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Eberhard Zorn, Generalinspekteur der Bundeswehr, über die Einsatzbereitschaft der Truppe und ihre Modernisierung

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Herr General, Sie sind seit 2018 Generalinspekteur der Bundeswehr. Als ranghöchster Soldat sind Sie truppendienstlicher Vorgesetzter aller Soldatinnen und Soldaten. Wie ist die Stimmung in der Truppe?

Eberhard Zorn: Ich versuche, so häufig wie möglich bei der Truppe zu sein. Gerne auch unangekündigt, damit ich einen unverfälschten Einblick bekomme. Dies ist wesentlich für meine Arbeit, ich muss wissen, wo bei unseren Soldatinnen und Soldaten der Schuh drückt. Grundsätzlich ist die Stimmung in der Truppe gut. Die Entscheidung zum Sondervermögen sowie der steigende Haushalt in den vergangenen Jahren haben unsere Frauen und Männer positiv aufgenommen. Es herrscht Aufbruchstimmung! Dabei bedrückt uns alle der Krieg in der Ukraine. Wichtig ist, dass nun weitere Verbesserungen schnell bei der Truppe ankommen. Stichwort: persönliche Ausrüstung. Aber sicherlich gibt es auch Herausforderungen. Viele unserer Liegenschaften sind in die Jahre gekommen. Häufig hängen wir dem ursprünglichen Renovierungsplan deutlich hinterher. Hier müssen wir die Prozesse weiter straffen und bürokratische Hürden abbauen.

 

Sie haben Ihre militärische Laufbahn noch im Kalten Krieg im Juli 1978 an der Artillerieschule in Idar-Oberstein begonnen. Wie hat sich Ihre Arbeit seither verändert?

Eberhard Zorn: Niemand kontrolliert morgens mehr, ob ich mein Bett auch ordentlich gemacht habe. Nein, Spaß beiseite. Ich habe natürlich während meiner Dienstzeit miterlebt und auch mitgestaltet, wie sich die Aufträge, die unser Parlament der Bundeswehr gegeben hat, gewandelt und erweitert haben. Die erste Dekade meiner Dienstzeit fand im Kalten Krieg statt. Vieles, was ich damals als junger Offizier gelernt habe, ist jetzt wieder das Tagesgeschäft unserer Frauen und Männer. Ich habe die Wiedervereinigung erlebt und die Integration der ehemaligen Nationalen Volksarmee der DDR in die Bundeswehr. Ab den 1990er-Jahren kamen dann die Auslandseinsätze hinzu und in der Folge des 11. Septembers 2001 der Afghanistan-Einsatz. Gerade Afghanistan hat unsere Frauen und Männer geprägt. Es ist daher wichtig, dass wir diesen Einsatz in seiner Gesamtheit im Bundestag aufarbeiten werden.

Seit der Annexion der Krim 2014 fokussieren wir uns wieder auf die Landes- und Bündnisverteidigung, wenngleich die Front jetzt 1.000 Kilometer weiter östlich liegen würde. Bei all den Dingen, die sich in unserer täglichen Arbeit geändert haben, ist eines gleich geblieben. Das sind die Menschen, mit denen wir zusammenarbeiten dürfen. Seit jeher war mir ein wertschätzender Umgang mit den Frauen und Männern, die ich führen durfte, sehr wichtig. Egal, wo Sie in einer Hierarchie stehen, man sollte nie vergessen, wo man herkommt!

 

Als Generalinspekteur sind Sie auch für die Gesamtkonzeption der militärischen Verteidigung zuständig. Inwieweit ist die Truppe einsatzbereit?

Eberhard Zorn: Die Bundeswehr hat stets die an sie gestellten Aufgaben erfüllt. Dies wird sich auch nicht ändern. Allein bis Ende 2024 stellen wir jedes Jahr circa 15.000 Soldatinnen und Soldaten für die schnelle Eingreiftruppe der NATO bereit. Wir verstärken gerade unsere Kräfte in Litauen um eine Kampftruppenbrigade. Truppenteile der Brigade werden abwechselnd nach Litauen verlegt, um dort gemeinsam mit den litauischen Streitkräften sowie unseren Partnern zu trainieren. Hinzu kommt unser dauerhaft stationierter Gefechtsverband. Wir haben Patriots und Infanteriekräfte in die Slowakei verlegt. In Estland und Polen schützen unsere Eurofighter den Luftraum. Die Marine hat zusätzliche Schiffe in die Ost- und Nordsee entsandt. Zudem haben unsere Frauen und Männer während der Pandemie, nach den furchtbaren Überschwemmungen letztes Jahr im Ahrtal oder dieses Jahr bei den zahlreichen Waldbränden geholfen. Deutschland kann sich auf seine Bundeswehr verlassen.

