Herr Dr. Stoiber, der offizielle Jubiläumsreigen zum 100. Geburtstag von Franz Josef Strauß ist in vollem Gange. Welche persönlichen Erinnerungen löst dieses Datum bei Ihnen aus?
Edmund Stoiber: Zunächst einmal ist dieser Reigen einem großen Sohn Bayerns und Deutschlands, dem wohl bedeutendsten bayerischen Politiker der Nachkriegszeit, geschuldet. Aber Sie fragen mich nach den persönlichen Erinnerungen. Das fängt bei mir als kleiner Bub schon an: Elf Jahre war ich alt, als ich mit meinen Eltern und meiner großen Schwester die Bundestagsdebatten am Radio mitverfolgte – um die Wiederbewaffnung und die Einführung der Bundeswehr ging es da. Die Stimme des Radioreporters habe ich im Ohr: „So, nun spricht der bayerische Abgeordnete Franz Josef Strauß.“ Da ist mir, obwohl ich nicht ganz verstanden habe, worum es ging, diese außer ordentliche Sprachgewalt und Überzeugungskraft aufgefallen.
Später in der „Jungen Union“, etwa 1972, als ich bei einer internen Veranstaltung mit Strauß diskutieren durfte, habe ich das erst recht verspürt – obwohl es nur um die Fragen eines Krankenhausfinanzierungsgesetzes ging.
Ich habe Strauß dann immer wieder getroffen, aber erst richtig aus der Nähe kennengelernt habe ich ihn ab 1978 – in den zehn Jahren, als ich Generalsekretär der CSU und Leiter der Bayerischen Staatskanzlei war. Insgesamt kann ich nur sagen: ein außerordentlich herausfordernder Chef, der viel verlangt hat, wo es, wenn etwas nicht so gut gelaufen ist, Kritik und heftige Diskussion gab. Aber es ist dann sehr schnell auch wieder verraucht, und es blieb nie etwas zurück.
Insgesamt machte es unendlich viel Freude, mit ihm zusammenzuarbeiten. Man merkte: Hier ist ein Vollblutpolitiker, der all das, was er sagt, umsetzen will. Und der bereit ist, sich mit seinen Vorstellungen auch in heftigste Auseinandersetzungen zu begeben.
Franz Josef Strauß war 27 Jahre lang Vorsitzender der Christlich Sozialen Union. Welche seiner Leistungen würden Sie heute besonders betonen?
Edmund Stoiber: Strauß hat wie kein anderer die CSU geprägt. Er hat aus der stark katholisch geprägten CSU eine Partei mit großer Bandbreite geschaffen. Sein Wort war immer: Das christliche Sittengesetz in seiner weitesten Auslegung ist unser Maßstab. Alle, ob katholische oder evangelische Christen, und auch alle, die keine Christen sind, sind in der CSU gut aufgehoben, wenn sie die Menschenwürde und die Freiheitsrechte des Menschen respektieren.
Ein weiteres Merkmal ist, dass Strauß aus der regional begrenzten, auf Bayern beschränkten CSU eine Partei für Deutschland und für Europa gemacht hat. Es gibt eine Akzeptanz der CSU weit über Bayern hinaus.
Franz Josef Strauß gilt als Ikone der CSU. Gibt es gute Gründe, warum die Schwesterpartei CDU das Jubiläum mitfeiern sollte?
Edmund Stoiber: Natürlich gibt es die. Strauß hat mit Konrad Adenauer und den ihm nachfolgenden politischen Persönlichkeiten eng zusammengearbeitet. Zweifellos hat Strauß einige der Grundkonstanten der Bundesrepublik Deutschland mitgeprägt: Die Einführung der Sozialen Marktwirtschaft durch Ludwig Erhard wäre ohne den jungen Strauß im Frankfurter Wirtschaftsrat 1948 vielleicht so nicht durchsetzbar gewesen. Die Wiederbewaffnung, der Aufbau der Bundeswehr – die Voraussetzung für die Aufnahme in die NATO –, war ganz klar auch durch Strauß geprägt. Dies gilt genauso für seine Position zur Montanunion und zur Europäischen Gemeinschaft. Und es trifft erst recht zu auf die deutsche Einheit.
Strauß ging 1972 vor das Bundesverfassungsgericht – allein, gegen die Positionen aller anderen führenden Politiker in Deutschland, noch dazu gegen die gesamte internationale Meinung. Aber das Urteil, das Strauß unter den größten Anfechtungen erkämpft hat, wies die Zweistaatentheorie zurück und machte deutlich: Es gibt nur eine deutsche Staatsangehörigkeit! Insofern überwand das Urteil den Eisernen Vorhang und die innerdeutsche Grenze.
