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Interview: "Für mich ist Leiden immer sinnlos"

Der Bundestagsvizepräsident Peter Hintze über Suizidbeihilfe, „Sterbetourismus“ und Selbstbestimmung

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Im Deutschen Bundestag wird über die Frage diskutiert, ob die organisierte Suizidbeihilfe verboten werden soll. Auch die ärztliche Suizidbeihilfe wird kontrovers diskutiert. Welche Positionen vertreten Sie?

Peter Hintze: Ich trete für einen Ausbau der palliativmedizinischen Versorgung und für ein Verbot der organisierten Suizidbeihilfe ein. Darüber hinaus befürworte ich eine Neuregelung der ärztlichen Suizidbeihilfe. Verschiedene Christdemokraten haben mit Kollegen der SPD über mögliche neue Regelungen gesprochen. Von der Union dabei sind Dagmar Wöhrl, Katharina Reiche, Kristina Schröder und ich selbst, von der SPD Karl Lauterbach, Carola Reimann und Burkhard Lischka, der innenpolitische Sprecher, und auch noch andere Kollegen natürlich, die dazustoßen. Wir wollen eine Regelung im Bürgerlichen Gesetzbuch haben, die sicherstellt, dass ein Arzt, der die Gewissensentscheidung nach Absprache mit einem anderen ärztlichen Kollegen trifft, bei einem voll einwilligungsfähigen im Sterben liegenden Patienten Suizidassistenz zu gewähren, wenn dieser seine Situation als unerträglich empfindet und das auch aus der Sicht von außen so nachvollzogen werden kann, durch eine Regelung geschützt wird und nicht mit seinem eigenen Berufsrecht kollidiert. Selbstverständlich muss dabei sichergestellt sein, dass alle Möglichkeiten der Palliativmedizin ausgeschöpft sind und der Patient über Möglichkeiten, die ihm noch zur Verfügung stehen, unterrichtet wird – das ist ganz wichtig. Die ärztliche Suizidassistenz sollte sich praktisch als ein Teil des Begleitprozesses innerhalb des Sterbeprozesses vollziehen – und zwar so, dass der Arzt, der dies auf sich nimmt, rechtlich auf der sicheren Seite steht. Das liegt auf der Linie des Strafrechts, das die Suizidassistenz ja allen erlaubt. Ich will diese unbefriedigende Situation beenden, dass eine solche Hilfe jedem Lehrer und jedem Verwaltungsangestellten erlaubt ist, der Arzt sich aber in einer rechtlichen Unsicherheit befindet. Ich will ihm die Sicherheit für seine Gewissensentscheidung geben.

 

Sterbehilfe wird seit langer Zeit immer wieder zu einem öffentlichen Thema, das in Politik und Gesellschaft kontrovers diskutiert wird. Warum muss sich Politik überhaupt mit diesem Thema befassen? Was soll geregelt werden und was darf auf keinen Fall geregelt werden?