 

Die Bundesregierung stellt ein schuldenfinanziertes Sondervermögen von 100 Milliarden Euro bereit. Ist das ausreichend für eine nachhaltige Modernisierung der Bundeswehr?

Eberhard Zorn: Das Sondervermögen ermöglicht es uns, Beschaffungsprojekte gleichzeitig zu realisieren, die wir sonst aufgrund des Haushaltszwanges zeitlich gestaffelt hintereinander hätten angehen müssen. Die Bundeswehr braucht eine inflationsbereinigte nachhaltige Finanzausstattung, die sich am Zwei-Prozent-Ziel der NATO ausrichtet. Das Sondervermögen muss daher immer mit dem Verteidigungshaushalt gemeinsam betrachtet werden. Ich gehe davon aus, dass dies auch der Fall sein wird, wenn die Mittel aus dem Sondervermögen aufgebraucht sind. Die Politik hat uns mit dem Sondervermögen und den verbesserten Rahmenbedingungen bei der Beschaffung den notwendigen Rahmen für eine Modernisierung der Truppe geschaffen.

 

Die Bundeswehr soll sich nach dem Angriff Russlands auf die Ukraine nun wieder auf die Bündnis- und Landesverteidigung konzentrieren. Seit Längerem schon haben Sie eine sogenannte Kaltstartfähigkeit der Bundeswehr gefordert. Was ist damit gemeint?

Eberhard Zorn: Seit den 1990er-Jahren war die Bundeswehr vornehmlich in Stabilisierungseinsätzen eingesetzt. Unsere Strukturen hatten wir dahingehend angepasst. Dies war einerseits dem durch das Parlament gegebenen Auftrag geschuldet, andererseits zwangen uns die beschränkten haushälterischen Mittel dazu. Wir waren planbar einsatzbereit. Ein Truppenteil hat sich gezielt auf seinen vorgeplanten Einsatz vorbereitet. Eine ad hoc auftretende Bedrohung war wenig wahrscheinlich – sprich ein Angriff auf das Bündnisgebiet der NATO. Dies hat sich seit der Krim-Annexion und vor allem seit dem 24. Februar 2022 geändert. Wir brauchen wieder voll ausgestattete und komplett ausgebildete Großverbände, die wir ohne lange Vorbereitungszeit an die Front verlegen können. Sie müssen kaltstartfähig sein.

 

Den größten Anteil des Sondervermögens erhält die Luftwaffe mit 33,4 Milliarden Euro, das Heer hingegen nur 16,6 Milliarden Euro. Der Modernisierungsbedarf beim Heer ist wesentlich größer. Wann und wie soll dort nachgesteuert werden?

Eberhard Zorn: Da muss ich kurz einhaken. Die einzelnen Titel des Sondervermögens sind Dimensionen zugeordnet und nicht den Teilstreitkräften. Es geht ein Gros an die Dimension Luft und nicht an die Luftwaffe. In der Dimension Luft sind zum Beispiel auch neue Seefernaufklärer für die Marine subsumiert. Die Investitionen für die Digitalisierung des Heeres sind wiederum in der Dimension Führungsfähigkeit des Sondervermögens abgebildet. Richtig ist aber auch, dass neue Flugzeuge, Hubschrauber oder Schiffe meistens deutlich teurer sind als ein Schützenpanzer.

Die einzelnen Projekte des Sondervermögens sind mit allen Inspekteuren abgestimmt, und das Heer kommt gewiss nicht zu kurz. General Mais wird ab diesem Herbst beginnen, das Heer umzugliedern. Ähnlich den US-amerikanischen Stryker-Brigaden plant er, Teile des Heeres auf die Räder zu bringen. Er schafft damit eigenbewegliche Kräfte, die sich bei einer Alarmierung schnell selbst beispielsweise ins Baltikum oder nach Polen verlegen können. Mais will dazu einige Marder-Verbände zukünftig mit Boxern und nicht mit dem Schützenpanzer Puma ausstatten.

 

Die Bundeswehr hat derzeit 178.000 Soldatinnen und Soldaten. Ist dieser Umfang für die bevorstehenden Aufgaben ausreichend?

Eberhard Zorn: Derzeit dienen etwa 183.000 Soldatinnen und Soldaten in der Bundeswehr. Unser Ziel ist es, dass wir in den kommenden Jahren auf 203.000 Frauen und Männer aufwachsen. Die demografische Entwicklung müssen wir dabei im Auge behalten.

