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Interview: Auf dem Olymp des statistischen Mittels

Der Bürgermeister von Haßloch zu den Unterschieden zwischen Kauf- und Wahlverhalten

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Ihre Gemeinde mit 21.000 Einwohnern hält den deutschen Rekord in Durchschnittlichkeit. Haßloch sei „Mini-Deutschland“, wo Otto-Normal-Verbraucher samt Familie zu Hause sei. Wie lebt es sich auf dem Olymp des statistischen Mittels?


Lothar Lorch: Es lebt sich gut in Haßloch, der Alltag gestaltet sich wohl nicht wesentlich anders als in vergleichbaren Kommunen der Region. Die Zuschreibung von „Durchschnittlichkeit“ verdanken wir der Konsumforschung, die seit 1986 bei uns Produkte testet. In den Anfangsjahren gab es den einen oder anderen ironischen Kommentar, heute wertet es uns auf, indem man eher den Begriff der Repräsentativität in den Vordergrund rückt. Internationale Medien interessieren sich für Haßloch – aus den USA, den Niederlanden, der Schweiz, Großbritannien und Australien hatte ich bereits Anfragen.


Seit 32 Jahren werden „schnell drehende Konsumgüter“, also Waschmittel, Schokoriegel, Eissorten und so weiter, getestet – mit erstaunlich exakten Vorhersagen für ihren künftigen Marktanteil. Was haben die Haßlocher davon, der „Traum jedes Marktforschers“ zu sein?


Lothar Lorch: Ich denke, sie gehen relativ gelassen damit um und nehmen das nicht als eine Besonderheit wahr. Über 3.000 Haushalte beteiligen sich, ohne sonderlich viel davon zu haben: eine kostenlose Fernsehzeitschrift, Verlosungen und Einkaufsgutscheine gibt es nach meinen Informationen. Als Kommune können wir ab und zu auf anonymisierte Daten zurückgreifen, die uns die Planung erleichtern. Aber finanziell verdient die Gemeinde durch die Marktforschung leider nichts.


Haßloch steht für das Ganze, jedenfalls wenn es um Konsumgüter geht. Doch wie weit reicht diese Repräsentativität? Lässt sich in Haßloch erfahren, wie Deutschland tickt – beispielsweise in der Politik?


Lothar Lorch: Diese Frage hat die TV-Teams und Printmedien auch umgetrieben und nach Haßloch geführt. Die Ergebnisse der Konsumgüterforschung sind berechenbar; für das Wahlverhalten gilt das aus meiner Sicht weit weniger. Manche glaubten sogar, aus Konsumentscheidungen Wahlentscheidungen ableiten zu können.


Um es auf die Spitze zu treiben: Ich glaube nicht, dass sich aus dem Kauf des Schokoriegels A, B oder C sicher darauf schließen lässt, wer CDU, SPD, Grüne oder was auch immer wählt. Es sind sehr unterschiedliche Dinge, um die es hier geht. Hinzu kommt, dass man nicht einfach von Wahlen sprechen kann – denn diese finden bei der Bundestags-, Landtags- oder Kommunalwahl unter verschiedenen Voraussetzungen und mit unterschiedlichen Themen statt.


In Haßloch leben berechenbare Konsumenten, aber offenbar unberechenbare Wähler. Das Wahlergebnis der Landtagswahlen 2016 erbrachte einen weit über dem Landesdurchschnitt liegenden Stimmenanteil für die AfD (18,8 Prozent). Wie haben Sie darauf reagiert?


Lothar Lorch: Zunächst haben wir analysiert, wie es zu diesem Wahlergebnis gekommen ist, und uns die Entwicklungen in den sechzehn hiesigen Stimmbezirken angesehen. Es gab eindeutig starke Verluste bei den Volksparteien CDU und SPD zugunsten der AfD. In Vierteln, in denen das besonders zutraf, haben wir die Bürgerinnen und Bürger angesprochen, aber kaum einer hat sich damals offen als AfD-Wähler zu erkennen gegeben und erklärt, warum er sich so entschieden hat. Dennoch war der Eindruck, dass es in gewissen Bereichen – vor allem bei der Flüchtlingspolitik, aber auch bei den europäischen Hilfsgeldern – eine Unzufriedenheit mit der Regierung Merkel gab.


Bei der Bundestagswahl 2017 hat die AfD zwei Prozent weniger bekommen, aber inzwischen gibt es in Haßloch auch offiziell einen AfD-Ortsverein, und ich gehe davon aus, dass er im nächsten Jahr bei der Kommunalwahl im Mai 2019 in Rheinland-Pfalz antreten wird. Dann wird es hoffentlich konkreter, und es dürfte nicht mehr ausreichen, allein die großen Themen Flüchtlinge und Schuldenkrise emotional zu bedienen. In der Kommunalpolitik muss man bei eng umrissenen Fragen Farbe bekennen. Da lässt sich die AfD stellen.