Peter Hintze: Für mich ist das Allerwichtigste, dass die Politik erkennt, dass die letzte Lebensphase des Menschen eine sehr, sehr wichtige ist. Eine gute palliative Begleitung eines Menschen auf seinem letzten Weg ist deshalb wirklich für eine menschenwürdige Gesellschaft eine ganz große Herausforderung. In den vergangenen Jahrzehnten haben wir erlebt, dass Sterbende oft abgeschoben wurden, sich im Badezimmer einer Pflegeeinrichtung wiederfanden, damit sie keinen anderen mit ihrem Tod belästigten. Wir sollten aber den Tod als einen Teil des Lebens verstehen. Das Sterben ist zwar etwas, das jeder Mensch für sich allein durchleben muss, bei dem er aber Begleitung und Hilfe braucht. Deswegen ist es sinnvoll, wie es der Deutsche Bundestag jetzt auch fordert, zunächst einmal zu klären, was wir im Bereich der Palliativmedizin verbessern können, die sich um Menschen kümmert, die unheilbar krank sind und deren Erkrankung so weit fortgeschritten ist, dass sie nur noch eine sehr begrenzte Lebenserwartung haben und nicht mehr auf eine kurative Behandlung ansprechen. Diesen Menschen kann man ihre Schmerzen und ihre Angst weitgehend nehmen und dafür Sorge tragen, dass sie friedlich einschlafen können. Das ist, glaube ich, der Wunsch eines jeden Menschen, am Ende seines Lebens friedlich einzuschlafen oder zu „entschlafen“. Das ist lange unterschätzt worden. Die palliativmedizinische Ausbildung ist generell mit in die Medizinerausbildung aufgenommen worden – ein ganz wichtiger Schritt! Die palliativmedizinische Versorgung ist aber in Deutschland sehr unterschiedlich ausgeprägt. Alle im Bundestag – das ist parteiübergreifender Konsens – wollen einen guten palliativmedizinischen Versorgungsstandard in ganz Deutschland sichern. Das ist die eine Sache. Die zweite ist die organisierte Suizidbeihilfe, wie sie von Sterbehilfeorganisationen und einigen Einzelpersonen angeboten wird. Es stellen sich die Fragen: Ist wirklich sichergestellt, dass die Menschen, die sich einer Sterbehilfeorganisation anschließen, aus freiem Willen handeln? Und wird diesen Menschen tatsächlich die Hilfe angeboten, die sie brauchen? Deswegen ist in den Koalitionsvertrag der Großen Koalition aufgenommen worden, ein Verbot von Sterbehilfeorganisationen zu erwägen. Dabei wurde festgelegt, dass dies nicht als Koalitionsprojekt ausgelegt werden soll, sondern als ein Projekt, bei dem jeder Abgeordnete nach seinem Gewissen handeln kann. Nun stellt sich dann wieder die Frage: Wie ist eigentlich die Situation unserer Ärzte in Deutschland? Da bin ich auf eine Besonderheit gestoßen: In Deutschland ist die Suizidbeihilfe straffrei; das heißt, jeder Laie, etwa jeder Lehrer, jeder Verwaltungsangestellte, darf Suizidassistenz leisten. Allein beim Arzt ist die Rechtslage unklar. Das eine ist, dass es im Berufsrecht unterschiedliche Regelungen – sogar innerhalb eines Bundeslandes wie Nordrhein-Westfalen – gibt, was absurderweise dazu führt, dass es etwa im Rheinland ein berufsrechtliches Verbot für die Ärzteschaft gibt, in Westfalen aber eine Erlaubnis in besonderen Ausnahmefällen, dass in Bayern den Ärzten die Erlaubnis, Suizidbeihilfe zu leisten, zugesprochen wird, in Berlin aber zum Beispiel wiederum nicht. Auch die üblichen parteipolitischen Muster scheinen hier nicht zu passen. Deswegen möchte ich gerne sicherstellen, dass jeder Arzt bundesweit einheitlich in freier Gewissensentscheidung einem einwilligungsfähigen Menschen beim Suizid helfen darf, sofern der in der kritischen Grenzsituation seines Lebens darum bittet. Es geht darum, dass auch der Arzt hier helfen darf, und nicht nur Menschen, die dazu weder eine Ausbildung noch eine Befähigung haben.

 

Aber auch für Ärzte gilt jetzt schon, dass die Suizidbeihilfe im Strafrecht nicht verboten ist.

Peter Hintze: Vollkommen korrekt. In Deutschland ist es verboten, natürlich auch Ärzten verboten, auf Verlangen zu töten. Also kann ein Mensch, der in einer schrecklichen Situation ist, von einem Arzt nicht fordern, dass er ihn aktiv mit einem Präparat oder mit einer Spritze tötet. Das ist eine unzulässige Tötung auf Verlangen. Das Verbot der Tötung auf Verlangen soll bleiben. Ansonsten kennt das Strafrecht keine Vorschriften, die Ärzten Hilfe zum Sterben, wie etwa die Suizidbeihilfe, verbieten. Die Rechtsprechung hat eine Zeit lang eine Unsicherheit im Raum stehen lassen, ob der Arzt nicht eine Garantenpflicht für das Leben hat. Deswegen kommt es zu der Situation, dass Ärzte solchen Patienten, die leiden und einen eindeutigen Sterbewunsch äußern, in der terminalen Phase Präparate gegen ihre Schmerzen gegeben haben, die sich in hoher Dosierung auch zur Lebensbeendigung eignen und mit deren Hilfe der Patient sich selber töten konnte. Der Arzt stellte das Mittel zur Verfügung, zum Zeitpunkt der Einnahme musste er aber den Raum verlassen, damit er nicht in Konflikt mit der Garantenpflicht geriet, was bedeutet, er hätte lebenserhaltende Maßnahmen einzuleiten, sobald der Patient bewusstlos wird. Das ist natürlich verrückt. Die Rechtsprechung hat diese Garantenpflicht in den Fällen, die von öffentlichem Interesse begleitet vor Gericht kamen, verneint. Aber für Ärzte ergibt sich daraus trotzdem eine Unsicherheit, sogar in doppelter Weise: Die eine ist die Frage der Garantenpflicht und die andere ist die Frage ihres eigenen Berufsrechts.

