Herr Professor Wößmann, in Ihrem kürzlich erschienenen Buch „The Knowledge Capital of Nations – Education and Economics of Growth“ geht es um Bildung und wirtschaftliches Wachstum. Wie hängt das eine mit dem anderen zusammen?
Ludger Wößmann: Vermutlich ist die Bildung der Bevölkerung langfristig gesehen der wichtigste Bestimmungsfaktor von wirtschaftlichem Wachstum – und damit des Wohlstands der Nationen. Allerdings kommt es stark darauf an, wie man die Bildung der Bevölkerung misst. Die Forschung hat den Bildungsstand für lange Zeit nur anhand der durchschnittlichen Bildungsjahre der Bevölkerung bestimmt. Daraus geht nicht eindeutig hervor, wie wichtig Bildung für das wirtschaftliche Wachstum ist. Denn Bildung bedeutet zum Beispiel in Honduras etwas anderes als in Deutschland oder in Korea. Es wird also der Sache nicht gerecht, Bildung nur durch die Bildungsjahre zu bestimmen. Qualitative Unterschiede in der Bildung lassen sich durch internationale Vergleichstests in Grundkompetenzen berücksichtigen: so wie in den PISA-Vorgängerstudien, die seit Mitte der 1960er-Jahre erhoben wurden. Bringt man dann die Schülerleistungen in Mathematik und Naturwissenschaften in internationalen Vergleichstests auf einen gemeinsamen Nenner, erhält man ein Maß für die tatsächlich erworbenen Kompetenzen der Bevölkerung – wir konnten so einen Großteil der Unterschiede im langfristigen Wachstum über die letzten fünfzig Jahre erklären.
Was ist der Unterschied zwischen Knowledge Capital – also Wissenskapital – und Humankapital?
Ludger Wößmann: Beim Wissenskapital geht es nicht darum, wie lange man zur Schule geht, sondern was an Ergebnissen dabei herauskommt – Wissen ist der Überbegriff für die Bildungsergebnisse, was heißt: für die Fähigkeiten, das Wissen und das Können der Menschen. All das, für ein Land zusammengetragen, ergibt das entsprechende Wissenskapital. Humankapital ist eher ein akademischer Begriff. Er kommt in der öffentlichen Diskussion nicht so gut an: Er klingt danach, als würden Menschen zu Maschinen werden. Allerdings war das nie seine Bedeutung, sondern genau das Gegenteil: dass Menschen nicht einfach durch den anderen ersetzbar sind, sondern durch Bildung in ihre eigene Produktivität investieren und damit produktiver werden und sich noch stärker am Wirtschaftsprozess beteiligen können. Die Idee des Wissenskapitals baut auf der Idee des Humankapitals auf. Aber sie betont: Es kommt auf die erworbenen Fähigkeiten, Kompetenzen und das Wissen der Menschen an.
Bildungspolitiker und Erziehungswissenschaftler fragen, warum wir eine ökonomische Perspektive auf die Schule brauchen.
Ludger Wößmann: Natürlich darf man Bildung und Schule nicht nur aus ökonomischer Sicht betrachten. Aber es wäre genauso unverantwortlich, die ökonomische Bedeutung von Bildung zu ignorieren. Die heutige Arbeitslosenquote ist in Deutschland zwar niedriger als noch vor ein paar Jahren. Aber obwohl man regelmäßig von Akademikerarbeitslosigkeit spricht, liegt die Arbeitslosenquote bei Menschen mit einem Hochschulabschluss nur etwa bei zwei Prozent, während sie bei Menschen, die über eine abgeschlossene Berufsausbildung verfügen, schon deutlich höher bei fünf Prozent liegt.
