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Interview: „Europa muss lernen, dass die Welt eine andere ist“

Manfred Weber über Bewährungsproben der europäisch-amerikanischen Beziehungen

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Herr Weber, welche Lehren ziehen Sie aus den vier Jahren der ersten Trump-Regierung 2017 bis 2021 für die künftigen Beziehungen zu den USA?

Manfred Weber: In der ersten Präsidentschaft von Donald Trump haben wir nicht gewusst, was auf uns zukommt. Entsprechend hat es lange gedauert, bis sich die EU-Staaten auf einen Arbeitsmodus mit der US-Administration eingestellt haben. Das ist diesmal anders. Trump geht vorbereitet in seine zweite Amtszeit, das hat nicht nur sein Wahlkampf, sondern auch die ein oder andere Personalentscheidung bei der Bildung der neuen Administration gezeigt. Er wird seine Agenda abarbeiten und uns vor gewaltige Herausforderungen stellen. Wir müssen uns ernsthaft auf Trump vorbereiten.

Foto: © IMAGO / Funke Foto Services

Welches Bild haben Sie von Europa, wie blicken Sie auf den Kontinent?

Europa ist der Hort der freiheitlichen Demokratie, der sozialen Marktwirtschaft, der Rechtsstaatlichkeit in einer herausfordernden und stürmischen Zeit. Wir sind als EU der größte Binnenmarkt der Welt, ein starker wirtschaftlicher Faktor. Wenn wir unsere wirtschaftliche Stärke gemeinsam ausspielen, kommt an uns keiner vorbei. Aber Europa muss lernen, dass die Welt eine andere ist als vor zehn oder zwanzig Jahren. Heute kommt es auf uns an. Es reicht längst nicht aus, uns an die starke US-amerikanische Schulter zu lehnen. Wir müssen politisch und auch militärisch eine Rolle als eigenständiger Faktor einnehmen. Und dafür sind wir aus vielerlei Gründen noch nicht weit genug.
 

Wie ist die Stimmungslage im Europäischen Parlament und auch aus Sicht der einzelnen Länder hinsichtlich des Selbstverständnisses Europas?

Europa ist im Umbruch. Die ganze Welt ist im Umbruch. Die Parteien links der Mitte sind vielerorts im Abstieg. Wie auch in Deutschland haben die Sozialdemokraten europaweit übersehen, wo die großen Herausforderungen sind, welche funktionierenden Lösungen es gibt und wie die Menschen dafür mitgenommen werden können. Die Linken handeln ideologisch und verhaftet in einem Denken der 1990er-Jahre. Die Menschen wenden sich deshalb von ihnen ab. In ganz Europa bekommen Christdemokraten, Konservative und die Parteien der rechten Mitte Zulauf, weil die Menschen wissen, dass es in schwierigen Zeiten Vernunft und einen klaren Kurs braucht. Das spiegelt sich in den Zusammensetzungen der nationalen Regierungen und der Institutionen in der EU wider. Und deshalb verändern wir auch die Politik hin zu einem Europa, das zuhört, analysiert und entschlossen handelt.


Welche Auswirkungen wird Trumps „America First“-Politik auf die europäisch-amerikanischen Beziehungen haben?

Trump sucht nach Deals, die er als „America First“ zuhause verkaufen kann. Diese reine Deal-Logik ist ungewohnt für uns – nicht zu sehr, dass er nationale Interessen artikuliert, das macht jede Regierung. Vielmehr ist für ihn Politik eine Art Armdrücken. Aber ich bin zuversichtlich, dass auch die Trump-Administration am Ende einsehen wird, dass „America First“ viel besser gelingt, wenn man verlässliche Partner und gute Freunde in der Welt hat. Nationale Interessen lassen sich mit guten Partnern einfach besser durchsetzen. Trumps provokante Methoden lösen aber nicht nur in Europa, sondern weltweit Verunsicherung aus. Viele Staaten werden sich in den nächsten vier Jahren von Trump vor den Kopf gestoßen fühlen. Wenn Amerika als Partner unzuverlässig wird, schauen sich viele Staaten nach neuen Partnern um. Das müssen wir Europäer als Chance begreifen, um von neuen Abkommen mit Drittstaaten zu profitieren. Wir müssen raus aus der Defensive.
 

Welche Themenschwerpunkte setzt die EVP im Hinblick auf die neue US-Administration?

Wir Europäer dürfen uns als größte Volkswirtschaft auf keinen Fall auseinandertreiben lassen. Nur ein starkes Europa wird den bestmöglichen „Deal“ mit Trump erreichen. Und natürlich hält uns Trump auch den Spiegel vor: Die EU und vor allem Deutschland haben Wettbewerbsfähigkeit eingebüßt. Wir müssen besser werden. Mehr Forschung, weniger Bürokratie, mehr EU-weite Märkte, günstigere Energie, legale Zuwanderung von Arbeitskräften und mehr Handelsabkommen. Gleichzeitig brauchen die EU und die USA eine gemeinsame Antwort, wie wir der Wirtschaftsmacht China Grenzen aufzeigen. Trumps Team weiß genau, dass eine kluge Chinapolitik im gemeinsamen Interesse liegt. Deshalb sehe ich eine echte Chance für eine enge Partnerschaft mit den USA. Der Westen müsste jetzt eine Art Wirtschafts-NATO aufbauen, ein Gegenkonzept zum erdrückenden chinesischen Machtanspruch. Diesen Plan sollten wir Trump auf den Tisch legen.
 

