Herr Henkel, wie blicken Sie auf den „Hauptstadtbeschluss“ vor 25 Jahren zurück?
Frank Henkel: Mit diesem Beschluss ist umgesetzt worden, was in der alten Bundesrepublik Konsens über viele Jahrzehnte war – nämlich dass im Falle der wiederhergestellten Einheit Berlin unumstößlich die Hauptstadt Deutschlands werden soll. Es war damals eine quälende Debatte, bei der die Glaubwürdigkeit der Politik mit auf dem Spiel stand. Bis heute bin ich Wolfgang Schäuble außerordentlich dankbar dafür, dass er in der entscheidenden Bundestagsberatung die richtigen Worte gefunden hat. Wolfgang Schäuble hätte es absolut verdient, Ehrenbürger der Stadt Berlin zu werden.
Dass der Bundestag, der Bundesrat, das Bundeskanzleramt und andere Ministerien nach Berlin gezogen sind, hat der Entwicklung der Stadt einen zusätzlichen Schub gegeben, und die vielen Neu-Berlinerinnen und Berliner haben die Stadt auf vielfältige Weise bereichert. Ich hielte es für gut und richtig, wenn wir endlich einen Schlussstrich ziehen könnten – und das heißt: Umzug aller Ministerien nach Berlin. Die Zeit ist mehr als reif dafür.
Sie sind im Berliner Osten aufgewachsen und mit fast achtzehn Jahren in den Westteil ausgereist, als die Stadt noch geteilt war. Wie blickt man mit einer solchen ost-westlichen Sicht auf das heutige Berlin?
Frank Henkel: Ich bin in der Charité geboren, mit Spreewasser getauft, ein Berliner mit Leib und Seele, der gewissermaßen aus beiden Seiten der einst geteilten Stadt kommt. Und der darum vielleicht ein wenig stolz darauf sein darf, die fantastische Entwicklung dieser in Freiheit wiedervereinten Stadt mitzuerleben und heute als Bürgermeister und als Senator für Inneres und Sport an einer verantwortlichen Stelle mitgestalten zu dürfen.
Nach der Übersiedlung in den Westen habe ich mich zunächst in der „Gesellschaft für Menschenrechte“ engagiert. Diese NGO setzte sich damals besonders gegen das Unrecht in der DDR und den osteuropäischen Staaten ein und entwickelte Hilfsinitiativen. Dieses Thema hat mich aufgewühlt und war der Impuls für mein späteres parteipolitisches Engagement in der Berliner CDU.
Richard von Weizsäcker habe ich noch erlebt, ohne Mitglied zu sein. 1986 trat ich der Union bei. Es begann die Ära Eberhard Diepgen. Später war es die große Leistung der von ihm geführten Großen Koalition, den Osten und Westen Berlins in sozialer Verantwortung zusammenzuführen: gleicher Lohn für gleiche Arbeit in Ost und West – seinerzeit ein riesiger Kraftakt.
Aus unserer Sicht wurde die Berlinförderung damals viel zu schnell zurückgefahren, was dazu führte, dass Arbeitsplätze abgebaut werden mussten und es an Mitteln fehlte, um die Infrastrukturen beider Teile – das getrennte Gesundheits- oder Bildungswesen, die getrennten Sicherheitsapparate und so weiter – zusammenzuführen. Trotzdem ist das gelungen, und es wurde zu einer prägenden Zeit für die Stadt. Berlin hat sich damals neu erfunden. Sie kennen ja den Spruch: „Berlin ist immer im Werden, niemals im Sein!“
Wie beurteilen Sie die Entwicklung Ihrer Partei – gerade auch jenseits der Erfolge?
Frank Henkel: Wir haben erlebt, wie die CDU 1989 mit einer guten Bilanz abgewählt wurde und die erste rot-grüne Landesregierung antrat. Sie überdauerte knapp zwei Jahre, und in Gesamtberlin wurde Eberhard Diepgen erneut zum Regierenden Bürgermeister gewählt. Also die Erfahrung bitterer Niederlagen und stolzer Siege!
Dann kamen wir 2001 in eine Situation, in der um die Schieflage der Bankgesellschaft Berlin eine Geschichte gesponnen wurde, die die Verantwortung für dieses Geschehen im Senat und in den Aufsichtsgremien einseitig den Union-Mitgliedern zuschob. Der Bruch der Koalition folgte und wurde seitens der Sozialdemokraten geschickt inszeniert. Ob es der Stadt gutgetan hat, daran kann man bis heute Zweifel haben.