Aber selbst das ist relativ niedrig im Vergleich zur Arbeitslosenquote unter den Personen, die keine abgeschlossene Berufsausbildung haben. Die liegt derzeit bei neunzehn Prozent und lag in wirtschaftlich schwierigeren Zeiten zum Teil bei nahe dreißig Prozent. Betrachtet man die ökonomische Perspektive von Bildung nicht, ist es egal, wie viel Bildung die Menschen genießen – dann macht man sich im Zweifelsfall mitverantwortlich dafür, dass in der nächsten Generation viele von ihnen in die Arbeitslosigkeit laufen.
In unserem Buch betonen wir noch wesentlich stärker die gesamtwirtschaftliche Perspektive von Bildung, etwa bei langfristigen Wohlstandsunterschieden: In Lateinamerika hat sich diesbezüglich in den vergangenen fünfzig Jahren kaum etwas verändert. Das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf ist dort um 1,2 Prozentpunkte pro Jahr langsamer gewachsen als beim Rest der Welt. Anders in den ostasiatischen Ländern: Dort wuchs das Bruttoinlandsprodukt pro Jahr um 2,5 Prozentpunkte schneller als beim Rest der Welt. Die Menschen in Ostasien sind heute siebenmal reicher als ihre Großeltern vor fünfzig Jahren – die Menschen in Lateinamerika hingegen nur 2,5mal reicher.
Diese gewaltigen Unterschiede an Wohlstand lassen sich durch Bildung erklären: Die erworbenen Basiskompetenzen der Menschen sind in Ostasien viel besser als die in Lateinamerika. Umgerechnet auf Schuljahre hieße das: Die Kompetenzen von Schülern in Ostasien sind im Durchschnitt um mehr als drei Schuljahre besser als die ihrer Altersgenossen in Lateinamerika.
Wie steht es um das deutsche Wissenskapital, gehören unsere Stärksten zu den Stärksten weltweit?
Ludger Wößmann: Zu den Stärksten weltweit sicherlich nicht. Anfang der 2000er-Jahre erlebten wir den großen PISA-Schock: Im internationalen Vergleich lagen wir im unteren Mittelfeld, sowohl bei den Spitzenleistungen als auch bei denen der unteren Ränge. Beides war im internationalen Vergleich unterdurchschnittlich. Seitdem hat sich schon vieles getan. Aber es kommt nicht darauf an, wie lange Kinder zur Schule gehen oder wieviel Geld in die Bildung gesteckt wurde, sondern darauf, was sich in den Ergebnissen des Bildungsprozesses niederschlägt, wieviel also tatsächlich gelernt wurde. In Deutschland etwa haben sich die PISA-Leistungen in den vergangenen zwölf Jahren verbessert: Sie sind stetig um 25 Punkte gestiegen. Damit stehen wir zwar nicht allein, aber fast allein mit Blick darauf, dass wir uns stetig verbessert haben. Wir sind zwar immer noch nicht an der Spitze, aber deutlich über dem Durchschnitt. Trotzdem gibt es viele Länder, die sowohl in der Spitze als auch in der Breite deutlich besser sind als wir.
Welche Maßnahmen würden Sie in der Begabtenförderung vorschlagen, um zur Spitze aufzuschließen?
Ludger Wößmann: Man braucht eine breite Palette von Maßnahmen und muss im frühkindlichen Bereich ansetzen. Die Bildungsleistung unter den 15-Jährigen hängt stark von ihrem familiären Hintergrund ab. Im Umkehrschluss heißt das: Es gibt bei uns viele Kinder mit hohem Potenzial in bildungsfernen Schichten, die aber keine Chance haben, es auch auszuschöpfen. Es wäre daher wichtig, gerade Kindern aus bildungsfernen Schichten sehr früh eine hochqualitative frühkindliche Bildung zukommen zu lassen, damit sie ihr Potenzial voll entwickeln können. Nur so haben die Kinder letztendlich eine Chance, auf das Gymnasium oder die Hochschule zu gehen. Man muss also versuchen, gerade in bildungsfernen Schichten früh die Begabung zu heben.