Zwar ist es nie dazu gekommen, dass in einem solchen Fall ein gerichtliches Verfahren gegen einen Arzt angestrengt wurde, aber allein die Drohung, die wie ein Damoklesschwert über den Ärzten hängt, war für die Mehrheit der Ärzteschaft inakzeptabel. Deswegen ist die Ärzteschaft in ihrer Mehrheit für unseren Vorschlag, mit einem neuen Gesetz mehr Rechtssicherheit zu schaffen. Allerdings ist die Spitze der Ärzteschaft klar dagegen. Auch das ist ein interessanter Widerspruch. Dazu gibt es zwei Untersuchungen: Die Ruhr-Universität Bochum hat eine bundesweite repräsentative Untersuchung unter Ärzten durchgeführt. Da war nur noch eine Minderheit für das berufsrechtliche Verbot. Bei Palliativmedizinern in NRW ist eine Umfrage erhoben worden mit einer beträchtlichen Beteiligung, bei der sich die Mehrheit klar für unsere Regelung ausgesprochen hat. Interessant ist, dass die Ärztespitze anders als die Mehrheit der Ärzteschaft und auch anders als die Bevölkerung denkt. Die Mehrheit der Bevölkerung sagt auch: Wir wollen dieses Recht auf Selbstbestimmung in einer kritischen Lebenssituation!

 

Es stellt sich die Frage, ob über ein solches Thema überhaupt per Mehrheit entschieden werden darf oder ob nicht an moralischen Prinzipien festzuhalten ist, wie zum Beispiel dem Lebensschutz, die sich Mehrheitsentscheidungen entziehen.

Peter Hintze: Ja! Also erst einmal finde ich es in einer repräsentativen Demokratie schon wichtig, zu wissen, was die Bevölkerung denkt und fühlt. Daran ist nach unserer Verfassungsordnung der Gesetzgeber zwar nicht gebunden. Der Gesetzgeber ist frei. Aber trotzdem muss man es sich jedenfalls sehr gut überlegen, wenn eine gesetzliche Regelung gegen den ausdrücklichen Willen der Bevölkerung durchgesetzt wird. Im Übrigen gibt es genug rechtsphilosophische Texte, die nachweisen, dass das auf Dauer immer zum Scheitern verurteilt ist. Eine Regelung, die gegen die Mehrheitsgrundhaltung, das Normverständnis der Bevölkerung steht, wird es schwer haben. Aber ich glaube, auch wenn wir uns ausschließlich auf die rechtlichen und moralischen Fragen zurückziehen: Die Kernfrage, von der aus das beurteilt werden muss, ist ja die Menschenwürde. Und der Kern der Menschenwürde ist die Selbstbestimmung. Wenn der Staat nun so tut, als wisse er es besser als die Menschen, so bedeutet das ein Außerkraftsetzen der Menschenwürde, und wir begeben uns dann auch in Wertungswidersprüche. Wenn sie krank sind und ins Krankenhaus kommen, können Menschen zu Recht jede Behandlung verweigern. Das ist ihr gutes Recht. Es wird vollkommen akzeptiert und nirgendwo kritisiert, dass ein Arzt, der nach seinem ärztlichen Gewissen, seiner Überzeugung der Meinung ist, er muss jetzt diese Hilfe geben, ausschließlich aus Gründen der Selbstbestimmung des Patienten davon abgehalten werden kann. Umso seltsamer ist, dass er bei einem Suizidwunsch nicht helfen darf, obwohl auch hier der Patient ähnlich wie beim Therapieverzicht selbstbestimmt entscheidet. Deswegen, finde ich, muss sich der Gesetzgeber jedenfalls hier ganz vorsichtig und behutsam bewegen.

 

Sie vertreten die Position, die Selbstbestimmung sei der Kern der Menschenwürde. Stimmt das wirklich, auch aus christlicher Sicht?

