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Über Fortschritte und Defizite in der deutschen Bildungs- und Wissenschaftslandschaft

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Warum müssen die Stärksten und Klügsten gefördert werden – schließlich gehören sie ja per se zu den Begünstigten? Müsste man nicht alles daran setzen, die Benachteiligten und Schwachen zu fördern?

Johanna Wanka: Da geht es nicht um ein Entweder-oder, sondern um Bildungsgerechtigkeit. Jeder in Deutschland soll die bestmöglichen Bildungschancen erhalten, unabhängig von seiner Herkunft oder seinen finanziellen Möglichkeiten. Und für den Weg dahin brauchen wir ein breites Instrumentarium.

Ein paar Beispiele: Wir brauchen BAföG, um jenen eine Ausbildung zu ermöglichen, denen sonst das Geld dazu fehlt. Mit dem Programm „Kultur macht stark“ helfen wir dabei, Kinder aus eher bildungsfernen Familien mit Kunst, Musik, Theater oder Tanz in Berührung zu bringen. Mit unseren „Bildungsketten“ unterstützen wir Jugendliche beim Übergang von der Schule in den Beruf. Und mit Stipendien oder Wettbewerben wie „Jugend forscht“ fördern wir besondere junge Talente – auch das ist eine Investition in die Zukunft unseres Landes.

 

PISA-Studien deuten an, dass die Zahl der leistungsstarken Schüler in Deutschland stagniert. Gleichzeitig können unsere Besten nicht mit den Stärksten der Welt mithalten. Was ist nötig, damit unsere Besten zu dieser Spitzengruppe aufschließen können?

Johanna Wanka: Nach dem PISA-Schock 2000 hält sich leider hartnäckig der Eindruck, Deutschlands Schüler seien viel schlechter als ihre Altersgenossen in anderen Ländern. Dabei ist Deutschland hier weit besser als sein Ruf! An der PISA-Studie 2012 ist das abzulesen: Wir liegen in den Naturwissenschaften, in Mathematik und im Lesen jetzt über dem OECD-Durchschnitt und sind in den Naturwissenschaften in der Spitzengruppe angekommen. In Mathematik sind nur noch vier OECD-Staaten vor uns: Korea, Japan, die Schweiz und die Niederlande. Das ist nicht Mittelmaß, sondern ein richtig gutes Ergebnis. Auch beim Lesen liegen wir jetzt deutlich über dem OECD-Durchschnitt.

Deutschland gehört zu den wenigen Staaten, die sich seit den ersten PISA-Erhebungen kontinuierlich verbessert haben. Der Anteil der leistungsschwachen Schülerinnen und Schüler in Deutschland ist gesunken und liegt unter dem OECD-Durchschnitt. Wir sind also auf dem richtigen Weg, die vielfältigen Anstrengungen von Bund und Ländern lohnen sich. Bildung hat Priorität: Inzwischen wird jeder fünfte öffentliche Euro in Deutschland für Bildung ausgegeben.

Was die Besten betrifft: Die Kultusministerkonferenz hat endlich eine Förderstrategie für leistungsstarke Schülerinnen und Schüler beschlossen, die ihnen eine bessere Entfaltungsmöglichkeiten geben soll. Der Bund bietet seine Hilfe an, denn wir müssen die schwächeren und die sehr guten Schüler gleichermaßen fördern, um für jedes Kind maximale Bildungschancen zu schaffen.

 

Deutsche Spitzenuniversitäten haben sich im internationalen Vergleich deutlich verbessert, immerhin sechs deutsche Unis gehören laut dem Times Higher Education Ranking zu den Top 100. Aber von den Spitzenplätzen sind sie weiterhin weit entfernt. Was fehlt noch?

Johanna Wanka: Der Bund hat die Hochschullandschaft in den letzten Jahren stark beeinflusst und verändert, indem er die Initiative für so große Projekte wie den Hochschulpakt oder die Exzellenzinitiative ergriffen hat. Seit 2005 hat der Bund seine Ausgaben für die Hochschulen um 118 Prozent erhöht. Nur zum Vergleich: Die Länder haben seither 26 Prozent draufgelegt.

Gerade die Exzellenzinitiative hat eine große Dynamik in unserem Wissenschaftssystem ausgelöst, hat Wettbewerb entfacht, neue Forschungspotenziale erschlossen, internationale Spitzenforscher an deutsche Hochschulen geholt und dazu beigetragen, die Ausbildung von hervorragenden jungen Wissenschaftlern voranzutreiben. Diese Dynamik wollen wir erhalten und weiterentwickeln: Bund und Länder haben sich jetzt darauf verständigt, die bisher gemeinsam für die Exzellenzinitiative bereitgestellten Mittel mindestens im gleichen Umfang nach 2017 zur Verfügung zu stellen.

