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Interview: "Das letzte große Lagerfeuer"

DFB-Präsident Reinhard Grindel über Fußball und Politik

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Herr Grindel, „Sport ist nicht unpolitisch“, haben Sie kürzlich formuliert. Aber wie politisch kann und darf der Sport sein?

Reinhard Grindel: Sport darf zuallererst nicht parteipolitisch einseitig sein. Er ist nicht unpolitisch, muss aber darauf achten, sich nicht politisch zu überheben. Vom Sport kann niemand verlangen, was mächtige Staatslenker und die UNO nicht zustande bringen – daher auch meine Skepsis gegenüber Boykottaufrufen. Andererseits ist der Sport, vor allem der Fußball, in der globalisierten und digitalisierten Welt das letzte große Lagerfeuer, um das sich alle Schichten der Gesellschaft versammeln – Arme und Reiche, Männer und Frauen, Menschen mit und ohne Migrationsgeschichte. Die Einschaltquoten im Fernsehen und die Millionen Menschen beim Public Viewing veranschaulichen, was der Fußball „bewegen“ kann. Daraus erwächst eine große Verantwortung und Integrationskraft: Er kann Werte vorleben, Orientierung geben, Standpunkte verdeutlichen, und insofern wirkt der Sport natürlich auch politisch.

Wo sehen Sie konkrete politische Zeichen?

Reinhard Grindel: Nehmen Sie die üble Demagogie Alexander Gaulands gegenüber unserem Nationalspieler Jérôme Boateng. Die entschiedene Reaktion des Sports hat deutlich gemacht, dass wir jeder Form von Diskriminierung unmissverständlich entgegentreten. In diesem Fall ist die AfD eindrucksvoll in die Schranken gewiesen worden. Beim Qualifikationsspiel in Prag im September 2017, als Neonazis den Fußball als Bühne für rechtsextremistisches Gedankengut missbrauchen wollten, haben unsere Spieler souverän reagiert und sich klar distanziert.

Wichtig ist uns, immer wieder Zeichen zu setzen. So nutzen der Deutsche Fußball-Bund und die Deutsche Fußball Liga (DFL) das öffentlichkeitswirksame Podium der Bundesliga oder unserer Nationalmannschaft für Aktionen gegen Diskriminierung und Gewalt. Unsere Mannschaft verkörpert geradezu die Überzeugung, dass Vielfalt eine Stärke ist. Denn ohne unsere Spieler mit Migrationshintergrund hätten wir 2014 nicht Weltmeister werden können.

Auch unsere Bewerbung für die Europameisterschaft 2024 lässt sich als ein politisches Zeichen verstehen. In einer Zeit, in der das Nationale in manchen europäischen Ländern wieder überdeutlich betont wird, wollen wir in der Mitte Europas, in einem Land mit Grenzen zu neun europäischen Nachbarn, an der Nahtstelle von Ost und West, ein Fußballfest feiern, das Brücken zwischen den Menschen baut und sie erfahren lässt, dass die Werte des Fußballs Werte des Zusammenlebens unter den Menschen in Europa sind.

Sie haben mit dem Bild des „Lagerfeuers“ die enorme Integrationskraft des Fußballs herausgestellt. Welche soziale Verantwortung, aber auch welche Ansprüche an die Öffentlichkeit leiten Sie aus dieser „Lagerfeuerfunktion“ ab?

Reinhard Grindel: Unsere soziale Verantwortung nehmen wir als DFB international und national wahr. Unser Engagement im Einzelfall folgt unseren Werten im Grundsätzlichen, die wir im Alltag des Fußballs leben: Respekt, Toleranz, Fairplay. In Ländern, in denen wir Turniere gespielt haben, zeigt der DFB langfristiges Engagement. Die Mexiko-Hilfe der DFB-Stiftung Egidius Braun hilft seit über dreißig Jahren Kindern beispielsweise aus Müllsammlerfamilien, damit sie durch Bildung bessere Lebenschancen bekommen. Betreuungsprojekte in Brasilien bewahren Kinder vor einem Leben auf der Straße. In der Ukraine sind wir bis zum heutigen Tag im Gesundheitswesen für Kinder engagiert.

In Deutschland setzt der Fußball positive Beispiele der Integration. Mittlerweile sind über 40.000 Flüchtlinge in die Vereine des DFB aufgenommen worden. Mit der Blindenfußball-Liga, aber auch mit vielfältigen anderen Initiativen, fördern wir die Inklusion. Bei dem Projekt „Anstoß für ein neues Leben“ geht es um die Resozialisierung von Strafgefangenen. In Haftanstalten bieten wir an, den Schiedsrichterschein zu machen – weil Menschen mit Schiedsrichterscheinen in Fußballvereinen herzlich willkommen sind und sie dadurch in ein neues, positives soziales Umfeld kommen.

