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Interview: „Alarmzeichen endlich wahrnehmen“

Thorsten Frei über die Ursachen der Unzu­friedenheit und einen dysfunktionalen Staat

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Wie beurteilen Sie das Aus der Ampelregierung, und wie kann Deutschland zu einer stabilen Regierung kommen?

Thorsten Frei: Unser Land leidet darunter, dass das Ende dieser Koalition erst so spät kommt. Die „Zeitenwende“, die Olaf Scholz richtigerweise ausgerufen hatte, hat diese Bundesregierung letztlich nicht umgesetzt. Anstatt den Worten auch Taten folgen zu lassen, scheiterte die Ampel an dem Versuch, ihren ursprünglichen Koalitionsplan trotz der völlig veränderten Lage und der Energiekrise mit aller Gewalt durchzuboxen. Das konnte nicht gelingen. Die Prioritäten hätten unmittelbar nach Beginn des russischen Angriffskriegs neu gesetzt werden müssen.

IMAGO / Future Image

Welche Auswirkungen hat der Wahlausgang in den Vereinigten Staaten auf Deutschland?

Wir sollten uns mit Spekulationen zurückhalten, zumal die USA unser wichtigster Partner außerhalb der Europäischen Union sind. Die neue US-Administration strebt voraussichtlich eine Verschärfung der Zollregularien an, die in der Tat zu Schwierigkeiten für unser exportorientiertes Land führen könnten. Allerdings haben wir es mit diesen Herausforderungen bereits seit mehreren Jahren zu tun. Die Debatten um die Handelspolitik hatten sich bereits in der ersten Amtsperiode von Donald Trump verschärft und wurden in weiten Teilen von der Biden-Administration fortgeschrieben. Die Ampelkoalition wäre daher gut beraten gewesen, gut funktionierende Gesprächskanäle zu beiden politischen Lagern Amerikas aufzubauen. Das gleiche gilt für die Sicherheitspolitik. Donald Trump und sein Team erachten bekanntermaßen das Machtstreben der Volksrepublik China als die größte geopolitische Herausforderung. Den Frieden in Europa wiederherzustellen und dauerhaft zu bewahren, wird in Washington zuallererst als eine Aufgabe angesehen, die von uns Europäern zu leisten ist. Ob uns diese Kurskorrektur gefällt oder nicht: Deutschland und Europa müssen sich in Zukunft verstärkt um ihre eigene Sicherheit kümmern.

 

Die wirtschaftliche Stimmung in Deutschland ist von Verunsicherung geprägt. Können Sie das nachvollziehen?

Die deutsche Wirtschaft hängt nun schon das zweite Jahr in Folge in einer Rezession fest. Auch die Prognosen für 2025 sind düster. Viele Bürger spüren, dass wir es nicht mit einer Konjunkturdelle zu tun haben, sondern mit tiefgreifenden strukturellen Problemen. Viele gut dotierte Arbeitsplätze fallen weg. Natürlich schlägt das auf die Stimmung.

Die teils chaotische und schwer vorhersehbare Lage am Strom- und Energiemarkt trägt zu einer schleichenden Deindustrialisierung bei und muss dringend entschärft werden. Allein in den vergangenen drei Jahren sind in Deutschland 300.000 Industriearbeitsplätze verloren gegangen. Eine Unternehmenssteuerreform ist überfällig. Wir müssen die Ärmel hochkrempeln und die Standortbedingungen in Deutschland verbessern. Es wird Zeit, dass wir die Fesseln, die wir uns selbst angelegt haben, lösen.

 

Welche Gründe gibt es für die Unzufriedenheit in Deutschland?

Die wachsende Dysfunktionalität des Staates ist nicht akzeptabel. Viele Menschen gewinnen den Eindruck, dass sie unter einer hohen Abgabenlast leiden und dafür zu wenig zurückerhalten. Die Krise der Bahn spricht Bände. Die Lage in den Kitas ist nicht hinnehmbar, ebenso wenig die Ausstattung und die Lehrerversorgung in unseren Schulen. Die öffentliche Infrastruktur wirkt zunehmend überlastet. Die Ursachen dieser Entwicklung sind vielfältig. Aber es hilft nicht, dass ausgerechnet in dieser Lage viele Menschen irregulär über die Grenzen kommen und wie selbstverständlich die hiesige Infrastruktur in Anspruch nehmen.