Ansonsten rate ich dazu, sich ernsthaft, selbstkritisch und offen mit den Gegebenheiten auseinanderzusetzen, ohne politisch gleich in eine gewisse Ecke gerückt zu werden. Man muss den Bürgerinnen und Bürgern zuhören, aber auch von ihnen erwarten, dass sie sich sachkundig machen. Umgekehrt heißt das für die Parteien, auf dieses Interesse zu antworten – also zu informieren, vor allem aber auch ihre spezifischen politischen Angebote zu verdeutlichen. Dann geht es darum, die politischen Mitbewerber dazu zu bringen, echte und konkrete Alternativen aufzuzeigen und nicht auf populistische Art und Weise wohlfeile Grundsatzkritik zu verkünden.


Sie haben Ihren Schreibtisch auf den Marktplatz von Haßloch gestellt und den Bürgerdialog sehr wörtlich genommen. Ist das eine Antwort auf die Wahlergebnisse?


Lothar Lorch: Das war sozusagen eine „Open-Air-Sprechstunde“, die originär nichts mit den Wahlergebnissen 2016 zu tun hatte. Der Gedanke war, dass man sehr viel Zeit im Rathaus mit Sitzungsterminen verbringt, aber eigentlich mal die Chance haben sollte, noch mehr rauszugehen und vor Ort präsent zu sein – zumal manche Bürgerinnen und Bürger eine gewisse Hemmschwelle haben, ins Rathaus zu gehen. Seit zwei Jahren mache ich diese Aktionstage, und die Erfahrung ist, dass mich die Leute durchaus ansprechen. Dabei geht es bisher ausschließlich um kommunale Fragen, oft mit eigener Betroffenheit: Verkehrsführung, Zustand öffentlicher Straßen und Spielplätze und so weiter.


Insgesamt stelle ich fest, dass zumindest bei Landtags- und Bundestagswahlen Emotionen eine wachsende Rolle spielen – nach Fukushima, nach der Flüchtlingswelle. Diese lassen sich vor Ort kaum einfangen. Bei Kommunalwahlen, wenn es um praktische Dinge geht, ist das anders. Da lässt sich auch der politische Gegner stellen, der auf diesen emotionalen Wellen reitet.


Das ist aber nur eine Antwort für die lokale Ebene. Protesthaltungen sind in den meisten Fällen nicht so verfestigt, dass man sie nicht auflösen könnte. Vor allem glaube ich, dass es zur Flüchtlingsfrage klarer Aussagen auch über Begrenzungen bedarf. Das Thema nimmt viel zu viel Raum ein – davon profitiert nur eine Partei.


Würden Sie sagen, dass die Politik bei diesen, aber auch anderen Fragen den Normalbürger, wie er – statistisch betrachtet – in Haßloch besonders zu Hause ist, ein Stück aus den Augen verloren hat?


Lothar Lorch: Jedenfalls ist das eine Beobachtung, die ich selbst in meinem Alltag mache. Ob man Zeitung liest oder den Fernseher einschaltet – allzu oft geht es um das gleiche Thema – nämlich um das der Flüchtlinge und aller damit verbundenen Schwierigkeiten. Man kann fast dankbar sein, dass momentan wieder verstärkt auch über andere Fragen wie Renten oder Steuerentlastungen gesprochen wird, die den Normalbürger unmittelbar betreffen und wieder deutlicher in den Mittelpunkt rücken. Mein Eindruck ist, dass bestimmte Themen, die einige Minderheiten auch zu Recht interessieren, aber die große Masse weit weniger, sehr viel Aufmerksamkeit erhalten.


Wozu raten Sie Ihrer Partei, der CDU, wenn sie nun ein neues Grundsatzprogramm in Angriff nimmt?


Lothar Lorch: Klare Aussagen und Profilierung, damit es nicht weiter heißt, wenn ich mit Bürgerinnen und Bürgern ins Gespräch komme: Es ist egal, ob ich Partei A, B oder C wähle, und am Ende kommt dann irgendwie eine Koalition zustande, die ich so nicht wollte. Die Wähler wünschen sich, dass getan wird, was gesagt wurde, dass nicht jede Zusage infrage steht – noch nicht einmal für eine Regierungsbildung. Wenn die Gesellschaft sich immer weiter differenziert und es immer schwieriger wird, klare Mehrheiten zusammenzubekommen, dann sollte man statt widersprüchlicher Kompromisse vielleicht lieber ein Wahlrecht anstreben, das – wie in Frankreich beispielsweise – der stärksten Partei einen Bonus für den Regierungsauftrag mitgibt.




Das Gespräch führte Bernd Löhmann am 23. August 2018.




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Lothar Lorch, geboren 1957 in Haßloch, seit 2013 Bürgermeister der Gemeinde Haßloch (Pfalz).

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