatten, wurde dies als „kritischer Beitrag des globalen Südens“ nobilitiert, über den man („selbstverständlich durchaus auch kritisch, doch ergebnisoffen“) diskutieren müsse, um sich nicht „germano-zentristischer Arroganz“ schuldig zu machen. Den fein gewundenen Sprech auf Deutsch übersetzt: Zumindest die sollen sagen dürfen, was uns – noch – nicht erlaubt ist.

Weshalb sich jedoch ausgerechnet linke Maleraktivisten aus Indonesien auf Israel einschießen, anstatt gesellschaftliche Malaisen ihres eigenen Landes zu visualisieren, wurde selbstverständlich nicht erfragt. Vielleicht auch deshalb nicht, weil es sich im internationalen „progressiven“ Diskurs längst von selbst versteht, dass ausgerechnet das demokratische, multireligiöse und multiethnische Israel die universelle Chiffre für alles darstellt, was mit den Slogans „oppression / repression / white supremacy“ assoziiert wird? Galten früher „die“ Juden den Rechten als ruchlose Aufrührer und Revolutionäre – während sie im Stalinismus dem oft tödlichen Verdikt anheimfielen, „bourgeoise Kosmopoliten“ zu sein –, werden sie nun von links als „weiße Kolonialisten“ gelabelt. (Wobei Rechtsextreme natürlich weiterhin aktiv verbreiten, Juden „treibe ein Hass gegen Weiße“ an – so zuletzt in einem millionenfach geteilten Tweet auf der Plattform X, vormals Twitter, den ihr Besitzer Elon Musk denn auch prompt mit dem skandalösen Kommentar „Das ist tatsächliche Wahrheit“ versah.)

Die Anwürfe tauschen dabei lediglich rasant die Begrifflichkeiten; deprimierend konstant geblieben ist die Fixierung auf eben „die“ Juden, ergo den Staat Israel.

Wobei sich die pure Infamie im Laufe der Jahre immer geschickter als besorgte Moral zu tarnen weiß. Ein solches Muster war etwa bereits 2020 bei der sogenannten Initiative GG 5.3 Weltoffenheit offenbar geworden: Nachdem der Deutsche Bundestag mit großer Mehrheit die Resolution verabschiedet hatte, die israelfeindliche Boykottbewegung Boycott, Divestment and Sanctions BDS nicht auch noch mit Steuergeldern zu fördern, war in Dutzenden staatlich subventionierten Kulturinstitutionen wie etwa dem Goethe-Institut und der Kulturstiftung des Bundes großes Geschrei entbrannt – die grundgesetzlich geschützte Kunst- und Wissenschaftsfreiheit sei in Gefahr. Und auch hier wieder die klassische Täter-Opfer-Umkehr: Nicht etwa „Künstler*innen und Aktivist*innen“, die diese aktuelle Version eines „Kauft nicht beim Juden“ unterstützen, seien problematisch, sondern der deutsche Staat, der dafür keine Finanzmittel bereitstelle.

 

Schweigen in selbsterklärt „achtsamen“ Milieus

Angesichts des Hamas-Massakers blieb ein ähnlicher Protest-Aufschrei freilich aus. Und trotz zahlreicher dokumentierter Fälle religiös abgesegneter Massenvergewaltigungen (und anschließend bestialischer Ermordungen der Frauen) blieben auch weltweit jene Feministinnen und Frauenorganisationen der Vereinten Nationen vernehmlich still oder zögerlich, die sich in anderen Fällen doch stets in erfreulicher Klarheit zu Wort melden.

Wohlgemerkt: Dieses Schweigen kommt nicht zuletzt aus dem Dunstkreis eines selbsterklärt kritischen und „achtsamen“ Milieus, in dem man sonst kaum einen Anlass versäumt, „ein Zeichen zu setzen“, „Betroffenheit zu zeigen“ oder einen Aufruf, eine Petition, eine Massendemonstration et cetera zu starten. Der in Russland geborene und seit 1995 in Deutschland lebende jüdische Pianist Igor Levit hatte kürzlich im Berliner Ensemble ein Solidaritätskonzert gegen Antisemitismus organisiert – wobei die Initiative von ihm ausgegangen war; andere Kulturinstitutionen hatten aus mehr oder minder fadenscheinigen Gründen abgesagt. Wer den Künstler in aktuellen Interviews sieht, erlebt einen zutiefst aufgewühlten und verletzten Menschen, der um Worte ringt, um das eiskalte Verdrängen oder relativierende Lavieren eines links-aktivistischen Milieus zu verstehen, von dem er sich doch eigentlich Solidarität erwartet hatte.