Die deutsche Hochschullandschaft verfügt aber nicht nur über einige wirkliche Leuchttürme, sondern ist auch in der Breite sehr stark. Deshalb sehe ich internationale Rankings als interessante Indikatoren, aber keinesfalls als Maßstab für die Qualität unserer Hochschulen.

 

In kaum einem anderen Land dauert es so lange, bis man zum Professor ernannt wird. Wie will man so die Besten in der Wissenschaft halten?

Johanna Wanka: In den letzten Jahren sind sehr viele Stellen im Wissenschaftsbetrieb entstanden, aber es läuft etwas falsch, wenn mehr als die Hälfte der Wissenschaftler bei ihrem ersten Vertrag kürzer als ein Jahr angestellt werden. Dafür gibt es keinen sachlichen Grund. Es kann auch nicht sein, dass Menschen, die häufig gerade dann in der Phase ihrer Familienplanung sind, in einem dauernden Zustand der Unsicherheit leben müssen. Das werden wir jetzt in einer Novelle des Wissenschaftszeitvertragsgesetzes ändern und die Dauer des Vertrages an der Dauer der Qualifizierung oder der Drittmittelbewilligung orientieren.

Zweitens möchte ich langfristig einen Strukturwandel erreichen, damit junge Wissenschaftler früher als vielleicht erst mit Anfang vierzig Klarheit darüber haben, wohin ihre Karriere in der Wissenschaft führen kann. Ich habe den Ländern eine Offensive Wissenschaftlicher Nachwuchs angeboten, über die wir jetzt verhandeln. Dabei geht es um ein Tenure-Track-Programm, also um eine frühzeitige Perspektive auf eine feste Professur bei entsprechender Bewährung.

 

Drei Viertel der Frauen im akademischen Mittelbau und zwei Drittel der Professorinnen haben keine Kinder. Gehört es zur Wissenschaft dazu, dass man sich ihr ganz verschreibt? Verlieren herausragende Frauen, weil sie auch Kinder haben wollen? Sehen Sie darin ein Problem?

Johanna Wanka: Ja. Im Wissenschaftsbetrieb gibt es noch immer eine weit geöffnete Schere zwischen Männern und Frauen auf der Karriereleiter. Von Stufe zu Stufe nimmt der Frauenanteil ab, beim Studienabschluss ist es noch etwa ausgeglichen, bei den Promotionen steigt der Männeranteil bereits an, an den Habilitationen haben Frauen nur noch einen Viertelanteil, bei den Professuren machen sie ein Fünftel aus. Auch wenn sich in den vergangenen Jahren die Lage schon etwas verbessert hat, müssen wir weiter die Gleichstellung im Wissenschaftsbetrieb fördern.

Einfache Rezepte gibt es nicht, aber wir wollen einen Kulturwandel erreichen. Wir verfolgen dieses Ziel seit einigen Jahren schon erfolgreich mit dem Professorinnenprogramm, das nicht nur die Besetzung von Professuren durch Frauen honoriert, sondern die Hochschulen bei der Umsetzung ihrer Gleichstellungskonzepte unterstützt – darin sind viele Maßnahmen für mehr Familienfreundlichkeit enthalten, die ja auch den Männern an den Hochschulen nutzen. Und in der angesprochenen Novelle des Wissenschaftszeitvertragsgesetzes haben wir jetzt auch berücksichtigt, dass sich die Dauer einer Elternzeit nicht negativ auf die Laufzeit eines Promotionsvertrags auswirkt, sondern angehängt werden kann.

 

Die Zahl der internationalen Studierenden in Deutschland steigt stetig. Aber bekommen wir auch die besten Studierenden an unsere Universitäten? Oder kommt man vor allem nach Deutschland, weil das Studieren hier nichts kostet?

Johanna Wanka: Die große Mobilität an Deutschlands Hochschulen zeigt, wie international unser Wissenschaftssystem geworden ist. Es gehört heute vielfach wie selbstverständlich dazu, einen Forschungsaufenthalt im Ausland oder ein Auslandsemester zu machen. Ebenso ist es für Studierende an deutschen Hochschulen ganz normal, mit ausländischen Kommilitonen und Lehrenden zusammenzuarbeiten – und das ist sehr gut so.

Mehr als 300.000 ausländische Studierende sind inzwischen an deutschen Hochschulen immatrikuliert, so viele wie nie zuvor. Deutschland ist laut OECD im internationalen Vergleich nach den USA und Großbritannien das wichtigste Gastland für Studierende – und damit das wichtigste nichtenglischsprachige Gastland überhaupt. Man muss also feststellen: Die deutschen Hochschulen genießen weltweit einen exzellenten Ruf.

 

Was ist nötig, auch seitens der Universitäten, damit die internationalen Studierenden nach erfolgreichem Studienabschluss in Deutschland bleiben?

 

Johanna Wanka: Gute Beschäftigungschancen nach dem Studium sind für Ausländer ein wichtiges Motiv bei der Wahl eines deutschen Studienortes. Viele ausländische Studierende können sich einen Verbleib in Deutschland auch nach dem Studium gut vorstellen.