Es kamen schwere Zeiten für die Berliner CDU – vor allem mit Sicht auf die Wiederherstellung der Akzeptanz in der Bevölkerung. Zehn Jahre blieb sie in der Opposition, was in der Demokratie zweifellos eine wichtige Funktion ist. Doch erfolgte zu dieser Zeit der Austausch des Führungspersonals, ohne dass dieser Prozess – etwa durch Nachfolgeregelungen – gesteuert war. Es gab „Diadochenkämpfe“ und die unglückliche Entwicklung, dass eine Fülle von Talenten in verschiedenen Ämtern verschlissen worden ist. Es gelang nicht, Stabilität in die eigenen Reihen zu bringen und sich wieder wahrnehmbar auf eine vernünftige politische Sacharbeit zu fokussieren.
Infolgedessen haben wir 2001 und 2006 mit unterschiedlichen Spitzenkandidaten die Wahlen verloren. Zwei Jahre später trat der Landesvorsitzende zurück, der Fraktionsvorsitzende musste zurücktreten. Das sind Dinge, die offensichtlich unumgänglich waren, aber eine Partei nicht gut dastehen lassen. Aus dieser Situation heraus bin ich Fraktionsvorsitzender und wenig später auch Landesvorsitzender geworden.
Diese harten Jahre waren aber auch ein Lernprozess. Die Partei hat schmerzlich erfahren, dass es so nicht weitergehen kann und dass – wenn man Erfolg haben will – Geschlossenheit die beste Ausgangsbasis ist. Denn eines will jedenfalls der bürgerliche Wähler nicht – eine Partei, die permanent streitet. Und damit meine ich nicht die Sachauseinandersetzung: Die ist gut und richtig. Aber wenn man sich nur um Personalfragen streitet, fliegen einem keine Sympathien zu. Dass die Union heute weit geschlossener ist als alle politischen Mitbewerber, zeigt, dass der Lernprozess fruchtet.
2011 war es soweit, dass wir wieder als ein Partner wahrgenommen wurden, mit dem man wenigstens Sondierungsgespräche führte. Als dann die rot-grüne Sondierung an der Frage von ein paar Autobahnmetern der A100 scheiterte, brachte uns das mit an die Regierung.
Berlin strahlt international, hat eine sinkende Arbeitslosigkeit und eine wachsende Wirtschaft. Welchen Anteil hat die Politik daran? Oder war das alles – wie häufig in der Presse zu lesen ist – trotz einer zumindest als „piefig“ abqualifizierten Berliner Politik und Verwaltung möglich? Die aus dem Ruder gelaufenen Projekte – wie der BER-Flughafen – geben dieser Wahrnehmung ja Munition.
Frank Henkel: Dass der BER immer noch nicht fertiggestellt ist, ist kein Ruhmesblatt – weder für die deutsche Industrie noch für die Politik in Gestalt der drei Gesellschafter: Bund, Brandenburg und Berlin. Da lässt sich nicht drum herumreden. Dennoch müssen wir aufpassen, dass die Eindrücke, die durch die mehrfache Verschiebung der Flughafeneröffnung entstanden sind, nicht die Erfolgsstory Berlins überlagern.
Mag auch sein, dass Berlin in vielen Fragen immer noch sehr kommunal ist. Und ich bin auch nicht so vermessen, zu sagen, dass etwa die Erfolge in der Wirtschaftsentwicklung ausschließlich mit Politik zu tun haben. Start-ups beispielsweise kommen und gehen – mit oder ohne Regierungsbeteiligung der Union. Dennoch halte ich es für wichtig, eine Politik zu verfolgen, die konsequent auf die Schaffung von Jobs ausgerichtet ist. Wenn ich mir anschaue, wie viele Start-ups sich gegründet haben, dass Berlin die Gründerhauptstadt Europas ist, dass wir beim „Risikokapital“ zum zweiten Mal London abgelöst haben – dann sind das Entwicklungen, die auch mit der politischen Rahmensetzung zu tun haben.
Auch hier gab es andere Zeiten: Klaus Wowereit hat in der rot-roten Koalition das Ende des industriellen Zeitalters ausgerufen und eine einseitige Fokussierung auf Dienstleistungen betrieben. Überspitzt habe ich stets formuliert, dass sich die soziale Infrastruktur einer Stadt wie Berlin nicht davon finanzieren lasse, wenn man statt zweidreimal am Tag zum Friseur ginge. Was ich sagen will, ist: Natürlich braucht eine Metropole wie Berlin Dienstleistungen – etwa im Kulturbereich –, aber die Voraussetzung dafür ist ein industrielles Rückgrat.