Und trotzdem hat man in der CDU auch unter Strauß gelitten. Helmut Kohls Strauß-Porträt beginnt mit heftigen Stoßseufzern: „Wie oft hatte ich mich über ihn ärgern müssen! Wie verletzend er sein konnte. Was hatte ich alles hingenommen und um des Unionsfriedens willen heruntergeschluckt?“ Können Sie diese Gefühlslage nachvollziehen?
Edmund Stoiber: Ja, das kann ich, weil ich das unmittelbar miterlebt habe – als engster Mitarbeiter von Strauß, der Protokoll führen musste. Ich habe alle Briefe, alle Gespräche – auch bei den gemeinsamen Wanderungen – mitbekommen. Deswegen kann ich die Gefühlslage von Helmut Kohl nachvollziehen. Aber es zeichnet eine große Führungspersönlichkeit aus, wie sie Helmut Kohl unbestritten darstellt, dass er am Ende immer wieder mit Strauß auf einen Nenner gekommen ist. Da musste der eine wie der andere auch einmal schwer schlucken, aber den Bruch zwischen beiden hat es nie gegeben. Wichtiger ist, glaube ich, zu erkennen: Die Erfolgsgeschichte von Helmut Kohl verband sich in all den Jahren auch mit der Kraft und der Inspiration von Franz Josef Strauß.
Strauß hat 1949 bei der ersten Zusammenkunft der neu gewählten CSU-Bundestagsabgeordneten die Bildung einer gemeinsamen Fraktion vorgeschlagen. Jahrzehnte später, im November 1976, trug er in Wildbad Kreuth den Trennungsbeschluss der CSU-Landesgruppe mit. Können Sie uns das erklären?
Edmund Stoiber: Natürlich kann ich das erklären – nämlich aus der jeweiligen Zeitsituation heraus. Man darf nicht vergessen, dass es 1949 in Bayern eine große Auseinandersetzung über die Frage gegeben hat, ob Bayern bei der Bundesrepublik Deutschland dabei sein soll oder nicht. Wie Sie wissen, hat der Bayerische Landtag dem Grundgesetz nicht mit Mehrheit zugestimmt, was aber letztlich unschädlich war, denn man hat gleichzeitig gesagt: Wir akzeptieren die Mehrheitsentscheidung der Länder und werden auf jeden Fall ein wichtiges Mitglied der Bundesrepublik Deutschland sein.
Damals wollte die Bayernpartei Bayern als gänzlich eigenständigen Staat. Dagegen sagte die CSU Ja zum Freistaat Bayern, aber auch Ja zu Deutschland – und das drückte sich in der Fraktionsgemeinschaft von CSU und CDU aus. Die Entscheidung für die Fraktionsgemeinschaft war also ein klares Signal, das besagte: Wir sind Teil einer christlich geprägten Union in Deutschland und keine Separatisten.
Der Wandel setzte dann 1976 ein: Damals holte Helmut Kohl mit 48,6 Prozent ein überragendes Ergebnis bei der Bundestagswahl. Doch führte es, weil es nur drei Parteien im Parlament gab, nicht zur Kanzlerschaft. Es ging also darum, aus der Gefangenschaft des Drei-Parteien-Systems auszubrechen. Und das Ergebnis manifestierte sich im Slogan: Getrennt marschieren und vereint schlagen!
Das war die Grundidee – theoretisch faszinierend, aber in der Praxis ließ sie sich schwer umsetzen. Das habe ich als damaliger Generalsekretär der CSU sehr schnell gespürt, und Strauß hat sich ja bald mit Kohl geeinigt. Die Eigenständigkeit der CSU wurde festgeschrieben, genauso wie ihre besondere Position innerhalb der Fraktionsgemeinschaft. Die HannsSeidelStiftung wurde gestärkt.
Das Historische Lexikon Bayerns stellt fest: „‚Der Geist von Kreuth‘ ist längst zu einer historischen Chimäre geworden.“ Würden Sie dem zustimmen?
Edmund Stoiber: Der „Geist von Kreuth“ bedeutet heute sicherlich nicht Trennung von CDU/CSU, sondern Einheit der Union. Aber in dieser Einheit der Union mit zwei Parteien ist Kreuth auch ein deutliches Zeichen der Eigenständigkeit der CSU. Die Trennung ist Geschichte. Spätestens mit der Kanzlerkandidatur von Franz Josef Strauß 1980 war sie endgültig erledigt.