Wie viele von ihnen tatsächlich bleiben, ist schwer zu erfassen. Jedoch legen verschiedene Studien nahe, dass am Ende gut die Hälfte der ausländischen Absolventen zunächst in Deutschland bleibt. Die Aussicht auf Beschäftigung könnte besser nicht sein, gut ausgebildete Fachkräfte sind in Deutschland begehrt. Deshalb ist vor allem die Wirtschaft bei dieser Aufgabe gefragt. Gute Beratungsangebote und eine gelebte Willkommenskultur nicht nur an den Hochschulen sind aber natürlich unerlässlich, um gute Leute bei uns zu halten.

 

Die Abbrecherquoten sind erschreckend hoch – fast dreißig Prozent bei den Bachelor-Studierenden. Bei ausländischen Studierenden ist die Zahl sogar noch höher. Versagen die Universitäten bei der Betreuung oder sind viele Studierende für ein Studium ungeeignet?

Johanna Wanka: Die Studienabbrecherquote ist auch bei den Bildungsausländern im Masterstudium deutlich geringer als bei Bachelorstudiengängen und bewegt sich mit neun Prozent auf dem gleichen Niveau wie bei deutschen Masterstudierenden. Im Bachelorstudium liegt die Zahl der Abbrüche noch über dem Schnitt bei deutschen Bachelorstudenten. Diese Zahlen zeigen, dass die Investitionen in den Hochschulpakt und den Qualitätspakt Lehre richtig sind, damit die Hochschulen mehr junge Leute zu einem erfolgreichen Studienabschluss führen. Die Hochschulen selbst sind aber weiterhin in der Pflicht, gegenzusteuern. Wir unterstützen sie dabei: Der Hochschulpakt von Bund und Ländern finanziert künftig auch Maßnahmen, die die Abbrecherquoten an den Hochschulen senken sollen. Zehn Prozent der Mittel in der neuen Phase des Pakts, die 2016 beginnt, stehen dafür bereit.

 

Wir haben jetzt sehr viel über die Verwertung von Wissen gesprochen. Sollte man auch wieder mehr die „Gesamtheit der Wissenschaften“, die „universitas litterarum“ Humboldts, in den Blick nehmen? Kann die Universität diesen Anspruch überhaupt heute noch einlösen?

Johanna Wanka: Die Hochschulen sind das Herz unseres Wissenschaftssystems. Ein guter Ruf, ein wissenschaftliches Profil gehören ebenso zum Wesenskern einer Hochschule wie ein ausgewogenes Lehrangebot und ein umfassendes Bildungsideal. Diesen Anspruch muss eine Hochschule verwirklichen.

Mit der neuen Grundgesetzänderung, die wir durchsetzen konnten, stellen wir die Förderung von Wissenschaft auf eine langfristige und institutionelle Basis. Dazu gehört auch, zu überlegen, welche kleinen Fächer für Deutschland insgesamt einen hohen Stellenwert haben und daher einer gemeinsamen Unterstützung bedürfen. Durch die Grundgesetzänderung gibt es neue Gestaltungsspielräume, was sicher auch für die Gesamtheit der Wissenschaften in Deutschland förderlich ist.

 

Berauben wir uns nicht möglicher Optionen für die Zukunft, wenn wir vom Humboldt’schen Bildungsideal abrücken und das schnell verwertbare Wissen favorisieren? Denn wer weiß schon, welches Wissen künftig wichtig werden kann? Die Islamwissenschaften sind ein Beispiel: Früher waren sie ein Orchideenfach, heute haben sie eine zentrale gesellschaftliche Bedeutung.

Johanna Wanka: Ich kann nicht erkennen, dass schnell verwertbares Wissen dominiert. Es wäre auch fatal, einen Widerspruch zwischen Anwendungsorientierung und Grundlagenforschung oder allgemeiner Bildung zu konstruieren. Beides brauchen wir, und Deutschland wird gerade auch für seine breit und gut aufgestellte Grundlagenforschung international geachtet. Das wäre sicher sehr im Sinne Wilhelm von Humboldts. Gleichzeitig müssen wir uns aber anstrengen, dass aus guten Ideen auch erfolgreiche Innovationen erwachsen.

 

Johanna Wanka, geboren 1951 in Rosenfeld (Landkreis Torgau), von 2000 bis 2009 Ministerin für Wissenschaft, Forschung und Kultur in Brandenburg, von 2010 bis 2013 niedersächsische Ministerin für Wissenschaft und Kultur, seit 2013 Bundesministerin für Bildung und Forschung.

Die Fragen stellten Felise Maennig-Fortmann, Koordinatorin für bildungspolitische Grundsatzfragen und Hochschulpolitik der Konrad-Adenauer-Stiftung, und Bernd Löhmann am 10. Juli 2015.

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