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Interview: Der Himmel ist keine Grenze

von Nicola Winter
von Ralf Thomas Baus

Nicola Winter, Reserveastronautin der ESA, über die deutsche Raumfahrt­strategie, den Technologiestandort Deutschland und Rollenklischees in der Luft­ und Raumfahrt

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Frau Winter, wie ist es, wenn man mit dem Eurofighter die Schallmauer durchbricht und dem Himmel so nah ist?

Nicola Winter: Tatsächlich ist der Eurofighter aerodynamisch so clever gebaut, dass man nicht merkt, wenn die Schallmauer durchbrochen wird. Mir ist es ein- oder zweimal aus Versehen passiert. Schnell zu fliegen, macht sehr viel Spaß. Aber es ist nicht nur der Hype, sondern wir trainieren, sind in Formationen unterwegs und fliegen in verschiedenen Missionen, die herausfordernd sind. Dem Himmel so nah zu sein, bedeutet, einen phantastischen Überblick zu haben. Wenn wir in Norddeutschland üben, sehe ich Hamburg und gleich daneben die Nordsee. Piloten genießen auch sehr die Wolken: über den Wolken, unter den Wolken, in den Wolken.

Foto: © Maren Richter

Das Fliegen liegt Ihnen im Blut!

Nicola Winter: Ja, meine Mutter war sechsfache Weltmeisterin im Drachenfliegen und hatte eine eigene Ultraleichtflugschule. Meine Oma ist im Zweiten Weltkrieg zum Segelfliegen gekommen. Beide Großeltern waren sehr unerschrocken und enorm technikaffin; das saugt man als Kind auf.

 

Als Astronautin wollen Sie nun die Grenzen der Erde endgültig überschreiten. Warum?

Nicola Winter: „The Sky Is No Limit“ ist eines meiner Leitmotive. Seit der Mensch angefangen hat, sich zu entwickeln, war die Frage immer: Was liegt hinter der nächsten Kurve? Wie weit kann ich noch kommen? Neugier und Forscherdrang haben die Menschheit weit gebracht, bis hin zum Mond.

 

Ende 2022 schafften Sie es unter 22.500 Bewerberinnen und Bewerbern, in die Astronautenreserve der Europäischen Weltraumorganisation (ESA) aufgenommen zu werden. Besteht eine realistische Chance, dass Sie einmal als erste Deutsche ins All fliegen?

Nicola Winter: Sollte sich Deutschland dafür entscheiden, in den nächsten Jahren eine neue Astronautin auszubilden, stehen meine Chancen fünfzig zu fünfzig, weil wir zu zweit in der Astronautenreserve sind. Dass sich der politische Wille pro Raumfahrt und Forschung ändert – im Moment sind wir in der Reserve, weil Deutschland kein Interesse zeigt –, liegt nach meiner Einschätzung ebenfalls bei fünfzig zu fünfzig. Insgesamt schätze ich meine Chance, einmal ins All zu fliegen, also mit 25 Prozent ein.

 

Wie sehen Sie Deutschland in der Raumfahrt aufgestellt?

Nicola Winter: Wir sind industriell noch sehr gut aufgestellt, haben exzellente Ingenieure und große, etablierte Firmen wie die Airbus Defence and Space und die OHB. Es gibt – das ist absolut gigantisch – drei Start-ups in Deutschland, die orbitale und suborbitale Raketen entwickeln wollen.

Schlecht aufgestellt sind wir beim politischen und gesellschaftlichen Willen. Zwar wurde gerade eine neue Raumfahrtstrategie vorgestellt, sie bleibt aber vage und unkonkret. Da wir ein Hochtechnologie-Standort sind, braucht es deutlich größere Ambitionen.

 

Das Budget für die Raumfahrt ist gekürzt worden …

Nicola Winter: Eben, natürlich kommt immer das Argument, dass die Raumfahrt enorm teuer ist. Das ist richtig, allerdings wird das Geld nicht im Raketenantriebsstrahl verbrannt, sondern es geht an Firmen und Menschen in unserem Land, die neue Technologien und Produkte entwickeln, von denen wir noch in fünfzig oder hundert Jahren profitieren können und die den Innovations- und Technologiestandort Deutschland voranbringen. Der Effekt ist somit viel größer als die Kosten, sodass es sträflich wäre, Investitionen in die Raumfahrt zu vernachlässigen.