Was kann die EU als außen- und verteidigungspolitischer Akteur leisten?

Die EU muss in Fragen der Außen- und Sicherheitspolitik endlich erwachsen werden. Wir haben uns zu lange darauf verlassen, dass wir wirtschaftlich und gesellschaftlich immer enger zusammenwachsen, während die USA unsere Sicherheit in Europa garantieren. Aber 330 Millionen Amerikaner werden nicht dauerhaft 440 Millionen Europäer verteidigen. Wir stehen zur NATO, zum engen transatlantischen Verhältnis, aber wir müssen endlich die Verteidigung auf unserem Kontinent selbst in die Hand nehmen. Die bisher genannten zwei Prozent der Wirtschaftsleistung fürs Verteidigungsbudget sind in der heutigen Weltlage nur ein Minimum. Jetzt ist auch der Zeitpunkt, Verteidigung im engen Schulterschluss mit den Amerikanern europäisch zu organisieren.
 

Die Europäische Union sieht sich durch den Ukrainekrieg einer geopolitischen Bedrohungslage gegenüber. Ist sie darauf vorbereitet?

Der Überfall Russlands auf die Ukraine hat einige Europäer schon kalt erwischt. Seitdem findet ein Umdenken statt, leider aber zu langsam und zu wenig konsequent. Die ersten Reaktionen der EU-Staaten waren, was die Sanktionspakete betrifft, wuchtig, aber dann haben viele – wie die Ampelregierung – angefangen, zu zaudern und sich in innenpolitische Probleme zu verstricken. Damit spielen die EU-Staaten aber Putin in die Hände. Wir müssen verstehen, dass Russland uns täglich hybrid angreift, real bedroht, unsere Gesellschaft zu spalten versucht – und Putin wird nicht stoppen. Er steht für ein imperiales Denken, das andere angreift und besetzen will. Wir hatten gedacht, dass dieses Denken mit dem Zweiten Weltkrieg in Europa beendet wurde. Aber dem ist nicht so, wir stehen in Putins Fadenkreuz. Putins Krieg in der Ukraine geht nicht nur um die Ukraine. Putin möchte den Westen und die EU zerstören. Es geht also um das Überleben der Freiheit, der Demokratie und damit auch des Wohlstands in Europa. Deshalb müssen wir darauf viel mehr Kräfte lenken.


Inwieweit kann Europa in Verteidigungsfragen zusammenarbeiten?

Das Potenzial für europäische Kooperation in puncto Verteidigung ist riesig. Mit Andrius Kubilius hat die EU erstmals einen Kommissar für Verteidigung, der sich für die Schaffung einer Europäischen Verteidigungsunion einsetzen und die industriellen und technologischen Kräfte Europas in diesem Bereich bündeln und stärken wird. Vor allem brauchen wir einen europäischen Binnenmarkt für Rüstungsgüter. Gerade bei der Munition ist Europa ziemlich „nackt“ in einer Welt von Stürmen. Wir haben zurzeit siebzehn Panzerarten, die Amerikaner eine – wir haben 180 verschiedene Waffensysteme, die Amerikaner dreißig. Nur wenn wir die europäische Rüstungsindustrie harmonisieren, können wir durch gemeinsame Einheiten effektiver und mit gemeinsamen Rüstungsexportregeln militärisch-technologisch stärker werden. Wir brauchen auch einen gemeinsamen europäischen Raketenschutzschirm sowie den Aufbau von gemeinsamen Truppenteilen, etwa einer Cyber-Abwehr-Brigade.
 

Das deutsch-französische Verhältnis ist auf einem Tiefpunkt. Ist Europa ohne Frankreich und Deutschland handlungsfähig?

Es ist einfach nur frustrierend, zu sehen, wie wenig der Schulterschluss zwischen Emmanuel Macron und Olaf Scholz gesucht worden ist. Europas teilweise Schwäche resultiert genau aus der Schwäche der beiden Regierungen. Deshalb wird es eine der wichtigsten Aufgaben einer neuen unionsgeführten Bundesregierung sein, dieses Verhältnis wieder zu dem zu machen, was es sein muss, nämlich die Triebfeder europäischer Einigung. Und ich glaube, auch Paris wird sich auf einen Kanzler Friedrich Merz freuen. Wenn Frankreich und Deutschland endlich wieder an einem Strang ziehen, dann können sie für Europa viel erreichen.