Bei der Begabtenförderung ist es später wichtig, dass die Besten eines Jahrgangs die Chance haben, auch an die besten Universitäten zu kommen. Was heißt: Spitzenfakultäten sollten noch stärker als bisher die Möglichkeit haben, ihre Studierenden auszuwählen. Wenn wir die Begabten noch stärker in den internationalen Spitzenuniversitäten und Forschungszentren versammeln, haben sie die Möglichkeit, ihr volles Potenzial in Höchstleistungen umzusetzen. Also – Spitzenleute an Spitzenuniversitäten bei gleichzeitig breiterem Zugang zum Hochschulsystem.
Doch das muss heißen, dass sich die verschiedenen Universitäten und Hochschulen in unterschiedlichen Bereichen spezialisieren. Wenn wir dies zulassen und das System der Universitäten hierarchischer gestalten, sodass nicht alle Unis identisch sind; wenn wir zu einem System von Leuchttürmen gelangen, wo Spitzenforschung betrieben wird, ist das die beste Chance, die Begabten zu fördern. Natürlich brauchen diese auch deutliche finanzielle Unterstützung. Da entwickelt sich in Deutschland viel, aber es hat auch schon vorher entsprechende Unterstützungssysteme gegeben. So können die Begabten ihr volles Potenzial ausschöpfen.
Wie kommen wir denn zu diesen Leuchttürmen: Brauchen wir in Deutschland höhere Bildungsausgaben?
Ludger Wößmann: In der Schule, wo die Kompetenzen aufgebaut werden, führen zusätzliche Bildungsausgaben leider kaum zu besseren Bildungsergebnissen. So haben einige Länder in diesem Bereich seit der ersten PISA-Studie ihre Bildungsausgaben besonders stark erhöht, andere hingegen kaum. Dennoch schlägt sich das nicht in den PISA-Leistungen nieder.
Aber es kommt ja gerade auf die frühen Bildungsergebnisse an. In den entwickelten Ländern scheint es daher nicht in erster Linie auf zusätzliche Bildungsausgaben anzukommen, sondern darauf, wie die Ressourcen sinnvoll eingesetzt werden – also, wie bessere Bildungsergebnisse dabei erzielt werden können.
Es deutet vieles darauf hin, dass die institutionellen Rahmenbedingungen letztendlich bestimmen, welche Anreize etwa Lehrer haben, sich für bessere Bildungsergebnisse einzusetzen. Was heißt: Wir sollten Anreize schaffen für diejenigen, die sich für bessere Bildungsergebnisse einsetzen. Wenn diejenigen, die das tun, am Ende des Tages genauso dastehen wie die, die das nicht tun, muss man sich nicht wundern, wenn am Ende keine besseren Ergebnisse erreicht werden.
So brauchen wir in ganz Deutschland dringend vergleichbare Abiturprüfungen. Hier ist die spezielle Länderregelung nicht mehr zeitgemäß. Es gibt gute Vorschläge, wie man zu einem gemeinsamen Kernabitur kommen kann. Es muss nicht ein deutschlandeinheitliches Abitur sein. Aber wenn die Kernbestandteile – Deutsch, Mathe, Englisch – in vergleichbaren Prüfungen deutschlandweit geprüft würden, könnte das einen Qualitätsschub insgesamt bewirken. Bei einem gemeinsamen Kernabitur käme es darauf an, dass die Schulen mehr Autonomie haben; dass sie selbstständiger entscheiden, wie sie die klaren Standards erreichen könnten, die auch extern überprüft werden. Es käme darauf an, dass die Schulen selbst stärker entscheiden können, wie sie ihre Ressourcen einsetzen.
Nicht zuletzt geht aus Forschungsergebnissen hervor, dass die Schulsysteme besser sind, in denen es mehr Wahlfreiheit zwischen verschiedenen Schulen gibt – für die Eltern und die unterschiedlichen Anbieter. Was heißt: Wir bräuchten mehr Schulen in freier Trägerschaft, die die Dinge anders machen. Das würde zu einem Wettbewerb zwischen den Schulen führen. Am Ende würde es die Qualität an allen Schulen erhöhen.