Essenziell ist für den Fußball darüber hinaus das ehrenamtliche Engagement. Das Vereinsleben, der Zusammenhalt in der Fußballgemeinschaft, das Erleben von Heimat lassen sich nicht organisieren, wenn jeder fragt: „Was bekomme ich dafür?“ Auch das kann Vorbild für die Gesellschaft insgesamt sein, denn sich selbst um das Gemeinwesen zu kümmern ist eine Grundlage für gesellschaftlichen Zusammenhalt.

Per Mertesacker hat kürzlich den Fokus auf die harte Realität im Profi-Fußballs gerichtet …

Reinhard Grindel: Per Mertesacker setzt ein Beispiel, indem er deutlich macht, dass selbst Weltmeister in ihrer Karriere unter schweren psychischen Belastungen leiden können. Das wirkt insofern vorbildlich, als dadurch gerade auch für jüngere Fußballer die Hemmschwelle sinkt, sich im Zweifel entsprechende Hilfe zu suchen. Die aktuelle Diskussion um Per Mertesacker unterstreicht die Bedeutung der Robert-Enke-Stiftung, die seit mehr als acht Jahren einen Beitrag dazu leistet, die Volkskrankheit Depression aus ihrem gesellschaftlichen Schattendasein zu holen.

Zum Thema „Ansprüche des Fußballs an Politik und Öffentlichkeit“ sind wir noch nicht gekommen. Welche Unterstützung wünschen Sie sich?

Reinhard Grindel: Generell bleibt uns wichtig, die Gemeinnützigkeit zu bewahren. Die Politik verspricht in Sonntagsreden immer wieder, für Entbürokratisierung im Vereinswesen zu sorgen. In der Praxis sieht es leider anders aus. Durch eine wirklichkeitsfremde Rechtsprechung werden immer mehr Aktivitäten der Vereine nicht dem ideellen Bereich, sondern dem wirtschaftlichen Geschäftsbetrieb zugerechnet. Das bringt die Vereine in erhebliche Probleme mit den Steuerbehörden, was wiederum Gefahren für die Wahrung der Gemeinnützigkeit bedeutet. Angesichts der überragenden gesellschaftlichen Funktion von Vereinen halten wir entsprechende Klarstellung im Vereins- oder Steuerrecht für wünschenswert.

Die Einheit des Fußballs zwischen der Breite und Spitze ist eines Ihrer zentralen Themen. Etwa angesichts der exorbitanten Gehälter und Ablösesummen im Profifußball würde man die Distanz leicht für unüberbrückbar halten.

Reinhard Grindel: Ich habe Verständnis für einen Vereinsvorsitzenden vor Ort, der ungläubig auf Neymars Ablösesumme von 222 Millionen Euro schaut – zumal, wenn sein eigener Fußballplatz dringend renovierungsbedürftig ist. Andererseits darf man nicht übersehen, dass sich große internationale Vereine mit Spielern wie Neymar nicht nur eine hohe sportliche Qualität, sondern auch eine enorme Wirtschaftskraft einkaufen. Cristiano Ronaldo, Lionel Messi oder Neymar haben weltweit über 100 Millionen Follower auf Twitter, Instagram oder Facebook. Ein Tweet – etwa, um ein neues Trikot bekannt zu machen – erreicht die richtigen Zielgruppen unmittelbar. Spieler dieser Kategorie erweitern also die Werbemöglichkeiten, sorgen aber auch dafür, dass beispielsweise die spanische Liga in Südamerika weit höhere TV-Einnahmen erzielt als unsere Bundesliga. Mit Sicherheit weckt die französische Liga neues Interesse in Brasilien, seit Neymar für Paris Saint-Germain spielt.

Gleichwohl gibt es Anlass, in der UEFA genau zu analysieren, ob unsere Regeln des Financial Fairplay noch ausreichend sind oder ob sie verschärft werden müssen. Allerdings müssen derartige Regeln mit den Grundsätzen des freien europäischen Binnenmarktes im Einklang stehen. Zurzeit sind wir seitens der UEFA im engen Kontakt mit der Europäischen Kommission, um auszuloten, was möglich ist.

Vor allem aber müssen unsere Amateurvereine spüren, dass ihre Leistungen anerkannt werden. Ohne ihre Basisarbeit gäbe es keinen erfolgreichen Spitzenfußball: Thomas Müller hat nicht bei Bayern München angefangen, sondern beim TSV Pähl am Ammersee; Toni Kroos nicht bei Real Madrid, sondern beim Greifswalder SC. Diese grundlegende Rolle muss gewürdigt werden – beispielsweise durch eine Ausbildungshonorierung, die jetzt deutlich stärker stattfindet. Vereine, die Spieler in jungen Jahren ausgebildet haben, erhalten eine beachtliche finanzielle Entschädigung, sobald der erste Profi-Vertrag unterschrieben ist.