Was wird Europa tun, wenn Donald Trump seine Drohungen wahr macht und Handelszölle verhängt?

Darauf muss Europa sich vorbereiten – mit Selbstbewusstsein. Wir sind wirtschaftlich ungefähr gleich groß wie die Amerikaner, vertreten beide je über zwanzig Prozent der Weltwirtschaftsleistung. Auch wir sind zu Gegenmaßnahmen fähig. Die amerikanischen Digitalkonzerne verdienen viel Geld in der EU und zahlen kaum Steuern – da könnte man sicher ansetzen. Allerdings wollen wir keinen Handelskrieg, das würde den Westen insgesamt nur schwächen, beispielsweise gegenüber China. Europa, wenn es geschlossen und entschieden auftritt, kann man nicht herumschubsen. Aber wenn wir eine transatlantische Partnerschaft wollen, sollten wir nicht nur in Konfliktszenarien denken, sondern ein attraktives Angebot auf den Tisch legen.
 

Ist das Freihandelsabkommen mit den „Mercosur“-Staaten auch eine Antwort auf einen möglichen Handelskrieg mit den USA?

Europas Wohlstand ruht stark auf unserem Export und fairen Handelsbedingungen weltweit. Angesichts der globalen Machtverschiebungen müssen wir auf stabile Handelsbeziehungen mit den demokratischen Staaten auf der Welt setzen und Partnerschaften vertiefen. Dabei haben die Staaten Südamerikas eine wichtige Rolle, Stichwort Mercosur. Das Freihandelsabkommen zwischen der Europäischen Union und Südamerika stellt mit 720 Millionen Verbrauchern das größte in der Geschichte dar – und das ohne die USA. Das hat auch in Washington Eindruck gemacht. Gleichzeitig wollen wir auch und gerade mit den USA unsere engen transatlantischen Beziehungen im wirtschaftlichen Bereich nochmal ausbauen.
 

Der EU-Sonderbeauftragte Mario Draghi schätzt in einem Bericht zur Wettbewerbsfähigkeit der Europäischen Union den zusätzlichen Finanzbedarf auf 800 Milliarden Euro pro Jahr. Sind neue Gemeinschaftsschulden unumgänglich?

Mario Draghi zeigt zu Recht auf, dass die Europäer mehr für die Wettbewerbsfähigkeit ihrer Industrie tun müssen. Die linken Parteien haben aus ideologischen Gründen diese zentrale politische Frage völlig aus den Augen verloren und damit Millionen von Arbeitern und Arbeitnehmern im Stich gelassen. Jetzt sind alle gefordert. Es braucht mehr Investitionen in die Wirtschaft und in die Sicherheit. Bevor immer nach neuen Schulden gerufen wird, müssen alle ihre Hausaufgaben machen. Wenn es Jahre braucht, bis die Mitgliedstaaten den EU-Corona-Fonds ausschöpfen, dann scheint es mir schon noch möglich zu sein, in den einzelnen Haushalten umzuschichten.
 

Laut Draghis Bericht hat die EU in den vergangenen fünf Jahren 13.000 neue Gesetze erlassen. In den USA waren es 3.000. Wie kann die Bürokratielast verringert werden?

Das ist und bleibt eine Daueraufgabe für uns in der EU, aber genauso für die EU-Staaten. Leider gibt es noch zu viele, die eine ausgeprägte Lust an immer neuen Regelungen haben. Die sind manchmal notwendig, aber eben auch nicht immer. Es muss konsequent aussortiert werden. Kleinteilige Regelungen und Doppelungen im Gesetzgebungsbestand der EU müssen identifiziert und behoben werden. Wir sind dafür, dass das „One-in-two-out-Prinzip“ Standard wird. Und wir werden im Rahmen eines Omnibusverfahrens alles daransetzen, die bürokratische Last von Unternehmen stark zu reduzieren. Es gibt viele Themen, die wir einfacher gestalten können. Das ist ganz wesentlich Aufgabe der neuen Kommission.


Wird sich Europa in Syrien engagieren?

Der Nahe Osten ist unsere Nachbarschaft. Wir haben in den vergangenen zehn Jahren gespürt, was es bedeutet, wenn dort Bürgerkrieg, Chaos und humanitär schwierige Situationen herrschen. Die Migrationskrise steckt uns allen noch in den Knochen. Deshalb ist es im ureigensten europäischen Interesse, Stabilität in Syrien zu unterstützen, auch deshalb, damit bei uns Schutzsuchende wieder heimkehren können. Inwieweit das mit den neuen islamistischen Machthabern möglich ist, wird sich zeigen. Wir sollten den Kontakt suchen, aber auch nicht naiv sein.


Manfred Weber, geboren 1972 in Niederhatzkofen, Vorsitzender der Europäischen Volkspartei, Vorsitzender der EVP-Fraktion im Europäischen Parlament.
 

Die Fragen stellte Ralf Thomas Baus schriftlich am 17. Januar 2025.