Seit dem Massaker der Hamas am 7. Oktober 2023 ist der Antisemitismus unter Muslimen in Deutschland ein Dauerthema. Sicherheitsbehörden und Politiker beklagen einen dramatischen Anstieg antisemitischer Übergriffe von Personen mit muslimischem Hintergrund. Andere Stimmen kritisieren die Stigmatisierung von Muslimen. Rechtsradikale entdecken den islamischen Antisemitismus als Ablenkungsdiskurs von Judenfeindschaft und Rassismus in den eigenen Reihen. Der islamische Antisemitismus ist so zur Chiffre und Projektionsfläche für Debatten um Schuldabwehr, Opferkonkurrenz und Rassismuskritik geworden. Dabei belegen Umfragen, dass bestimmte Formen und Ausprägungen des Antisemitismus gerade unter Muslimen stark verbreitet sind.1
Eine Studie der Konrad-Adenauer-Stiftung kam bereits vor dem 7. Oktober zu dem Befund, dass Menschen muslimischen Glaubens durchschnittlich signifikant höhere Zustimmungswerte für antisemitische Aussagen aufweisen als Christen und Konfessionslose. Die Studie weist außerdem darauf hin, dass Muslime mit Migrationshintergrund häufiger antisemitische Vorstellungen vertreten als andere Personen mit Migrationshintergrund.2 Nach einer Befragung der Bertelsmann Stiftung vergleichen 68 Prozent der Muslime die Behandlung der Palästinenser durch die israelische Politik mit den Taten der Nationalsozialisten. Der Vergleichswert der deutschen Gesamtbevölkerung liegt bei 43 Prozent. Außerdem verweist die Bertelsmann-Studie auf eine auffällige Korrelation zwischen Religiosität und Antisemitismus.3 Wie sind diese Verbindungen zwischen Judenhass, islamischer Religiosität und Zuwanderung zu erklären?
Koranische Quellen
Sowohl der Koran als auch die Prophetenüberlieferung enthalten nicht wenige Textstellen, die judenfeindlich gelesen werden können und tatsächlich auch so gelesen werden. Allerdings gibt es auch Textstellen, die mit Hochachtung über Juden sprechen. Juden werden in den frühislamischen Quellen als Empfänger der gleichen Offenbarung betrachtet. Dementsprechend groß ist aufseiten Mohammeds zunächst die Hoffnung, dass sich gerade die Juden den Muslimen anschließen würden. Mit dieser Hoffnung wird die Übernahme jüdischer Traditionen und Rituale (Fasten, Gebetsrichtung, Speiseregeln et cetera) in die muslimische Lebensweise erklärt. Als die Anerkennung Mohammeds seitens der Juden jedoch ausblieb, ändert sich die koranische Sichtweise. Aus den jüdischen Schriftbesitzern und Monotheisten werden daraufhin Schriftverfälscher und Häretiker. Aus den erhofften Verbündeten und Anhängern werden Gegner, die nach der koranischen Erzählung zum Großteil vertrieben, versklavt oder getötet wurden.4
Es ist dieser Kontext, auf den sich jene Koranstellen beziehen, die heute von muslimischen Antisemiten als Beleg für den vermeintlichen Hass (des islamischen) Gottes auf die Juden herangezogen werden. Die „klassische“ islamische Judenfeindschaft des 7. und 8. Jahrhunderts bezieht sich aber auf das Verhalten bestimmter Akteure in einem bestimmten historischen Zusammenhang. Als theologisch begründete, universale Sichtweise auf das Judentum kann sie nicht gelten.
Unterordnung und Bereicherung
Für diese Sichtweise spricht, dass sich Juden und Muslime im islamischen Herrschaftsbereich durchaus gegenseitig bereicherten. Solange sie die Autorität muslimischer Herrscher anerkannten, ging es Juden im islamischen Mittelalter oft besser als ihren Glaubensbrüdern unter christlicher Herrschaft. Dass es im islamischen Raum zu keinerlei Diskriminierungen und Verfolgungen kam, ist allerdings ein Mythos.5 Juden mussten gelbe Abzeichen tragen, hohe Steuern zahlen und niedere Arbeiten verrichten. Ausgerechnet im für religiöse Toleranz gerühmten al-Andalus ereignete sich im Jahre 1066 der erste dokumentierte Massenmord an Juden auf europäischem Boden. Dennoch sind die Unterschiede zwischen islamischem und christlichem Antijudaismus augenfällig. Die koranischen Schilderungen bemühen eine Perspektive muslimischer Stärke und Überlegenheit. Anders als in den christlichen Traditionen werden die Juden als störrisch und unbedeutend dargestellt. Mit den Kreuzzügen, später der Reconquista und den osmanischen Eroberungen drangen dann aber allmählich christliche Antijudaismen auch in den islamischen Raum vor.