 

Studien zeigen, dass die Zukunftsängste insbesondere unter Jugendlichen weltweit zunehmen. Was sagen Sie diesen Jugendlichen?

Die Geschichte unseres Landes ist eine Geschichte des Wiederaufstehens. Nichts hat unser Land so sehr geprägt wie der Wiederaufbau nach dem Zweiten Weltkrieg. Welche Perspektiven hatte die damalige Jugend? Wo sich heute das Zentrum des deutschen Parlamentarismus befindet, standen damals nur Ruinen. Die Menschen haben den Schutt beiseite geräumt und neu angefangen. Oder die schwierige Phase nach dem Fall des Eisernen Vorhangs: Die Menschen in der DDR mussten mitansehen, wie ihre Betriebe zusammenbrachen – ohne zu wissen, wie es danach weitergeht. Rückblickend erscheint vieles geradezu einfach. Aber erinnern wir uns: 1990 brach die vermeintlich „erfolgreichste Volkswirtschaft des Ostblocks“ quasi über Nacht zusammen. Viele Menschen standen vor den Trümmern ihrer Existenz. Auch sie haben die Ärmel hochgekrempelt, die Chancen der wiedergewonnenen Freiheit erkannt und sich dem Neuen zugewandt, auch wenn es zunächst fremd und unsicher erschien.

Von diesen existenziellen Momenten sind wir glücklicherweise weit entfernt. Aber auch heute steht die junge Generation vor schwierigen Aufgaben. Da gibt es beispielsweise Chancen und Risiken, die mit der Künstlichen Intelligenz verbunden sind und sicherlich große Teile des Wirtschaftslebens prägen werden. Da ist der Wettbewerb der politischen Systeme, wenn wir an das aufstrebende China denken. Und da ist die demografische Schieflage, in der sich unsere Gesellschaft ebenso befindet wie die Gesellschaften anderer Industriestaaten, einschließlich China.

Als Vater von drei Kindern bin ich zuversichtlich, dass die nachwachsende Generation dennoch großartige Möglichkeiten besitzt, wenn wir heute unsere Hausaufgaben machen. Gerade in Deutschland gilt, dass den jungen Menschen in der Bildung viele Türen offenstehen. Anders als in den USA und vielen anderen Ländern ist höhere Bildung hierzulande sogar kostenlos oder zumindest kostengünstig. Die heutige junge Generation wird von unzähligen Firmen und staatlichen Einrichtungen umworben. Wer sich lernwillig und einsatzbereit zeigt, ist hochwillkommen. In den 1980er- und 1990er-Jahren hatten wir einen Arbeitgebermarkt, heute ist es ein Arbeitnehmermarkt. Im Dickicht der täglichen Herausforderungen ist es wichtig, die eigenen Chancen im Blick zu behalten.

 

Gibt es aus Ihrer Sicht auch positive Nachrichten aus der Politik?

Selbstverständlich! Hierzulande neigen wir dazu, das Glas stets als halbleer zu sehen. Manchmal wäre es sinnvoller, es als halbvoll zu betrachten. Trotz der jüngsten Rückgänge haben wir noch immer hohe und weiter steigende Steuereinnahmen. Gerade auf der Bundesebene sehen wir kein Einnahme-, sondern ein Ausgabenproblem. Wenn wir die Schwerpunkte richtig setzen, könnten wir eine Menge gewinnen. Zurzeit arbeiten wir an einem Entwurf für das Regierungsprogramm. Bei dieser Detailarbeit wird mir einmal mehr deutlich, welch enormes Potenzial wir hierzulande haben. Deutschland ist ein schlafender und gefesselter Tiger, den wir wecken und befreien müssen.

 

Welche Verantwortung trägt die gescheiterte Ampelregierung für das Stimmungstief?

Ich will keine billige Schelte betreiben. Aber es ist eine schlimme Entwicklung, wenn die Regierung über Jahre Missstände einfach nicht wahrhaben will. Es ist für alle Welt sichtbar, dass die Belastungen für Bürger und Unternehmen einfach zu hoch sind. Es ist ein Alarmzeichen, wenn sich Mittelständler bei mir melden und vor einer wachsenden Planwirtschaft warnen. Der Staat hatte in der Geschichte genügend Gelegenheiten, zu lernen, dass er nicht der bessere Unternehmer ist. Im Gegenteil. Leider kann von einer durchdachten Industriepolitik keine Rede sein. Auch war es keine gute Idee, bestimmte Vorstellungen mit der Brechstange durchzusetzen – Stichwort E-Mobilität.