Außerdem beteiligt sich die DFL auch finanziell in erheblichem Umfang an der Arbeit unserer Landesverbände. Das insgesamt gute Miteinander von DFL und DFB – das trifft für Länder wie Spanien, Italien oder England weniger zu – wirkt sich positiv auf die Basisarbeit aus.

Und der DFB-Pokal?

Reinhard Grindel: Er ist traditionell ein wichtiges Band zwischen Amateur- und Profi-Fußball. Nach wie vor treten dort die Kleinen gegen die Großen an. Weil das in der aktuellen Diskussion zu kurz gekommen ist, möchte ich darauf hinweisen, dass die umstrittenen Montagsspiele der Bundesliga auch ein Stück Respekt gegenüber dem Amateurfußball bedeuten. Ansonsten würden auch diese Spiele jeweils am Sonntag, dem „Tag der Amateure“, stattfinden. Drei statt meist zwei Bundesligabegegnungen wären zumindest in den Regionen der Heimclubs eine sehr starke Konkurrenz.

Fanproteste, auch gegen den DFB, nehmen – jedenfalls nach Ansicht vieler – an Schärfe zu. Sind sie Anlass zur Selbstkritik?

Reinhard Grindel: Die Proteste gegen den DFB sind nach meiner Wahrnehmung deutlich zurückgegangen, weil wir in einen intensiven Fandialog eingestiegen sind. Im November haben wir uns mit Repräsentanten der Ultra-Szene zu einem intensiven Gespräch getroffen, nun hoff n wir auf eine baldige Fortsetzung. Der DFB hat erhebliche Vorleistungen erbracht, um Themen anzugehen, die die Fans als störend empfanden. Dazu gehören die Aussetzung der Kollektivstrafen oder die weitgehende Freigabe von Fan-Utensilien. Unsere Sportgerichtsbarkeit ist weitaus fanfreundlicher geworden. In unserem Gespräch habe ich mich bemüht, klarzustellen, wo die Verantwortlichkeiten für bestimmte Probleme liegen, die die Fanszenen artikulieren. Über die Spieltaggestaltung und die Vergabe der TV-Rechte entscheiden beispielsweise im Ergebnis die Vereine, nicht die Verbände.

Der Sozialphilosoph Gunter Gebauer hat zur „Rebellion“ aufgerufen. Er sieht den Fußball etwa durch die merkantilen Einflüsse aus China und arabischen Ländern gefährdet. Für wie bedroht halten Sie die deutsche und europäische Fußballkultur?

Reinhard Grindel: In keinem Fall halte ich die deutsche Fußballkultur für so bedroht, dass es einer Rebellion bedürfte. Im Gegenteil: Englische und italienische Fans beneiden uns um die Atmosphäre in den Stadien, um unsere Fußballkultur allgemein. Erstaunlich viele Engländer kommen jedes Wochenende nach Deutschland, um Bundesligaspiele zu sehen, weil sie hier einen ursprünglicheren Fußball erleben können – etwa im Hinblick auf Stehplätze und Anstoßzeiten, auf die größere Anzahl von Spielen, die frei im Fernsehen zu empfangen sind, oder auf die große Akzeptanz von Spielen der 3. und 4. Liga, die bis zu 20.000 Zuschauer anziehen. Bei uns gibt es keine totale Beeinflussung durch Investoren, die etwa die Vereinsfarben bestimmen.

Ein Punkt, der besonderer Aufmerksamkeit bedarf, ist allerdings die Competitive Balance – also die Frage, wie innerhalb Europas mehr Chancengleichheit unter den Clubs hergestellt werden kann und nicht immer nur die gleichen drei, vier Vereine eine Chance haben, die Champions League zu gewinnen.

In welchem Sinne wollen Sie das – bekanntlich ziemlich große – Gewicht des DFB in die FIFA einbringen, deren Transparenzbemühungen jedenfalls in den Augen vieler Beobachter sehr hinter denen des DFB zurückbleiben?