Peter Hintze: Aus christlicher Sicht ist für mich die Nächstenliebe die entscheidende Kategorie und die Frage, welche Hilfe ein Mensch von mir braucht. Wenn eine Gottesvorstellung besagt, dass es Gottes Wille sei, dass ein Mensch einen Qualtod erleidet, dann kann ich das nicht glauben. Ich teile auch nicht die Vorstellung, die viele Christen haben, Gott bestimme die Stunde der Geburt und die Stunde des Todes. In dieser Denkweise wären ja dann auch Gewalttaten und Massenmorde Gottes Wille. Aus meiner Sicht kann dies nicht wahr sein. Denn dieser Logik folgend müsste man auch annehmen, dass Gott die Stunde der fünf Millionen Menschen, die die Nazis vergast haben, bestimmt hat, das aber waren brutale Taten von Menschen und sicherlich keine Gottesentscheidung. Das Leben ist für mich ein Geschenk Gottes. Man darf daraus jedoch nicht den Fehlschluss ziehen, dass ich gar nichts tun, nichts beeinflussen darf. Man dürfte dann übrigens auch gar keine Heilbehandlung vornehmen. In mein Gottesbild passt weder der Gedanke der Bestrafung mit Krankheit für menschliche Schuld noch der der Vorherbestimmung des Todes – denn dann müsste gelten: In Biafra ist man Gott ferner, weil man da schneller und ärmer stirbt! Christlich ist die Kategorie Nächstenliebe, Hilfe für den Menschen, und dann muss man fragen: Ist eine Hilfe zum Sterben auch eine Hilfe, die mit dem Christsein übereinstimmt? Da will ich den Blick etwas schärfen. In der Sterbehilfe, für die ich mich einsetze, geht es nie um das Ob des Sterbens, sondern immer um das Wie. Ich gehe davon aus, dass Ärzte durch eine Vorschrift im Bürgerlichen Gesetzbuch geschützt werden sollten, die ähnlich der Patientenverfügung rechtlich verankert werden müsste, damit die Mediziner einem Menschen mit einer zum Tode führenden Krankheit in einer ausweglosen Situation helfen dürfen. Ich gehe dabei davon aus, dass die Tatsache, dass er sterben wird, feststeht – jetzt wird immer gekalauert, das steht bei jedem fest, aber das ist natürlich Unsinn! Ich meine natürlich eine Situation des Patienten, die von allen als eine qualvolle angesehen wird. In einer solchen Situation sollte es für einen Arzt das Recht geben, helfen zu dürfen. Es geht nicht um das Ob, bei dem sich der Mensch zum Herrn über Leben oder Tod machen würde, sondern um das Wie. Und darum, dass jeder Mensch nach meiner Überzeugung das Recht auf ein friedliches und würdiges Sterben hat.

Dazu gibt es noch einen fachlichen Streit. Es gibt Palliativmediziner, die sagen, das können wir durch palliative Mittel in jedem Fall sicherstellen. Wenn es so wäre, wäre ich beruhigt. Aber sehr viele Palliativmediziner sagen, das stimme zwar in den meisten Fällen, aber nicht in allen Grenzsituationen bei bestimmten Krankheitsbildern, die leider im Extremfall nicht beherrscht werden können, sodass dort ein Wunsch nach Sterbehilfe entstehen kann. Es stellt sich also die Frage, ob man nicht in diesem Falle den Arzt rechtlich in Schutz nehmen und sagen sollte: Wenn du diese Gewissensentscheidung triffst, sofern der Patient volljährig ist und einwilligungsfähig, bist Du rechtlich geschützt. Die Tatherrschaft muss immer bei dem Betroffenen selbst bleiben. Wir wissen aus der Praxis in den Ländern, in denen ärztliche Suizidbeihilfe erlaubt ist, dass das sehr oft dazu führt, dass der Patient dann die Möglichkeit gar nicht in Anspruch nimmt. Es hilft schon, dass er weiß, wenn es gar nicht mehr geht, kann ich auf die Möglichkeit der ärztlichen Unterstützung zurückgreifen. Das heißt, diese Lösung ist sogar suizidpräventiv. Also ich glaube, das ist schon moralisch geboten. Die Bevölkerung hat dafür auch ein gutes Gefühl.