 

„Internationale der Einäugigen“

Noch dramatischer ist die Situation an westlichen Eliteuniversitäten von Harvard bis Cambridge, auch an der Berliner Universität der Künste, wenn sich dort regelmäßig Hunderte Studenten einfinden, um in aggressiven Sprechchören Israel des „Genozids“ anzuklagen – und gleichzeitig kein einziges Wort des Abscheus gegenüber der erzreaktionären, fundamentalistischen und darüber hinaus selbstverständlich misogynen und homophoben Hamas finden. Die Geschichten von jüdischen Studenten und Dozenten, die auf solchen Manifestationen brutal niedergeschrien werden oder gar flüchten müssen, sind keine Einzelfälle mehr.

Wer bereits die robust verweigerte Israelsolidarität auf den „Kein Blut für Öl“-Demonstrationen in den ersten Wochen des Jahres 1991 erlebt hat, wird inzwischen sogar eine Steigerung des Judenhasses konstatieren müssen – nicht zuletzt aufgrund der Schnelligkeit der neuen „sozialen Medien“ und ihrer besonderen Anfälligkeit für kontextfreie Bilder, Slogans und sich schwarmartig aufputschende Likes, Tweets und Re-Tweets. Dennoch wären erneute Blicke zurück nicht nur von historischem Interesse, sondern könnten auch jene Schichtungen und Prägungen offenlegen, die in einem bestimmten, durchaus auch ins Linksbürgerliche ausgreifenden Gesellschaftssegment immer vorhanden waren, wenn auch in wechselnder Offensichtlichkeit.

Man erinnere sich: Nachdem – völlig unprovoziert, dafür aber selbst als Provokationsstrategie gedacht – Iraks massenmörderischer Machthaber Saddam Hussein den Staat Israel mit Scudraketen angreifen ließ und drohte, das ganze Land „in ein Krematorium zu verwandeln“, als junge und alte Israelis, darunter Holocaust-Überlebende, mit Gasmasken in ihren Kellern saßen, da reckten sich hierzulande nicht zu knapp deutsche Moralistenfinger, um Israel „zur Besonnenheit“ zu mahnen. Ganz vorn dabei jene, die zuvor ihre Dauerkritik an der Bundesrepublik und ihr Schönreden der DDR gern durch den Vorwurf zu legitimieren trachteten, der Westteil des Landes habe den Nationalsozialismus nicht gründlich genug aufgearbeitet. Es ist dabei nicht ohne Ironie, dass sich mit den inzwischen verstorbenen Günter Grass und Walter Jens zwei Intellektuelle besonders exponierten, über die einige Jahre später ruchbar wurde, dass sie in ihrer Jugend Mitglied der Waffen-SS beziehungsweise der NSDAP waren. Auf den damaligen Massendemonstrationen, für die auch sie die Stichworte geliefert hatten, ging es übrigens – nunmehr im Namen des Pazifismus – auch darum, eine Lieferung von Patriot-Abwehrraketen an Israel unbedingt zu verhindern. Wäre es tatsächlich dazu gekommen, jüdisches Leben (auch das Leben arabischer Israelis) wäre noch zusätzlich gefährdet und dem Schlächter aus Bagdad ausgeliefert worden.

Die Beispiele ließen sich fortführen. Als jüngstes, doch gewiss nicht letztes wäre da jene Ansammlung junger Leute, die sich zu einem Sitzstreik vor dem Berliner Kanzleramt zusammengefunden hatten und mantraartig „Free Palestine from German guilt“ riefen. Womit die Grenzen zur extremen Rechten, die ja nicht nur durch ihren Frontmann Björn Höcke ein „Ende des deutschen Schuldkults“ fordert, verschwammen.

Vor allem belegt es eine denkbar üble (und auch keineswegs rein deutsche) Kontinuität, für die einst bereits der unbestechliche Chronist und Holocaust-Überlebende Ralph Giordano die präziseste Definition gefunden hatte: „Diese trauerunfähige, selektiv argumentierende und Israel hassende Linke ist Teil jener unsäglichen ‚Internationale der Einäugigen‘, die in einem Teil der Welt das anklagt, was sie in einem anderen Teil der Welt rechtfertigt.“

 

Marko Martin, geboren 1970 in Burgstädt, lebt, sofern nicht auf Reisen, als Schriftsteller in Berlin. Nach dem literarischen Tagebuch „Die letzten Tage von Hongkong“ erschien soeben sein Essayband „‚Brauchen wir Ketzer?‘ Stimmen gegen die Macht“ (Arco Verlag, Wien).


Anmerkung der Redaktion: Dies ist der erste Teil einer Reihe von Beiträgen zum Thema „Antisemitismus“, die in diesem Jahr fortgesetzt wird.