 

Aus der deutschen Wirtschaft kommen Hiobsbotschaften – Volkswagen, Intel, MEYER WERFT, um nur drei Stichworte zu nennen. Ist die ökonomische Verunsicherung der Hauptgrund für die schlechte Stimmung?

Leider muss man sagen, dass die gescheiterte Ampelkoalition in einen „perfekten Sturm“ hineinsteuerte. Bisher war die Rezession nicht so direkt spürbar, weil sich der Arbeitsmarkt durch die demografische Entwicklung zunächst stabil zeigte. Nun aber kündigen sich Entlassungen in größerem Stil an. Hinzu kommt die wachsende Erkenntnis, dass unser Land an vielen Stellen einfach nicht mehr gut funktioniert. Das beginnt bei unbesetzten Lehrerstellen sowie überfüllten Schulklassen und reicht über eine angespannte Sicherheitslage bis hin zu einer schlechter werdenden Gesundheitsversorgung.

 

Steht Deutschland vor einer schleichenden Deindustrialisierung?

Bedauerlicherweise ja. Viele Investitionsentscheidungen werden auf die lange Bank geschoben, ins Ausland umgesteuert oder gänzlich gestrichen. Diese Entwicklung wird leider auch von außen beobachtet. Die ausländischen Investitionen in Deutschland gehen massiv zurück, der Nettokapitalabfluss ist gewaltig.

 

Inwiefern profitieren Populisten von der pessimistischen Stimmung in Deutschland?

Ich würde nicht von einer pessimistischen Stimmung sprechen. Vielmehr schauen die Bürger ohne Scheuklappen auf die Lage in unserem Land und stellen nüchtern fest, dass auf objektive Missstände nicht oder nicht ausreichend reagiert wird. Fragen Sie Eltern, wie es an vielen Schulen um die Situation in den Klassenräumen bestellt ist. Das ist an einigen Orten nicht mehr hinnehmbar. Ich kann gut nachvollziehen, dass die Stimmung kippt, wenn die eigenen Kinder keinen vernünftigen Unterricht erleben. Es mangelt an gut ausgebildeten Lehrern. Und zur Wahrheit gehört auch, dass es zu viele Klassen gibt, in denen zu viele Schüler dem Unterricht in deutscher Sprache nicht folgen können. Der Anteil der Schüler, der auch in höheren Klassen nicht vernünftig lesen, schreiben oder rechnen kann, ist einfach zu hoch. Diese Fehlentwicklungen machen sich Populisten zunutze. Jetzt liegt es an uns, an den Kräften der politischen Mitte, zügig gegenzusteuern.
 


Die jüngsten islamistischen Anschläge in Solingen und in Mannheim haben die Bevölkerung stark verunsichert. Was muss man tun, um die Sicherheit der Menschen wieder zu gewährleisten?

Die allererste Aufgabe des Staates ist die Gewährleistung der inneren und äußeren Sicherheit. Dass ausgerechnet in diesem Bereich etwas ins Rutschen gerät, ist alarmierend. Zu viele Bürger fühlen sich nicht mehr sicher im eigenen Land. Es ist fatal, dass die Bundesregierung – entgegen ihren eigenen Ankündigungen – in dieser angespannten Stimmung nicht in der Lage war, ein vernünftiges Sicherheitspaket zu verabschieden. Der Staat muss doch wissen, wer einreist. Er muss wissen, wer Asyl oder Schutz beantragt. Um es klar zu sagen: Wer keinen Anspruch hat, muss Deutschland verlassen. Deutschland muss selbstverständlich Personen, die versuchen, illegal über Staaten der Europäischen Union oder die Schweiz in die Bundesrepublik einzureisen, auch direkt an den deutschen Grenzen zurückweisen können.

 

Wie kann das Thema Migration dauerhaft gelöst werden?