Importierter Antisemitismus
Der moderne Antisemitismus, der seit dem 18. Jahrhundert den Judenhass pseudowissenschaftlich und biologistisch zu legitimieren versuchte, ist erst seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts im islamischen Raum nachweisbar. Importiert wurde er durch europäische Diplomaten, Missionare und Intellektuelle. Als hilfreiche Elemente der Weltdeutung in der Auseinandersetzung mit Kolonialmächten und einer als krisenhaft empfundenen Moderne wurden Juden allmählich auch im Nahen Osten als allmächtige Verschwörer imaginiert. Verstärkt, aber nicht verursacht durch die zunehmende Einwanderung europäischer Juden nach Palästina, tauchten in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, also viele Jahre vor der Staatsgründung Israels, aus Europa bekannte antisemitische Stereotype und Argumentationsmuster bei muslimischen Denkern auf. Dieser Wahrnehmungswandel dockte am traditionellen islamischen Judenbild an: Solange Juden der Herrschaft von Muslimen unterworfen waren, stellten sie keine Bedrohung dar. Fordern sie aber Gleichberechtigung oder erlangen sie sogar Macht über Muslime, müssen sie bekämpft werden.
Vor allem für den sich damals institutionalisierenden Islamismus war diese Vorstellung von Beginn an mit prägend. Einer seiner Vordenker, der ägyptische Volksschullehrer Hasan al-Bannā, gründete 1928 mit der Muslimbruderschaft nicht nur die Keimzelle nahezu aller modernen islamistischen Bewegungen bis hin zur heutigen Hamas, er legte mit seinen Warnungen vor der „jüdischen Gefahr“ auch die Grundlagen für einen antisemitischen Aktivismus und Terrorismus im islamistischen Denken. Die zunehmenden Anschläge auf Juden und jüdische Einrichtungen, die sich in den 1940er-Jahren in Kairo und anderswo ereigneten, gingen fast immer auf das Konto von Muslimbrüdern.6
Nazis und Islamisten
Nahezu zeitgleich mit den Muslimbrüdern waren in Europa die faschistischen Massenbewegungen entstanden. Vor allem die Nationalsozialisten erkannten ideologische Parallelen zum Islamismus und bemühten sich ab den 1930er-Jahren um die Förderung des islamisch legitimierten Antisemitismus. Beraterprogramme, Radiosender und Übersetzungen kamen ebenso zum Einsatz wie religiöse Rhetorik und Motivik.7 Als Schlüsselfigur gilt der Großmufti von Jerusalem, Mohammed Amin al-Husseini – ein glühender Antisemit. Al-Husseinis Rolle und allgemein der Einfluss der Nationalsozialisten auf die Formierung antisemitischer Konzepte im arabischen und muslimischen Raum sind seither Gegenstand akademischer Debatten.8 Sicher ist: Spätestens seit den 1940er-Jahren waren diese Ideen weit verbreitet.
Der bis heute wichtigste islamistische Denker, der 1966 hingerichtete Ägypter Sayyid Qutb, legte mit dem Essay Unser Kampf mit den Juden 1950 die in diesem Kontext bis heute zentrale Kampfschrift vor. Koranische Erzählungen werden in dem kurzen Traktat aus dem Kontext gerissen, mit modernen antisemitischen Stereotypen vermengt und als Geschichte einer ewigen und globalen Feindschaft zwischen Muslimen und Juden konstruiert. Adolf Hitler erscheint als Gesandter Gottes, die Judenvernichtung als gerechte Strafe. Millionenfach verbreitet, wird dieser Text in den folgenden Jahrzehnten zur Referenz des Judenhasses im islamischen Raum. Die Islamisierung des Antisemitismus war vollzogen.
Judenhass als Mainstream
Auch säkulare und nationalistische Akteure bedienten sich dieser Referenzen. Die Staatsgründung Israels führte nicht nur zum arabischen Angriff auf den jungen jüdischen Staat, sondern von Marokko bis Irak auch zur Enteignung und Vertreibung Hunderttausender arabischer Juden. Der ideologische und propagandistische Unterbau hierfür kam aus dem Antiimperialismus der politischen Linken und von den Islamisten. Kommunisten und Islamisten wurden von den arabischen Machthabern zwar verfolgt, ihre Begründungen des Judenhasses waren jedoch hochwillkommen. Selbst die arabischisraelischen Annäherungen in den 1980er- und 1990er-Jahren änderten daran wenig. Kontakte zu Juden und nach Israel waren Sache der Machteliten. Die breite Bevölkerung blieb außen vor. Ab Mitte der 1990er-Jahre fand der Antisemitismus durch Satellitenfernsehen, das Internet und später die sozialen Medien neue Verbreitungskanäle. Verstärkt durch Schulbücher, Nachrichten, Fernsehserien und Predigten, wurde er unter dem Deckmantel der Israelkritik in den meisten islamischen Ländern zum politisch-gesellschaftlichen Mainstream.