In der Tat: Nicht einmal drei Jahre nach Kreuth, am 24. Mai 1979, gaben Sie bekannt, dass Strauß als Kanzlerkandidat der Unionsparteien zur Verfügung stehe. Auf die Frage eines Journalisten, warum er kandidiere, antwortete er: „Warum fragen Sie das mich? Fragen Sie doch den da!“ und zeigte auf Sie. Wussten Sie es wirklich besser als er?
Edmund Stoiber: Das hat sich wirklich so zugetragen – auf der Kaiserburg in Nürnberg, in einem Interview mit dem Journalisten Ernst Dieter Lueg. In der Spätausgabe der „Tagesschau“ – damals gab es die „Tagesthemen“ nicht – wurde es ausgestrahlt.
An diesem Tag, dem 25. Mai 1979, erklärten Friedrich Zimmermann und ich, dass Franz Josef Strauß als Kanzlerkandidat für die Bundestagswahl 1980 zur Verfügung stehe. Nach allem, was Helmut Kohl ab 1976 erlebt hatte, war klar, dass er für die Wahl 1980 nicht zur Debatte stand. Zwar gab es andere Kandidaten: Die CDU favorisierte Ernst Albrecht, den Ministerpräsidenten von Niedersachsen. Aber wir glaubten, dass Strauß das stärkste Kaliber war. Natürlich hat Strauß am Ende selbst den Entschluss gefasst, diese historische Herausforderung anzunehmen. Dabei wusste er von vornherein, dass es ein schwerer Kampf werden würde, und er wusste auch, dass er mit seiner polarisierenden Persönlichkeit in dem einen oder anderen Bereich der CDU nicht mit vollem Herzen unterstützt werden würde.
Und trotzdem hat er das Ziel erreicht, bei der Wahl besser als Helmut Schmidt abzuschneiden – mit heute unvorstellbaren 44,8 Prozent. Dass er nicht Kanzler wurde, war wiederum der Konstellation geschuldet. Die zwei schwächeren Parteien SPD und FDP haben letzten Endes gegen die stärkste Fraktion regiert. Für mich war die Zementierung der Einheit der Union am Ende das entscheidende Faktum. Kreuth wurde, wie gesagt, endgültig beantwortet.
Sie organisierten 1980 den Wahlkampf gemeinsam mit dem Generalsekretär der CDU, Heiner Geißler, der Strauß als „Herz-Jesu-Sozialist“ galt. Wie gelang in dieser erstaunlichen Konstellation die Zusammenarbeit?
Edmund Stoiber: Die war zunächst nicht einfach, weil Heiner Geißler seine klaren und deutlichen Vorstellungen hatte. Als wir zwei Tage nach der Aufstellung von Franz Josef Strauß durch die Fraktionen am 2. Juli 1979 im Konrad-Adenauer-Haus in Bonn zusammenkamen, sagte Geißler zu mir: „Jetzt haben Sie Ihren Kandidaten, jetzt können Sie auch den Wahlkampf konzipierend leiten.“ Das war natürlich nicht ganz ernst gemeint, denn: Selbst wenn Strauß nicht der Vorzugskandidat von Heiner Geißler gewesen ist – er hat trotz seiner Vorbehalte mit mir zusammen einen hervorragenden Wahlkampf für die Union organisiert. Mit Sicherheit lag es nicht an ihm, dass wir am Ende nicht die absolute Mehrheit erreicht haben.
Wie beurteilen Sie die „Stoppt Strauß-Kampagnen“, die Diffamierungen im Wahlkampf? Wie viel Anteil hatte Strauß selbst daran, dass er so sehr zu einer Reizfigur wurde?
Edmund Stoiber: Franz Josef Strauß trat für seine Überzeugungen ein, und er stand für klare Worte. Er hat sich stets selbst als „Vorsitzender des Vereins für deutliche Aussprache“ positioniert. So hat er im Deutschen Bundestag mit Willy Brandt, mit Herbert Wehner, aber auch mit Hans-Dietrich Genscher scharfe verbale Auseinandersetzungen geführt – etwa um die Westorientierung, die die SPD nicht wollte, sondern eher ein neutrales Deutschland. Zu diesen Grundfragen hat Strauß seine Positionen klar auf den Punkt gebracht, später erst recht zur RAF.