Das ist unser Standpunkt, und damit sind wir 2011 in die Koalition eingetreten. Und dabei meinten wir nicht Industriearbeitsplätze wie im 19. Jahrhundert, sondern moderne Industriearbeitsplätze, die mit einer gewissen Wertschöpfungskette verbunden sind. Wer sich die letzten fünf Jahre anschaut, wird feststellen, dass sich die Stadt auf diesem Gebiet prächtig entwickelt hat.
Klingt so, als liefe momentan alles gut in Berlin?
Frank Henkel: Es läuft vieles gut in Berlin. Aber es gibt Dinge, an denen wir weiter arbeiten müssen. Rot-Rot ist verantwortlich für einen Personalabbau, der unter Wowereits Überschrift stand: „Sparen, bis es quietscht“. Mit unserer Regierungsbeteiligung ist es da zu einer deutlichen Trendwende gekommen.
In Berlin sind unter Rot-Rot beispielsweise 1.800 Polizisten abgebaut worden. Das war aber nicht allein ein Abbau, sondern es gab einen Einstellungsstopp, der bewirkte, dass es zu langfristigen Defiziten bei der Personalentwicklung der Polizei kam. Gegen Ende der jetzigen Legislaturperiode gibt es wieder 1.000 Stellen im Sicherheitsbereich mehr und 200 bei der Feuerwehr. Die Stellen beim Verfassungsschutz haben wir um 25 Prozent erhöht, um politischen Extremismus besser bekämpfen zu können.
Deshalb ist es unter dem Gesichtspunkt verlässlicher Rahmenbedingungen wichtig, dass wir im Oktober die Chance bekommen, den Weg weiterzugehen. Denn natürlich stehen gewaltige Aufgaben bevor. Ich denke etwa an das Funktionieren der öffentlichen Verwaltung vor dem Hintergrund der wachsenden Stadt: Berlin wird bald vier Millionen Einwohner haben. Da gibt es Punkte, die mit Blick auf den öffentlichen Sektor hasenfüßig angegangen worden sind. Ich denke aber auch an das Stichwort Digitalisierung, denn das, was in Sachen Digitalisierung in Berlin gut läuft, betrifft bisher nahezu ausschließlich den privaten und nicht den öffentlichen Sektor. Das lässt sich etwa mit der Frage verbinden: Wie steht es mit der Digitalisierung an Berliner Schulen oder in der Berliner Verwaltung?
Von 2001 bis 2011 fand öffentlicher Wohnungsbau unter Rot-Rot fast nicht statt. Dadurch gab es immer weniger Wohnraum, was wiederum steigende Mieten zur Folge hatte. Das lässt sich in einer Legislaturperiode nicht aufholen. Aber es wird jetzt sehr viel gebaut. Sowohl öffentlich als auch privat sind sehr viele Wohnungen entstanden. Auch das muss weitergehen: bauen, bauen, bauen und die vorhandenen Instrumente konsequent nutzen. Berlin hat sechs städtische Wohnungsbaugesellschaften, die den Zweck haben und in die Lage versetzt werden müssen, preiswerten Wohnraum anzubieten – und zwar nicht nur am Stadtrand, sondern auch in der Mitte der Stadt.
Sie haben das Thema Sicherheit angeschnitten. Das Kottbusser Tor und der Görlitzer Park haben es bundesweit zu trauriger Berühmtheit gebracht. Vor diesem Hintergrund die Frage: Wie sicher ist Berlin?
Frank Henkel: Die Lage am Görlitzer Park oder am Kottbusser Tor geht nicht auf Entwicklungen der letzten zwei, drei Jahre zurück, sondern darauf, dass der Staat über mindestens eineinhalb Jahrzehnte hinweg einfach nur zugesehen hat. Ich habe gesagt, dass Recht und Ordnung durchgesetzt werden müssen, und habe beispielsweise die Taskforce Görlitzer Park ins Leben gerufen. Niemand hat behauptet, dass wir die Probleme von heute auf morgen lösen. Aber gerade am heutigen Morgen gibt es eine Meldung von der Berliner Staatsanwaltschaft mit dem Inhalt, dass die Maßnahmen am Görlitzer Park Erfolge bringen. Auch die Polizeipräsenz am Kottbusser Tor wurde deutlich gesteigert. Ich bin daher überzeugt, dass wir zwar nicht am Ziel, aber auf dem richtigen Weg sind.