Aber es gab und gibt Hoffnungsschimmer. Wo sich Regierungen und Zivilgesellschaft der islamistischen Propaganda entgegenstellen, findet der Judenhass Grenzen. In den 1990er-Jahren tobte in Ägypten zwar die blutige Auseinandersetzung zwischen Islamisten und Regime – gleichzeitig bewarben Reisebüros in der Kairoer Innenstadt die direkte Busverbindung nach Tel Aviv mit der israelischen Flagge. Heute völlig undenkbar. In jüngerer Zeit sind es vor allem die Golfstaaten, die andere Wege gehen. Nachdem über Jahrzehnte von hier aus der islamisierte Antisemitismus verbreitet und finanziert worden war, haben vor allem die Vereinigten Arabischen Emirate und Saudi-Arabien erkannt, dass die Gefahr für das eigene Politik- und Gesellschaftsmodell nicht von Israel und den Juden, sondern vom Iran und von den Islamisten ausgehen.
Und in Deutschland?
Globalisierung, Migration und die sozialen Medien haben die spezifischen Formen und Ausprägungen des islamischen Antisemitismus in Deutschland abrufbar gemacht. In mindestens drei Richtungen wäre deshalb gegenzusteuern: Erstens sollten außenpolitisch die Kooperationsbeziehungen zu jenen islamischen Staaten verstärkt werden, die sich nachhaltig für eine politische und gesellschaftliche Normalisierung mit Israel einsetzen. Zweitens muss der Einfluss islamistischer und autoritärer Staaten und Akteure auf muslimische Strukturen in Deutschland reduziert und die institutionelle Beheimatung des Islam hierzulande religionspolitisch vorangetrieben werden. Drittens ist im Rahmen dieser Strategie eine Auseinandersetzung mit den theologisch begründeten Quellen der Judenfeindschaft im Islam notwendig, auch im islamischen Religionsunterricht.9 Unabhängig davon, ob der bei deutschen Muslimen verbreitete Judenhass als importiert, reimportiert, islamisch, islamistisch oder israelbezogen kategorisiert wird – er ist längst in antisemitische Diskurse in Deutschland integriert.
Andreas Jacobs, geboren 1969 in Kleve, Stellv. Leiter, Hauptabteilung Analyse und Beratung, Konrad-Adenauer-Stiftung.
1 Vgl. beispielsweise: Antisemitismus in Deutschland. Eine Repräsentativbefragung, American Jewish Committee / Lawrence and Lee Ramer Institute, Berlin 2022.
2 Vgl. Dominik Hirndorf: Antisemitische Einstellungen in Deutschland. Repräsentative Umfrage zur Verbreitung von antisemitischen Einstellungen in der deutschen Bevölkerung, Monitor Wahl und Sozialforschung der Konrad-Adenauer-Stiftung, Berlin, Juli 2023, S. 9.
3 Vgl. Antisemitismus, Rassismus und gesellschaftlicher Zusammenhalt, Religionsmonitor Kompakt, Bertelsmann Stiftung, Dezember 2023, S. 6.
4 Vgl. hierzu das Standardwerk von Johan Bouman: Der Koran und die Juden. Geschichte einer Tragödie, Darmstadt 1990.
5 Vgl. hierzu Georges Bensoussan: Die Juden der arabischen Welt. Die verbotene Frage, Berlin/Leipzig 2019, S. 146.
6 Vgl. Guido Steinberg: Die Muslimbruderschaft und die Hamas. Zu den ideologischen Wurzeln von islamistischem Judenhass und Antisemitismus, SWP-Aktuell 2023/A 65, 18.12.2023.
7 Vgl. hierzu das Standardwerk von David Motadel: Für Prophet und Führer. Die islamische Welt und das Dritte Reich, Stuttgart 2017.
8 Vgl. hierzu Matthias Küntzel: Islamischer Antisemitismus, CARS-Working Paper, Nr. 4, Aachen 2022.
9 Vgl. Ednan Aslan: „Das Judentum im islamischen Religionsunterricht“, in: ders. (Hrsg.): Handbuch Islamische Religionspädagogik, Teil 1, Göttingen 2022, S. 877 f.
Anmerkung der Redaktion: Dies ist der zweite Teil einer Reihe von Beiträgen zum Thema „Antisemitismus“, die in diesem Jahr fortgesetzt wird. Der erste Teil dieser Reihe stammt von Marko Martin: „Im Gewand der Moral. Über die nicht zuletzt linken Wurzeln des gegenwärtigen Judenhasses“, in: Die Politische Meinung, Nr. 584, POM 24/I, Februar 2024, S. 99–102.