In den Fragebögen zu den PISA-Studien werden vor allem mathematische, naturwissenschaftliche Kenntnisse abgefragt sowie das Leseverständnis. Inwiefern bilden diese Fähigkeiten Problemlösekompetenzen ab, die in der Praxis wichtig sind?
Ludger Wößmann: Die PISA-Studien bilden nur einen Ausschnitt von dem ab, was wir an Wissens- und Bildungsergebnissen erwarten. Das ist eine Einschränkung. Problemlösekompetenzen und Kreativität, aber auch andere nicht kognitive Kernkompetenzen, wie soziales Verhalten und Teamfähigkeit, sind am modernen Arbeitsmarkt wichtig. Das will ich nicht einschränken. Wenn es jedoch auf die langfristige wirtschaftliche Bedeutung ankommt, haben diese Basiskompetenzen, wie sie bei den PISA-Studien und ähnlichen Tests gemessen werden, einen unheimlich starken Erklärungswert. Das scheint darauf hinzudeuten, dass eben dieses Basiswissen – was ja keine höhere Mathematik darstellt – ein Fundament ist für alles Weitere.
Wenn man sehr kreativ ist, aber gleichzeitig keine Grundlagen hat, zu verstehen, wie die Welt funktioniert, kann man sich nicht weiterentwickeln und auch keine Lösungen für die Probleme von morgen anbieten. Kreativität ohne ein gutes Grundlagenwissen hilft nicht weiter. Letztendlich ist das Leseverständnis die Basis für alles weitere Lernen.
In Deutschland haben wir viel zu lange die mathematisch-naturwissenschaftlichen Kompetenzen vernachlässigt. Ich halte es für sehr richtig, dass wir hier einen Schwerpunkt setzen. Das soll natürlich nicht heißen, dass es sich in der Schule jetzt nur noch darum drehen sollte; auch die anderen Kompetenzen sind wichtig. Allerdings zeigen Forschungsergebnisse, dass kognitive Kompetenzen und andere Kompetenzen positiv miteinander korrelieren, dass sie also Hand in Hand gehen und nicht die einen auf Kosten der anderen gehen. Das heißt, Schulen, die es schaffen, in den einen Bereichen bessere Ergebnisse zu erzielen, erreichen sie in der Regel auch in den anderen.
Eine aktuelle Studie besagt, dass in Deutschland die Schulangst zunimmt. Nähern wir uns jetzt den asiatischen Systemen an, die in PISA- sehr erfolgreich sind?
Ludger Wößmann: Das sehe ich überhaupt nicht. Natürlich gibt es bestimmte Tendenzen, die Eltern verunsichern, die Schüler verunsichern; das hat sicherlich mit der Diskussion um acht oder neun Schuljahre auf dem Gymnasium und ähnlichen Punkten zu tun.
Das ändert jedoch nichts daran, dass wir eine stärkere Ergebnisorientierung im Bildungssystem brauchen. Es ist eher eine Frage der Kommunikation, wenn wir heute darüber reden, was Schule machen soll, welche Probleme es gibt und wie man damit umgehen kann. Es gibt heute sehr viele Lehrer, die trotz des gewachsenen Leistungsdrucks versuchen, Freude am Lernen zu vermitteln. Sie zeigen, dass es Spaß macht, wenn man die Welt besser versteht.
Ludger Wößmann, geboren 1973 in Sendenhorst, Inhaber des Lehrstuhls für Bildungsökonomie an der Ludwig-Maximilians-Universität München und Leiter des ifo Zentrums für Bildungsökonomik am ifo Institut München.
Das Gespräch führte Felise Maennig-Fortmann, Koordinatorin für bildungspolitische Grundsatzfragen und Hochschulpolitik der Konrad-Adenauer-Stiftung, am 16. Juni 2015.