 

In Wirklichkeit gibt es in der Bevölkerung eine Mehrheit nicht nur für die ärztliche Beihilfe zum Suizid, sondern auch für die aktive Sterbehilfe? Würden Sie auch diesen Schritt mitgehen? Besteht nicht die Gefahr, auf eine schiefe Ebene zu geraten, wie es zum Beispiel in den Niederlanden und in Belgien der Fall ist?

Peter Hintze: Hier treffe ich eine klare und absolute Unterscheidung. Für mich kommt nur die Suizidassistenz in Frage. Warum? Es ist noch mal eine andere Entscheidungstiefe, ob ich sage: „Herr Doktor, ich kann nicht mehr, machen Sie mal!“ Oder ob ich im klaren Wissen, dass ich damit mein eigenes Sterben einleite, selbst handele. Diese letzte Probe auf den Sterbewunsch muss es meines Erachtens geben. Die Menschen, denen tödliche Präparate zur Verfügung gestellt werden, um Suizid zu begehen, greifen nämlich dann doch in einer beachtlichen Zahl nicht darauf zurück; das heißt so viel wie: „Allein die Sicherheit, dass ich es könnte, beruhigt mich schon.“ Die Zahlen sind in den Niederlanden und in der Schweiz dauerhaft niedrig. In der Schweizer Statistik darf man nur die Schweizer Bürger zählen – und nicht die Reisenden –, und da bewegt sich die Zahl im absoluten Null-Komma-Bereich.

 

Allerdings nimmt der „Sterbehilfetourismus“ in die Schweiz zu, besonders auch aus Deutschland. Ist dies nicht auch schon ein Dammbruch?

Peter Hintze: Mit dem Wort „Sterbetourismus“ sollte man vorsichtig sein, weil es schon um eine sehr ernste Entscheidung geht. Man muss sich das klarmachen: Auch in die Schweiz zu fahren, ist schon ein Riesenschritt. Es gibt bestimmte Erkrankungen, bei denen Menschen einen unglaublichen Abgrund vor sich sehen, sodass sie sagen: Bevor ich in den reinstürze, werde ich jetzt, da ich noch ein wenig handlungsfähig bin, den Weg über die Schweiz machen. Auch die Schweizer Standards sind sehr hoch. Es ist zudem sehr teuer, in die Schweiz zu gehen. Und da taucht für mich eine alte moralische Frage auf, die mich immer schon beschäftigt hat: Ist eine Moral vertretbar, die in Kauf nimmt, dass der, der genug Geld hat, die Möglichkeit hat, dort hinzufahren? Und die anderen haben halt Pech gehabt! Es wäre sinnvoll, eine rechtliche Grundlage zu schaffen, die auch Transparenz und Sicherheit mit sich bringt. Ich glaube, es würde zu einer gesellschaftlichen Beruhigung führen, wenn man das offiziell machte. Es ist so, dass es doch eine ganze Reihe Menschen gibt, die in ganz kritische Grenzsituationen geraten. Nach christdemokratischer Grundüberzeugung muss der erste Schritt sein, die Palliativversorgung zu verbessern. Der zweite Schritt muss die Unterstützung der Sterbebegleitung sein: Die ärztliche Gebührenordnung trifft im Grunde nur unzureichende Vorkehrungen für den Fall, dass ein Hausarzt einen Sterbenden wirklich begleiten will und ihn am Wochenende mehrfach besucht oder viele Stunden an seiner Seite ist. Das kann im Einzelfall geschehen, aber die Praxis bricht zusammen, wenn das zur Regel wird, weil das die Vergütung gar nicht vorsieht. Also, die Begleitung eines Sterbenden ist uns heute im normalen Abrechnungssystem zu wenig wert.

Wenn alle Möglichkeiten ausgeschöpft sind, dann gibt es nur noch wenige Grenzsituationen, wie etwa bei Hirntumoren, bei ALS oder bei bestimmten Erstickungssituationen, bei denen man nach heutigem Stand letztlich hilflos ist. Jedenfalls ist auch mein moralisches Kriterium: Da, wo die Palliativmedizin am Ende ist, da muss es das Recht auf Beihilfe auch für die Ärzte geben. Und das muss dann fachlich beurteilt werden, ob sich am Ende sogar noch andere Möglichkeiten eröffnen.