Der Staat muss wieder die Kontrolle darüber gewinnen, wer in unser Land kommt. Es darf nicht sein, dass kriminelle Schlepperbanden entscheiden, wer nach Europa kommt und wer nicht. Kurzfristig brauchen wir deshalb umfassende Zurückweisungen an unseren Grenzen. Klar ist auch: Flüchtlinge haben einen Anspruch auf Schutz vor Folter, Tod und Verfolgung. Sie besitzen jedoch kein Anrecht darauf, sich auszusuchen, wo sie leben möchten. Kurz gesagt: Das Konzept der Sicheren Drittstaaten, wie es auch im CDU-Grundsatzprogramm steht, würde bedeuten, dass Schutzsuchende in einem sicheren Staat außerhalb der Europäischen Union Zuflucht finden. Dort würde über ihren Asylantrag entschieden werden, und dort würden sie nach einem positiven Bescheid auch bleiben. Darüber hinaus könnte die Europäische Union aus humanitären Gründen gewisse Kontingente an Flüchtlingen aufnehmen – zum Beispiel Menschen, die besonders geschwächt und schutzbedürftig sind. Glücklicherweise gibt es Staaten, die bereits Interesse signalisiert haben, sich als Aufnahmeländer zur Verfügung zu stellen. Die Umsetzung wird im Detail sicherlich nicht einfach sein. Aber angesichts der gegenwärtigen Überlastung in unseren Gemeinden und Städten sollte uns die Lösung des Problems alle Mühe wert sein.

 

Die Höhepunkte der Klimaproteste scheinen vorbei zu sein. Dennoch haben Klimabewegungen zum Teil apokalyptische Weltuntergangsszenarien propagiert. Wie geht man damit um?

Der Klimawandel ist eine Realität, die uns alle herausfordert. Auch unionsgeführte Regierungen haben sich dieser Aufgabe mit viel Engagement gestellt und äußerst weitreichende Weichenstellungen getroffen.

Der große Unterschied zur zerbrochenen Ampelkoalition besteht in unserer Technologieoffenheit. Wir halten es für richtig, Forscher, Ingenieure und Unternehmen zu unterstützen, unterschiedlichste Wege einzuschlagen, um Treibhausgase gar nicht erst entstehen zu lassen und bereits vorhandene Treibhausgase aus der Luft abzuscheiden, zu speichern oder zu verarbeiten. Wir wollen dazu ermuntern, mit Blick auf unser gemeinsames Ziel auch ungewöhnliche Wege auszuprobieren. Schauen Sie sich die jüngsten Entscheidungen der Konzerne Google und Microsoft an, die ihren immens wachsenden Strombedarf aus klimaneutralen Quellen beziehen wollen. Wie selbstverständlich denken sie auch darüber nach, neu entwickelte Kernkraftwerke zu nutzen. Oder, um es anders zu sagen: Für apokalyptische Vorhersagen stehen wir nicht zur Verfügung. Wir vertrauen auf den Erfindungsreichtum des Menschen.

 

Die Ukraine befindet sich in ihrem Freiheitskampf gegen die russische Aggression in der Defensive. Ist Deutschlands Hilfe ausreichend?

In der Reihe der Staaten, die die Ukraine unterstützen, steht Deutschland ganz vorn. Dabei geht es nicht allein um Waffen, die zur Verteidigung eingesetzt werden. Vor allem finden Frauen und Kinder aus den umkämpften Gebieten hierzulande Zuflucht. Bei all den Hilfestellungen sollte uns bewusst sein, dass es nicht allein um einen Konflikt geht, der sich weit entfernt im Osten abspielt. Verteidigt wird nicht nur das Existenzrecht der Ukraine, sondern auch der Erhalt der internationalen Ordnung, unserer Nachkriegsfriedensordnung, die jahrzehntelang Garant von Frieden, Freiheit und Wohlstand war. Sollte sich der Kriegsherr Putin mit seiner Gewalt durchsetzen, fallen wir zurück in düstere Zeiten. Dann herrscht nicht mehr die Stärke des Rechts, sondern wieder das Recht des Stärkeren.

 

Thorsten Frei, geboren 1973 in Säckingen, seit 2013 Mitglied des Deutschen Bundestages, seit 2021 Erster Parlamentarischer Geschäftsführer der CDU/CSU-Bundestagsfraktion.

Die Fragen stellte Ralf Thomas Baus am 18. November 2024.