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Interview: "Diktatoren nicht vertrauen"

Die ehemalige Staatspräsidentin Dalia Grybauskaite über Litauen und den Ukraine-Krieg

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Sie sind eine der beliebtesten Politikerinnen in Ihrem Land. Was bewegt und besorgt die Litauerinnen und Litauer mehr als fünf Monate nach dem Beginn des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine? Inwiefern glauben Sie, dass sich die Sorgen und Nöte der Menschen etwa in Deutschland oder Frankreich davon unterscheiden? Und wenn ja, welche Gründe gibt es dafür?

Dalia Grybauskaitė: Es gibt keinen Unterschied zwischen der litauischen und der deutschen Einstellung zum Krieg. Er ist schrecklich und niemand will ihn.

Man könnte sagen, dass wir unterschiedliche Erfahrungen gemacht haben. Es ist von Bedeutung, dass wir in Litauen uns in unmittelbarer Nähe zu Russland befinden, in der Nähe des vollständig militarisierten Kaliningrader Gebiets und in der Nähe von Belarus – zweier diktatorischer Regime, die uns jeden Tag im Nacken sitzen. Wir müssen also ständig bereit sein, uns zu verteidigen.

 

Als damalige Staatspräsidentin sagten Sie mit Blick auf die Ukraine bereits 2014, Putin werde sich kaum zurückhalten, wenn er nicht mit einer entschiedenen Haltung politischer Führer Europas und der Welt konfrontiert werde. Warum hat es dann doch offensichtlich an einer entschiedenen Haltung gefehlt?

Dalia Grybauskaitė: Es wurde viel geredet, und die Energieversorgung in Europa gestaltete sich immer schwieriger. Putin hat die Schwäche des Westens und die Käuflichkeit einzelner westlicher Politiker erkannt. Was der Westen nicht verstand, war, dass Putin so oder so einen Krieg brauchen würde – das ist ein zivilisatorischer Unterschied.

 

„Ich vertraue der Arbeit von Angela Merkel“, beteuerten Sie 2015. Woraus erwuchs Ihr Vertrauen?

Dalia Grybauskaitė: Bundeskanzlerin Angela Merkel glaubte fest an die Macht von Verhandlungen. Allerdings wurden zum einen im Energiebereich strategische Fehler begangen. Die ehemalige Bundeskanzlerin äußerte sich im Juni 2022 zu ihrer derzeitigen Position. Zum anderen hat Russland in den letzten zwei Jahrzehnten stetig seine Kräfte ausgebaut, den Propagandadruck auf die eigene Bevölkerung und den Westen erhöht und sich auf einen Krieg vorbereitet.

 

Mit dem russischen Kaliningrad im Westen und einer langen Grenze zu Weißrussland im Osten ist Litauen besonders bedroht; manche sprechen von Frontstaat. Zahlreiche Provokationen hat es bereits über sich ergehen lassen müssen – selbst „Warnungen“ vor Atomschlägen. Müsste Ihr Land da nicht besonders an einer Deeskalation interessiert sein?

Dalia Grybauskaitė: Langfristige Deeskalation ist für Litauen wichtig. Diese ist allerdings nur möglich, wenn Russland militärisch geschwächt wird, da internationale Vereinbarungen und Verpflichtungen nicht respektiert werden. Es ist zu hoffen, dass Russland nach dem Krieg gegen die Ukraine seine militärische Stärke verloren haben wird und sich die Situation für eine Weile von selbst entschärft.

Der in den vergangenen Monaten in der Ukraine verübte Völkermord und Terror sollte nicht nur unsere Ohren geschult haben, um alle russischen Drohungen deutlich zu hören, sondern auch unseren Verstand und unseren Willen. Unsere Reaktion sollte nicht von Angst geprägt sein, sondern von der Bereitschaft, den Gegner aufzuhalten und uns zu wehren. Jeden Tag lehren die Ukrainer die ganze Welt, wie wichtig es ist, den Mut zu bewahren, zu kämpfen und nicht aufzugeben.

 

Staatspräsident Gitanas Nausėda hat sich zufrieden mit den Ergebnissen des NATO-Gipfels in Madrid gezeigt. Inwieweit stimmen Sie mit seiner Einschätzung überein?