 

Die Landesverteidigung stützt sich auch auf Panzerverbände. Von einst sechs Panzerdivisionen im Kalten Krieg sind nur noch zwei übrig geblieben. Wird sich dies mittelfristig ändern?

Eberhard Zorn: Die Landes- und Bündnisverteidigung fordert die Bundeswehr in allen Dimensionen. Luft-, See- und Landstreitkräfte ergänzen sich. Hinzu kommt die Bedrohung durch Cyberangriffe. Eine reine Fokussierung auf das Heer ist zu kurz gesprungen. Auch während des Kalten Krieges war die Bundeswehr nicht in der Lage, das Territorium der Bundesrepublik Deutschland allein zu verteidigen. Dies hätten wir immer gemeinsam mit unseren NATO-Verbündeten getan.

 

Wie sehen Sie in Zukunft das Engagement der Bundeswehr im Ausland? Derzeit sind 2.000 bis 2.500 Soldatinnen und Soldaten in Auslandseinsätzen gebunden.

Eberhard Zorn: Wir haben stets unsere Einsatzverpflichtungen erfüllt, egal ob im NATO-, EU- oder UN-Rahmen. Solange unser Parlament uns in die Einsätze schickt, werden wir dort abgestimmt mit unseren Partnern unseren Auftrag erfüllen. In vielen Einsätzen bringen wir ja nicht nur Personal ein, sondern auch Hochwertfähigkeiten, die wesentlich sind für den Missionsauftrag. Bei MINUSMA stellen wir beispielsweise mit unseren Transporthubschraubern eine solche Komponente.

 

Russland bedroht Europa mit in Kaliningrad stationierten Iskander-Raketen, die auch nuklear bestückt werden können. Brauchen wir einen Raketenschutzschirm?

Eberhard Zorn: Ich hoffe nicht, dass wir ihn jemals einsetzen werden. Aber wir werden ein entsprechendes System beschaffen, das dann in die integrierte Luftverteidigung der NATO entlang der Ostflanke eingebunden wird.

 

Der Angriffskrieg gegen die Ukraine hat den sicherheitspolitischen Fokus auf Europa gelenkt. Wie sehen Sie die Herausforderungen für die NATO und die Bundeswehr im Indo-Pazifik?

Eberhard Zorn: Ich denke, es ist wichtig, dass wir unseren Wertepartnern in der Region zeigen, dass wir an ihrer Seite stehen. Letztes Jahr haben wir erstmals seit zwanzig Jahren eine Fregatte in die Region entsandt. Dieses Jahr beteiligt sich die Luftwaffe mit sechs Eurofightern, Tank- und Transportflugzeugen an einer Übungsserie in Australien. Besuche in Japan und Südkorea stehen ebenfalls auf dem Programm. Für das kommende Jahr plant das Heer, sich an einer Übung in Australien zu beteiligen, und für das Jahr darauf planen wir, einen Flottenverband in die Region zu entsenden. Eines muss klar sein: dass ein größerer Nachbar einen kleineren angreift, darf keine Nachahmer finden.

 

Abgesehen von den Faktoren Mensch, Material und Munition: Für eine nachhaltige „Zeitenwende“ braucht es auch ein unverkrampftes Verhältnis zwischen Bundeswehr und Bevölkerung. Wie kann dies verbessert werden?

Eberhard Zorn: Die Bundeswehr ist aus der Fläche verschwunden. Soldatinnen und Soldaten gehören in manchen Regionen nicht mehr zum Alltagsbild. In anderen Landstrichen sind sie seit Jahrzehnten fest verwurzelt im gesellschaftlichen Leben. Mit dem Bahnfahren in Uniform und gerade auch mit den Amtshilfeeinsätzen in der Pandemie kamen viele Menschen in unserem Land wieder in Berührung mit der Truppe. Und sie haben gesehen, dass man sich auf uns verlassen kann. Sicherlich haben die furchtbaren Bilder aus der Ukraine der vergangenen Monate das Bewusstsein für die Notwendigkeit von Streitkräften geändert. Gleichwohl hatte ich nie das Gefühl, dass das Verhältnis zwischen Bundeswehr und Bevölkerung verkrampft sei. Wir sind schließlich Teil der Gesellschaft. Wir sind Staatsbürgerinnen und Staatsbürger in Uniform.

 

Eberhard Zorn, geboren 1960 in Saarbrücken, General des Heeres der Bundeswehr, seit 2018 16. Generalinspekteur der Bundeswehr.

Die Fragen stellte Ralf Thomas Baus schriftlich am 8. August 2022.