 

Sollte der ärztlich assistierte Suizid, wie von Ihnen vorgeschlagen, im Bürgerlichen Gesetzbuch explizit legalisiert werden, führte das zu einer Senkung der Hemmschwelle. Suizidbeihilfe würde zu einer normalen ärztlichen Leistung werden. Ist es nicht sinnvoll, diese Hemmschwelle hochzuhalten, um dadurch den Patienten, die nach Hilfe suchen, die anderen Optionen, wie etwa Palliativmedizin, näherzubringen? Besteht nicht die Gefahr, dass Patienten vorschnell den vermeintlich einfachen Weg des Suizids gehen, ohne die besseren Alternativen berücksichtigt zu haben?

Peter Hintze: Die gesamte Empirie spricht dagegen, und ich muss auch sagen, mein Menschen- und mein Arztbild ebenfalls. In Ländern, in denen die ärztliche Suizidassistenz zulässig ist, etwa in der Schweiz oder in Oregon, sind die Zahlen über Jahre kontinuierlich im Null-Komma-Bereich. Das ist schon interessant. Das ärztliche Ethos, das besagt, immer zum Leben zu beraten, bleibt der oberste Grundsatz, und so erlebe ich auch die Ärzteschaft. Ein Teil der Ärzteschaft hat ja Sorge und Angst vor dem Thema. Ich bin auf keinen einzigen Arzt getroffen, der leichtfertig mit dem Thema umgeht. Alle sagen, dass man im Grunde bei 99,5 Prozent der Fälle mit Schmerzlinderung helfen kann. Das heißt ja, nur einem halben Prozent kann nicht richtig geholfen werden, und selbst in diesem Bereich gibt es Fortschritte. Insofern glaube ich, dass diese Befürchtung einer Senkung der Hemmschwelle in unserem aufgeklärten und transparenten Zeitalter widerlegt ist. Welche Konsequenzen dieser ganze ungeregelte Zustand hat, der im Moment herrscht, danach fragt keiner. Das ist eigentlich verblüffend. Man geht davon aus, dass das Unerlaubte nicht geschieht. Das ist ein Irrtum.

 

Warum sollte Ihrer Meinung nach eine ärztliche Suizidbeihilfe nur in der Sterbephase und nicht auch in anderen als „unerträglich“ empfundenen Lebensphasen möglich sein? Wird dadurch die letzte Lebensphase eines Menschen nicht als „lebensunwert“ diskriminiert?

Peter Hintze: Jede Lebensphase ist würde- und wertvoll, auch die letzte Sterbephase, das ist ganz klar. Die Idee des Gesetzentwurfes, den ich vertrete, ist, dass wir eine einzige Situation besonders betrachten, dass wir aber die anderen Situationen damit weder positiv noch negativ regeln. Wir regeln eine bestimmte Situation, die, glaube ich, intersubjektiv von Medizinern und Nichtmedizinern nachvollziehbar ist, und zwar die eine Situation am Lebensende und nur diese. Diese Situation stellen wir heraus. Es mag andere Situationen geben, die nicht erfasst sind. Wir glauben, wenn der Tod als solcher feststeht, sodass es gar nicht um die Frage geht, stirbt der Mensch, sondern nur um die Frage, wie stirbt der Mensch, dass sich dann das moralische Dilemma anders darstellt. Alle anderen Situationen, in denen sich eine Suizidfrage an den Arzt richten könnte, lassen wir in unserer Regelung außen vor. Nur in den Fällen einer tödlich verlaufenden Erkrankung wollen wir den Arzt vor berufsrechtlichen Sanktionen schützen, wenn man so will: Solche Situationen, wie wir sie beschreiben, sind Gewissensentscheidungen, das Berufsrecht kann dieses Verbot gar nicht durchsetzen. Wir wollen den Arzt vor dem Kadi schützen.

 

Leidminderung ist ein wichtiges Ziel in der Medizin. Allerdings wird durch den assistierten Suizid Leiden vermindert, indem der Leidende eliminiert wird. Besteht nicht die Gefahr, dass diese Strategie der Leidvermeidung auf andere Lebenssituationen ausgedehnt wird, etwa auf das vorgeburtliche Leben? Gerät der Lebensschutzgedanke dadurch nicht unter enormen Druck?