Reinhard Grindel: Nur mit anderen in der UEFA, aber auch zusammen mit anderen Konföderationen, die unsere Ansichten zu bestimmten Themen teilen, können wir auf der FIFA-Ebene etwas bewegen. Es geht um klare Positionen. Aber wir vertreten sie in der Weise, dass sie zu einem Anliegen der UEFA insgesamt werden. So hoffen wir, auch andere Konföderationen von zentralen Themen wie Good Governance zu überzeugen. Schließlich schauen auch Sponsoren verstärkt auf diese Fragen. Dabei hängen viele Verbände in anderen Erdteilen stark von den FIFA-Zuwendungen und Entwicklungsmitteln ab und sind insofern an einer stabilen Einnahmesituation der FIFA interessiert. Wenn man den Zusammenhang herstellt, dass eine gut organisierte FIFA attraktiver für Sponsoren ist und die FIFA dementsprechend leistungsfähiger für Entwicklungsprogramme sein kann, dann gelingt es auch, Vertreter anderer Konföderationen auf dem Weg mitzunehmen.

Die WM 2018 steht kurz bevor – in einem Land, das im Schulterschluss mit einem Diktator in Syrien einen grausamen Krieg führt, dem Hackerangriffe und die Beeinflussung von Wahlen im Westen nachgesagt werden und das nun auch noch mit einer Giftgas-Attacke in Verbindung gebracht wird. Kann sich ein westlicher Verband noch guten Gewissens am WM-Turnier in Russland beteiligen?

Reinhard Grindel: Wie gesagt, glaube ich nicht, dass man sich der Illusion hingeben sollte, dem Fußball Dinge zuzutrauen, die die politische Ebene nicht löst. Ich setze darauf, dass die WM einen Lichtkegel auf Russland richtet, der vieles ausleuchtet, was sonst nicht sichtbar würde. Nehmen Sie das Beispiel Katar, wo sich nach heftiger Kritik von außen die Lage der dortigen Bauarbeiter merklich verbessert hat. Bei der Weltmeisterschaft in Russland ist uns wichtig, Brücken zu bauen und die Begegnung von ganz normalen Menschen zu fördern, was dann hoffentlich zu Kontakten auch über die Dauer des Turniers hinaus führt.

Bereits im Vorfeld helfen wir, die Aktivitäten von Fans zu erleichtern, indem wir im Mai einen Fandialog in Moskau initiieren. Im sozialen Bereich werden wir Projekte fördern, wie wir das im Rahmen von Weltmeisterschaften immer tun. In diese Aktionen ist auch unsere Mannschaft integriert, und bei allen unseren Gesprächen wird das Thema der Menschenrechte Erwähnung finden. Auf geeignete Weise wird es auch Treffen mit Vertretern von Menschenrechtsorganisationen geben, deren Arbeit durch die Weltmeisterschaft mehr internationale Aufmerksam erfahren wird.

Sie wollen nicht mit „erhobenem Zeigefinger“ durch Russland laufen. Wie soll Ihre Position zu Menschenrechten und Meinungsfreiheit stattdessen zum Ausdruck kommen?

Reinhard Grindel: Ein glaubwürdiger Weg besteht darin, gemeinsame Herausforderungen anzusprechen. Möglicherweise kann unsere Art, bestimmte Fragen anzugehen, ein Angebot sein. Das betrifft etwa den Umgang mit den Fans, vor allem aber auch unsere Überzeugung, dass Vielfalt eine Stärke darstellt. Insofern laden wir dazu ein, unsere Sichtweise kennenzuler

nen. Zuletzt war Thomas Hitzlsperger Mitglied der DFB-Delegation, die nach Russland gereist ist. Als unser Vielfaltsbeauftragter steht er für Toleranz, Respekt und Fairplay, die entscheidenden Werte des Fußballs.

Ich bin überzeugt, dass ein solcher wertebasierter frischer Wind, der vom Austausch unter Zigtausenden von globalen Fußballfans ausgehen wird, langfristig die eine oder andere Veränderung in Russland mit sich bringt.

Gibt es einen Wunsch, den Sie unseren Nationalspielern mit auf den Weg zur WM 2018 geben wollen?

Reinhard Grindel: Ich wünsche mir, dass sie bei all dem, was jenseits der vier Eckfahnen des Fußballfelds zu beachten ist, eines wissen: dass es um Sport geht und wir alle hoffen, wieder Weltmeister zu werden. Und das lässt sich nur erreichen, wenn alle vom ersten Spiel an hundertprozentig konzentriert sind und jeder sein gesamtes Leistungsvermögen abruft. Die Mannschaft kann erneut Großes vollbringen.

Das Gespräch führte Bernd Löhmann am 22. März 2018.

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Reinhard Grindel, geboren 1961 in Hamburg, Altstipendiat der Konrad-Adenauer-Stiftung, Journalist, Politiker und Sportfunktionär, 2002 bis 2016 Mitglied des Deutschen Bundestags, seit 2016 Präsident des Deutschen Fußball-Bundes (DFB).

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