 

Wo erweisen sich für die Raumfahrt entwickelte Technologien als besonders nützlich?

Nicola Winter: Wir wissen beispielsweise nur deshalb so viel über den Klimawandel, weil er konstant aus dem All beobachtet wird. 95 Prozent aller Daten über den Klimawandel kommen aus der Weltrauminfrastruktur der Internationalen Raumstation ISS und von Satelliten, die Meereshöhen und -temperaturen messen. Die gesamte Telekommunikation könnte ohne Satelliten nicht gewährleistet werden. Ohne Satelliten funktioniert kein Navigator im Auto oder auf dem Handy.

Die erste große Unternehmung, bei der ein Projektmanagement betrieben wurde, war die Mondlandung. Es war das erste Projekt, bei dem Software-Engineering eingesetzt wurde. Das bildete die Grundlage dessen, was heutzutage Standard ist. Wie sieht ein Display aus, wie gibt ein Nutzer dort Daten ein?

Mit der Mondlandung war auch der Einsatz des Computers verbunden. Seit es diese großen und schwierigen, aber faszinierenden Projekte in der Raumfahrt gibt, klemmt sich ein Haufen schlauer Menschen dahinter und findet Lösungen, die auch im Alltag zu Anwendungen führen, die wir inzwischen für selbstverständlich halten.

 

Was fasziniert Sie am Weltraum, was zieht Sie dorthin?

Nicola Winter: Das Spannende ist immer die letzte Grenze der Menschheit. Woran wird gerade geforscht, was ist unerforscht? Auf der Erde sind alle Kontinente entdeckt, ebenso die höchsten Höhen und die tiefsten Tiefen. Im Moment liegt unsere Grenze auf dem Mond. Ist es verkehrt, sie bis zum Mars zu verschieben? Wenn ich vor 300 oder 400 Jahren gelebt hätte, wäre es spannend gewesen, über die Weltmeere zu segeln und dort unbekannte Welten zu entdecken. Ich glaube, dass die Menschheit neue Grenzen braucht, um zu sagen, wir können noch ein bisschen weitergehen. Diese Faszination ist eine große Triebfeder für Innovation. Das Weltall außerhalb unserer Atmosphäre ist brutal lebensfeindlich. Davor habe ich großen Respekt. Aber darin liegt natürlich auch eine Herausforderung, die motivierend ist.

 

Sie waren eine von nur drei Eurofighter-Pilotinnen der Luftwaffe. Pilot, so heißt es immer noch, sei ein Männerberuf. Spielen diese Rollenklischees in der Luft- und Raumfahrt noch eine Rolle?

Nicola Winter: Der Beruf des Piloten in der zivilen Welt, aber auch beim Militär, ist inzwischen deutlich weiblicher geworden. Klischees spielen faktisch keine Rolle mehr. Anders ist es in der allgemeinen Wahrnehmung. Sie führt dazu, dass sich immer noch weniger Frauen als Männer diesen Beruf zutrauen. Dabei ist Pilotin ein großartiger Beruf für Frauen. Flugzeuge werden nicht mehr mit Muskelkraft geflogen, sondern mit Hydraulik, es geht eher um ein cleveres Köpfchen, gut sortieren, smartes Multitasking – und darin sind Frauen mindestens genauso gut wie Männer.

 

Eine Untersuchung des ESA-Teams für Weltraummedizin hat gezeigt, dass der weibliche Körper für die Raumfahrt besser geeignet ist als der männliche. Warum ist das so?