Die „Stoppt Strauß-Kampagne“ war eine Initiative der gesamten linken Szene, die weit über die SPD hinausging und zu der auch Künstler und Schriftsteller gehörten. Das war eine unglaubliche Kampagne, in deren Verlauf Strauß gänzlich verzerrt dargestellt wurde – als Anti-Demokrat, als Belastung für Deutschland. Seine klare Ansprache machte ihn natürlich leicht angreifbar – sodass er radikal verzeichnet werden konnte. Aber wir haben dem standgehalten.
Haben es Unionskandidaten aus Bayern vielleicht vergleichsweise schwerer, Bundeskanzler zu werden?
Edmund Stoiber: Das kann ich schwer beurteilen. Am Ende haben wir mit Strauß überall Mehrheiten erzielt. Als ich 22 Jahre später – 2002 – versucht habe, Kanzler der Bundesrepublik Deutschland zu werden, haben wir gegenüber der Wahl von 1998 3,5 Prozent zugelegt. Dabei war es nach der Niederlage von Helmut Kohl eine schwierige Wahl: Es gab einen neuen Kandidaten und vorher eine interne Diskussion zwischen Angela Merkel und mir – aber am Ende erzielte ein Bayer ein ansehnliches Ergebnis.
Franz Josef Strauß starb 1988, ein Jahr, bevor die Mauer fiel. Zyniker könnten behaupten, er hätte dieses Ereignis miterleben können, wenn er 1983 nicht für den Milliardenkredit an die DDR gesorgt hätte.
Edmund Stoiber: Dass Strauß den Vollzug der Wiedervereinigung nicht mehr erlebt hat, ist tragisch; aber sein Todestag, der 3. Oktober, wurde später zum nationalen Feiertag der Deutschen.
Was die Milliardenkredite betrifft, wird umgekehrt ein Schuh draus. Denn Strauß – der im Übrigen in Abstimmung mit Helmut Kohl handelte – ging berechtigterweise davon aus, dass der Milliardenkredit den Geldkreislauf der DDR stärker an den Geld- und Wirtschaftskreislauf der Bundesrepublik Deutschland anschließen würde. Wenn es den Kredit nicht gegeben hätte, hätte sich die DDR enger an die Sowjetunion angeschlossen – mit der Konsequenz, dass die kleinen Freiheiten, die für die Menschen in der DDR erkämpft worden waren, wieder dahin gewesen wären.
Die Erkenntnis, dass die DDR bankrott war, hatte sich im Westen noch nicht herumgesprochen. Stattdessen sprach man von der weltweit zehntgrößten Industrienation. Aber auch das ändert nichts daran, dass es richtig war, den Kredit zu vergeben. Nach meinem Dafürhalten war er einer der Sargnägel für die DDR.
Der Historiker Horst Möller stellt in seiner kürzlich erschienenen Strauß-Biografie die Frage: „Wäre ein Politiker wie er heute überhaupt noch möglich, ja sogar nötig?“ Was wäre Ihre Antwort?
Edmund Stoiber: Man kann Franz Josef Strauß nicht ohne Weiteres in die heutige Zeit versetzen. Er hat zu einer ganz bestimmten Zeit gelebt und gehandelt. Außerdem hält die Politik heute ganz andere Herausforderungen bereit. Und dennoch habe ich keinen Zweifel: Ein Franz Josef Strauß wäre mit seinen Begabungen – mit der enormen politischen Intelligenz und Neugierde, der erstaunlichen politischen Phantasie, Kombinationsgabe und Rhetorik – auch heute ein überragender Politiker.
Und wäre er auch heute ein Mensch klarer Positionen?
Edmund Stoiber: Ich glaube, da fehlt er uns heute am meisten. Das Problem unserer Demokratie besteht darin, dass viele Menschen den Unterschied zwischen den Parteien nicht mehr erkennen – vor allem, wenn sie Politik nicht nur mit dem Kopf, sondern auch mit dem Herzen oder dem Bauch verstehen. Viele Untersuchungen, nicht zuletzt der Konrad-Adenauer-Stiftung, belegen das. Wenn Sie fragen: Brauchen wir mehr Emotionalität in der Politik? Dann beantworte ich das eindeutig mit Ja. Allein mit rationalen Argumenten werden Sie nicht alle Menschen erreichen können, Sie brauchen neben der Ratio auch ein Stück Emotionalität in der Politik.
Edmund Stoiber, geboren 1941 in Oberaudorf, von 1993 bis 2007 Ministerpräsident des Freistaats Bayern und von 1999 bis 2007 Vorsitzender der Christlich Sozialen Union.
Das Gespräch führte Bernd Löhmann am 29. Juni 2015.