Dalia Grybauskaitė: Die NATO ist entschlossen, jeden Zentimeter des Bündnisgebiets zu verteidigen, und demonstriert dies auch. Das zeigt sich sowohl bei der Verteidigungsbereitschaft als auch in der Absicht, den NATO-Gipfel 2023 in Litauen stattfinden zu lassen. Das Bündnis stellt sich bereits militärisch stärker auf, aber das braucht leider Zeit. Ich hoffe, all das ist ausreichend, um standzuhalten.

 

Die deutsche Bundeswehr wird sich in erheblichem Umfang an der Aufstockung der schnellen Eingreiftruppe an der NATO-Ostflanke beteiligen: mit rund 15.000 Soldatinnen und Soldaten sowie mit rund 65 Flugzeugen und zwanzig Schiffen. Wie beurteilen Sie den militärischen Beitrag Deutschlands zur Verteidigung des Bündnisgebiets?

Dalia Grybauskaitė: Die Deutschen haben bereits die äußerst schwierige Entscheidung getroffen, in Litauen präsent zu sein. Ich erinnere mich sehr gut an den Moment dieser Entscheidung. Jetzt wird die Truppe gestärkt, das braucht Zeit, aber der deutsche Beitrag wird nur zunehmen.

 

Mit Ihrer Forderung nach einer Flugverbotszone über der Ukraine sind Sie – zumindest in Deutschland – mehrheitlich auf großes Unverständnis gestoßen. Warum halten Sie es für gerechtfertigt, größte Risiken in Kauf zu nehmen, um der Ukraine beizustehen?

Dalia Grybauskaitė: Hätte Winston Churchill im Mai 1940 nicht die existenzielle Entscheidung getroffen, dass Großbritannien die von allen Seiten forcierten „Verhandlungen“ ablehnt und den Kampf gegen Hitler aufnimmt, weiß ich nicht, in was für einer Welt wir heute leben würden.

Natürlich verfügte Hitler nicht über ein Atomwaffenarsenal. Aber ich habe schon oft gesagt, dass der Kreml und sein Herr nur die Sprache der Gewalt verstehen. Hätte der Westen den Mut gehabt, eine Flugverbotszone auszurufen, wären Tausende ukrainischer Menschenleben gerettet und viele Städte, Schulen und Krankenhäuser nicht in Schutt und Asche gelegt worden.

Es ist nur der Ukraine zu verdanken, dass im restlichen Europa noch Frieden herrscht. Wir müssen alle notwendigen Waffen liefern, um den Aggressor abzuwehren und zu vertreiben.

 

Litauen setzt seit Langem darauf, sich in Energiefragen von Russland unabhängig zu machen. Wie weit ist dieser Prozess gediehen, und was kann Deutschland von Ihrem Land lernen, wenn es jetzt von heute auf morgen die selbst verursachte Abhängigkeit vor allem von russischem Gas verringern will?

Dalia Grybauskaitė: Leider kann man „über Nacht“ nicht viel tun. Zu lange hat sich der Westen entspannt und in die katastrophale Energieabhängigkeit von Russland hineinziehen lassen. Es bedurfte einer harten politischen Entscheidung, damit Litauen diese Nabelschnur kappte, obwohl es damals an Kritik daran, ein Terminal für Flüssiggas [Liquid Natural Gas, LNG] zu bauen, nicht mangelte. Aber jetzt ist Litauen nicht nur Selbstversorger, sondern kann auch anderen Ländern helfen.

Deutschland musste durch einen Schock aus seinen Fehlern lernen. Angesichts des nahenden Winters und der wirtschaftlichen Rezession stehen die Politiker unter unmenschlichem Druck. Ich habe keinen Zweifel daran, dass Deutschland es schaffen wird, aber gleichzeitig wird es eine Lehre für die Zukunft sein, Diktatoren nicht zu vertrauen und sich nicht von ihnen manipulieren zu lassen.

 

Dalia Grybauskaitė, geboren 1956 in Vilnius, bis Mai 2009 Kommissarin für Finanzplanung und Haushalt der Europäischen Union, Mai 2009 bis Juli 2019 als erste Frau Staatspräsidentin der Republik Litauen.

Die Fragen stellte Bernd Löhmann schriftlich am 1. August 2022.

Übersetzung aus dem Litauischen: Rimas Čuplinskas, umlautmedia, Heidelberg

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