Peter Hintze: Ich möchte erst einmal klarstellen, dass ich Leiden immer für sinnlos halte. Ich kann dem Leiden keinen Sinn zusprechen. Das sehen manche Theologen anders, aber für mich ist Leiden sinnlos. Ich habe das auch in der Bundestagsdebatte gesagt und habe dazu die Heilige Schrift zitiert, in der die große Endvision dargestellt wird, dass es ein Leben ohne Leid gibt. Wenn wir bei Gott sind, dann gibt es laut der Offenbarung des Johannes, Kapitel 21, kein Leid, kein Geschrei, keinen Schmerz mehr. Man hat über viele Jahrhunderte hinweg, weil man dem schlimmen Leiden nichts entgegensetzen konnte, es theologisch zu überhöhen versucht und gesagt: In dir ist auch der sterbende Christus oder der sterbende Herr präsent und deswegen ist auch dein Leiden wertvoll. Wenn dieser Gedanke einem einzelnen Menschen geholfen hat, dann halte ich es für akzeptabel. Insgesamt finde ich es aber inakzeptabel. Einige Theologen meinen, wenn irgendeine Leidsituation entsteht, könne man diese sofort mit Christus am Kreuz identifizieren. Das ist aber nicht die Aussage der Heiligen Schrift, und ich finde, wenn man die Bibel genau liest, dann ist die Leidvermeidung und Leidüberwindung das oberste Gebot. Es stellt sich also die Frage: Darf ich gegen ein religiöses Verbot, das im Altertum eine ganz andere Bedeutung hatte als heute, verstoßen, um einen Menschen zu heilen? Denken Sie an das, was Jesus zum Sabbatgebot gesagt hat: Der Sabbat ist für den Menschen da und nicht der Mensch für den Sabbat. Also: Leiden als solches empfinde ich als sinnlos. Die Frage ist, ob der Wert des Lebens dadurch gemindert wird. Da sage ich klar Nein. Natürlich ist auch ein Mensch im äußersten Leid ein Mensch mit absoluter Würde und absoluter Lebenswertigkeit. Wenn ich mich selber frage, ob ich einer Leidsituation ausweichen würde, indem ich um einen assistierten Suizid bitte, würde ich es für mich nach meinem heutigen Empfindungsstand verneinen. Trotzdem möchte ich anderen das Recht nicht absprechen. Das ist ein gewaltiger Unterschied.

Ich glaube, dass dem Gesetzgeber der Schutz des Lebens und auch die Ermunterung zum Leben am besten gelingt, wenn wir deutlich machen, dass es uns darum geht, dass ein Mensch möglichst wenig leiden soll. Die ganze Palliativmedizin ist ja ausschließlich Leidminderung oder Leidvermeidung. Man soll geschützt werden auch in einer Phase, in der die kurative Medizin, die heilende Medizin nichts mehr machen kann. Also meine These ist, dass im Hinblick auf die Sinnlosigkeit des Leidens die Medizin und die Politik darauf zielen sollen, Leid möglichst zu lindern oder zu vermeiden. Dass der Wert jedes Menschen, unabhängig von seinem gesundheitlichen Zustand absolut identisch ist, das ist für mich klar, das gilt vor der Geburt, das gilt im Lebensverlauf, das gilt in der Sterbephase. Bei der künstlichen Befruchtung und der Präimplantationsdiagnostik haben wir ja ähnlich diskutiert. Ich finde es ganz wichtig, dass die Würde des Menschen vorgeburtlich, im Leben und im Sterben geschützt wird, und das auf höchstem Niveau. Aber dieser Schutz muss von dem Ansatz der Nächstenliebe, der Hilfe ausgehen. Mit diesem Motiv sollte auch alles getan werden, um gerade in der letzten Lebensphase des Menschen das Leid soweit zu lindern, dass er friedlich entschlafen kann, denn das ist der Wunsch eines jeden Menschen. Und der Wunsch, friedlich zu entschlafen, realisiert sich nur bei einem kleinen Teil auf natürliche Weise, bei einem großen Teil der Sterbenden ist mit relativ leichten Mitteln zu helfen, bei einem kleineren Teil dann mit stärkeren und bei einem ganz, ganz winzigen Teil ist es heute eben noch ganz schwierig.


Peter Hintze, geboren 1950 in Bad Honnef, evangelischer Theologe, Parlamentarischer Staatssekretär a. D., seit Oktober 2013 Vizepräsident des Deutschen Bundestages.

Das Gespräch führten Bernd Löhmann und Norbert Arnold am 4. März 2015.

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