Überall da, wo wir Schwerpunkte setzen – das muss man angesichts knapper Personalressourcen –, gibt es Fortschritte: Die Gewalt im öffentlichen Personennahverkehr ist seit 2011 deutlich gesunken. Sogenannte Rohheitsdelikte liegen auf einem Rekordtief, sind auf das Niveau von Mitte der 1990er-Jahre zurückgegangen. Der organisierten Kriminalität haben wir den Kampf angesagt – mit Blick auf die sogenannten „arabischen Großfamilien“, aber auch auf kriminelle Rockerbanden. Deutschlandweit steigt die Zahl der Wohnungseinbrüche. In den rot-grün regierten Ländern Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen oder Hamburg verzeichnet die Statistik zweistellige Zuwachsraten. Durch unsere Schwerpunktsetzung lag die entsprechende Zahl für Berlin im letzten Jahr bei −2,8 Prozent. Gleichwohl gibt es auch eine andere Seite der Medaille: Beispielsweise Taschendiebstahl hat in Berlin zweistellige Wachstumsraten. So ist meine Einschätzung: Ja, die Stadt ist alles in allem sicher, aber es ist nicht so, dass wir nicht noch weiter zu tun hätten.
Der 1. Mai liegt nicht weit zurück. Wie sieht es mit dem politischen Rückhalt für die Berliner Polizei aus, wenn es gegen linksextremistische Gewalt- und Straftäter geht? Da soll es eine Verdopplung in den letzten acht Jahren gegeben haben.
Frank Henkel: Was den Extremismusbereich betrifft, gibt es eine sehr aktive linksextremistische und eine große rechtsextremistische Szene, darüber hinaus einen stark anwachsenden Ausländerextremismus, meist mit Bezug zum Salafismus. Das zusammen stellt die Berliner Polizei vor große Herausforderungen. Beispielsweise über die Flüchtlingsfrage gibt es veritable Links-rechts-Auseinandersetzungen, wo die Polizei bei Demonstrationen in entsprechenden Größenordnungen präsent sein muss, und sie bewältigt diese Aufgaben ganz hervorragend, wie Sie etwa am 1. Mai feststellen konnten. Das könnte sie nicht ohne entsprechenden politischen Rückhalt.
Wenn wir von gesellschaftlichem Rückhalt sprechen, gehören Polizisten immer noch zu den Berufsgruppen, die eine hohe Anerkennung haben. Gleichwohl gibt es in Berlin dies betreffend die eine oder andere Baustelle. Wir haben über den Görlitzer Park und das Kottbusser Tor gesprochen, man müsste die linksextremistische Szene in der Rigaer Straße noch hinzunehmen – das spielt sich größtenteils im Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg ab. Hier würde ich mir oftmals eine größere Sensibilität der grünen Verwaltungsspitze wünschen.
Was bedeutet es für die hiesige Innenverwaltung und Polizei, dass Berlin Hauptstadt ist?
Frank Henkel: Im letzten Jahr fanden rund 5.000 Demonstrationen statt, nicht jede mit großen Teilnehmerzahlen von 10.000, 20.000, 30.000 Leuten. Wenn es aber um TTIP oder andere Streitfragen geht, sind es leicht 250.000 Menschen.
Dazu kommt die Sicherung der Staatsbesuche oder die Bewachung von Botschaften und Konsulaten und Ähnliches, wozu uns das Wiener Abkommen verpflichtet. Das tun wir gern, aber hier streben wir einen fairen Lastenausgleich mit der Bundesregierung an, der momentan neu verhandelt wird.
Dem Bund sind wir unendlich dankbar für das, was er auf dem Gebiet der Kultur in Berlin leistet. Aber bei der Inneren Sicherheit hat sich die Lage extrem verändert. Mein Vorgänger hat unter gänzlich anderen Bedingungen sechzig Millionen Euro vereinbart. Wenn ich es zusammenrechne, dann benötigen wir schon heute das Doppelte. Zwar werden wir keine 150 Millionen plus x erhalten, aber eine dreistellige Millionensumme muss es schon sein, damit die Hauptstadtpolizei den Aufgaben gerecht werden kann, die ihr aufgetragen wurden.
Frank Henkel, geboren 1963 in Berlin, seit 2008 Landesvorsitzender der CDU Berlin, seit Dezember 2011 Senator für Inneres und Sport und Bürgermeister von Berlin.
Das Gespräch führte Bernd Löhmann am 9. Mai 2016.