Nicola Winter: Statistisch sind Frauen kleiner und leichter als Männer. In der Raumfahrt kostet jedes Kilo, das in den Erdorbit befördert werden soll, 25.000 Euro. Eine 55 Kilogramm schwere Frau ist also deutlich wirtschaftlicher als ein 95 Kilogramm schwerer Mann. Sie verbraucht körperlich weniger Ressourcen: Sauerstoff, Wasser, Essen. Auch das macht eine Weltraummission deutlich effizienter. Würde man ein statistisch durchschnittliches Frauenteam anstelle eines reinen Männerteams zum Mars schicken, ergäbe sich eine Ersparnis von zwei Kubikmeter Volumen, was einem ganzen Raumschiffmodul entspricht. Allerdings sagt das nichts über das Individuum des Astronauten aus. Es werden vier bis sechs einzelne Menschen ausgewählt, die ins All fliegen. Es gibt zudem große Frauen und kleine Männer. Aber diese Studie hat mich sehr amüsiert.

 

Wie beurteilen Sie die Aktivitäten privater Unternehmen in der Raumfahrt und wie schätzen Sie den Weltraumtourismus ein?

Nicola Winter: Die kommerziellen Aktivitäten sind sehr wichtig, und wir müssen sie noch viel stärker fördern. Wir sehen das am Beispiel der USA, die mit „SpaceX“ eine eigene Möglichkeit haben, Satelliten, aber auch Menschen ins All zu f liegen. Wenn Elon Musk nicht mit seinem eigenen Geld und seinem Genie „SpaceX“ aufgebaut hätte, hätten die USA jetzt ein massives Problem, weil sie seit mehr als zehn Jahren keinen eigenen Spaceshuttle und damit keinen eigenen Zugang zum Weltall haben und auf die Russen angewiesen wären. Prinzipiell ist es nicht sinnvoll, nur einen Zugang zu haben.

Die privaten Raumfahrtaktivitäten befeuern auch die Innovation und die Forschung. Und wir könnten das auch. Europa hat keinen eigenen Zugang zum All mehr. Die Ariane 6 ist eine Katastrophe, mir fällt dazu kein anderes Wort ein. Es gibt immer wieder negative Schlagzeilen, weil sie staatlich betrieben wird. Die Privatwirtschaft macht das einfach besser, wenn man sie lässt und ihr nicht im Weg steht.

Der Weltraumtourismus steckt noch in den Kinderschuhen. Ich glaube nicht, dass das kurz- oder mittelfristig zum großen Hype wird oder zu Problemen führt. Die Thematik Weltraumschrott und wie wir diesen wieder aufgeräumt bekommen, ist das spannendere Thema und die größere Herausforderung.

 

Die Amerikaner wollen wieder zum Mond fliegen. Wie finden Sie das?

Nicola Winter: Ich finde das super! Es sind immer diese großen Pläne, die uns weiterbringen. Wir haben einige Herausforderungen auf der Erde, die man auch mithilfe des Weltalls lösen kann. Ressourcenknappheit zum Beispiel, Raubbau von wunderschönen Gebieten auf der Erde. Wenn wir diese Ressourcen im All finden, können wir die Erde besser schützen, denn da oben kann man nicht so leicht etwas kaputt machen.

Meines Erachtens ist das Gerede von einem Ausweichplaneten hanebüchen. Aber wenn wir durch die Raumfahrt lernen, das Klima besser zu beeinflussen, CO2 in der Luft zu kontrollieren und einen Planeten dort wirklich bewohnbar zu machen, dann können wir diese Technologien auch auf der Erde einsetzen. Dass Menschen das begeistert, wird uns hier auf der Erde noch sehr zugute kommen.

 

Nicola Winter, geboren 1985 in München, war über ein Jahrzehnt Kampfflugzeugpilotin bei der Bundeswehr, steuerte als eine von nur drei Frauen in der Luftwaffe den Eurofighter, Dienstgrad Major. 2017 setzte sie sich in einem Auswahlverfahren als Finalistin des Projekts „Die Astronautin“ durch, das sie später wieder verließ. Im November 2022 wurde Winter als Raumfahrerin in Reserve des Europäischen Astronautenkorps vorgestellt.
 

Das Gespräch führte Ralf Thomas Baus am 13. Oktober 2023.

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