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Interview: "Gott ist mit denen, die unterwegs sind"

Die Berliner Generalsuperintendentin über theologische Grundsätze in Theorie und Praxis

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Wie beurteilen Sie als Theologin die Flüchtlingsproblematik?

Ulrike Trautwein: Je mehr ich darüber nachdenke, desto deutlicher wird mir, wie tief das Thema Flucht in die Menschheitsgeschichte eingeschrieben ist. Seit jeher fliehen Menschen – vor Hunger, klimatischen Veränderungen, Unterdrückung. Dieses Unterwegssein spiegelt sich auch in der Bibel wider: In der Geschichte von Josef und seinen Brüdern geht es auch um eine Dürre in Israel, die sie nach Ägypten treibt, und um Familienzusammenführung – ein Thema, das uns heute ebenfalls umtreibt. Das Buch Rut erzählt von einer israelitischen Familie, die vor einer Hungersnot nach Moab flieht. Moses führt das Volk Israel fort aus Ägypten, weil es dort unterdrückt wird.

Das Thema Flucht ist in der Bibel fast allgegenwärtig. Und das Entscheidende dabei ist, dass Gott stets aufseiten derer steht, die unterwegs sind, die fliehen müssen. Mehr noch – im Exodus begleitet er die Verfolgten auf ihrer Flucht. „Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln, und ob ich schon wanderte im finsteren Tal.“ Nicht umsonst wird dieser Psalm so geliebt. Die Flucht mit ihren Nöten und Schrecken, aber auch mit ihren Hoffnungen ist eine Grunderfahrung, die die Menschheit verbindet und sie einen sollte. Gerade an diesem Thema erweist sich, was Humanität bedeutet.

 

Wenig sagt die Bibel über die Wahrnehmung der Urbevölkerung in Kanaan. Durfte sie Befürchtungen haben, als die Israeliten zum gelobten Land loszogen?

Ulrike Trautwein: Nachdem Gott Abraham aufgefordert hat, aufzubrechen und in ein neues Land zu ziehen, ist dieser auf seinem Weg nicht nur der Gute. Er belügt den Pharao, gibt seine schöne Frau, die das Interesse des Herrschers erregt, als seine Schwester aus. Sie wird dann zeitweilig sogar in den Harem gebracht. Der Gute in dieser Geschichte ist der Pharao, der Abraham und die Seinen ungehindert ziehen lässt, obwohl er Abraham durch schaut hat. Das heißt, es werden auch Konflikte beschrieben. Aber die Essenz bleibt immer, dass Flüchtlinge und Fremde gut behandelt werden müssen. Da ist die Bibel ganz eindeutig.

 

Wie ist die Haltung der Kirche gegen über denjenigen Menschen in Deutschland, die angesichts der offenbar eskalierenden Flüchtlingsproblematik Angst und sogar Abwehrgefühle entwickeln? Die oft chaotischen Bilder aus den Medien beunruhigen doch viele.

Ulrike Trautwein: Das erste, was ich nach meiner Rückkehr aus dem Urlaub wahrgenommen habe, war die Titelseite eines Magazins mit der Aufschrift „Der Ansturm“. Da kann der Eindruck entstehen, übermorgen würden wir überrannt. Aber so ist es trotz der drastisch gestiegenen Zahlen nicht. Jedenfalls steht diese mediale Darstellung in keiner Relation zur tatsächlichen Situation. Wenn ich auf die Straße gehe, sind Flüchtlinge nicht bestimmend für unsere alltägliche Realität.

Nicht zuletzt, weil die mediale Darstellung teilweise problematisch ist, wird es umso schwieriger, zu unterscheiden: Wer ist unsicher und ängstlich, weil er die wirkliche Situation nicht wahrnimmt und versteht? Und wer will sie nicht verstehen? Die Menschen in Deutschland, die sich Sorgen machen, brauchen mehr Information und müssen bestärkt werden – wie Angela Merkel das getan hat, indem sie sinngemäß sagte: Leute, wir können mutig sein! Wir schaffen das! Wir haben das Potenzial. Mit denen aber, die versteinert in der Mentalität „Wir und die anderen“ leben, würde man wohl 100 Jahre reden können, ohne sie zu überzeugen.

Das ist der Punkt, wo wir sensibel hinsehen und unterscheiden müssen. Sich zum Beispiel um irgendwelche Pegida Leute zu bemühen, die sowieso vernagelt sind, halte ich für falsch. Da kann man nur sagen: Liebe Leute, so geht das nicht!

 

Gibt es in der Flüchtlingsfrage Grenzen der Barmherzigkeit? Wo muss der Realismus beginnen, damit unsere Gesellschaft überhaupt barmherzig sein kann?

Ulrike Trautwein: Von meiner Theologie her steht an erster Stelle der Satz: „Wenn ein Fremdling bei euch wohnt in eurem Land, den sollt ihr nicht bedrücken.“ Das ist die Wertebasis, von der wir als Kirche ausgehen müssen. Wie dieser Anspruch konkret umzusetzen ist, ist eine Frage, die im politischen Konsens aus diskutiert werden muss – vor allem also eine Sache der Politik. Wir als Kirche stehen für diese Werte, für diesen Glauben, für dieses Vertrauen. Und darüber hinaus wollen wir konkret alles tun, was wir unsererseits tun können. Da passiert sehr viel: die Flüchtlingskirche, die im Oktober eröffnet wird, beispielsweise.

Die Frage, wie es zu organisieren ist, dass nicht alles zusammenbricht oder verrückt wird, ist noch mal ein nächster Schritt. Da hat die Kirche ein Stück weit die prophetische Aufgabe, zu mahnen, wenn Dinge schieflaufen, und zu sagen: Leute, guckt noch mal genauer hin! Aber klar, wir müssen auch sehen, dass die Situation nicht umkippt. Richtig!

 

Der Kirchensprengel Berlin blickt auf eine Teilungsgeschichte zurück. Ist in der jetzigen Situation Ihre Aufforderung, genauer hinzusehen, im Osten schwieriger zu vermitteln als im westlichen Teil?

Ulrike Trautwein: Diese Frage wird mit Blick auf das vereinte Deutschland heftig diskutiert. Vonseiten der Kirche kann ich sagen, dass unsere Kirchengemeinden im einstigen Ostteil der Stadt, etwa in Hellersdorf, unglaublich engagiert sind. Der Kirchenkreis, der am meisten Geld für die Willkommensarbeit mit Flüchtlingen investiert, ist Lichtenberg-Oberspree im Südosten von Berlin. Aber natürlich bleiben die unterschiedlichen historischen Entwicklungen nicht ohne Folgen. Wer in Frankfurt am Main aufgewachsen ist, hat ein anderes „Training“, mit Menschen aus vielen Nationen zusammenzuleben als jemand, der in der DDR aufgewachsen ist, wo es nach meinem Wissen eine relativ starke Separierung gab – zu den russischen Soldaten, zu den Menschen aus Vietnam, Kuba oder Mosambik. Das heißt nicht, dass es heute „im Osten“ weniger Engagement gäbe, das Gegenteil ist der Fall: Im Sprengel Potsdam möchten so viele Freiwillige etwas tun, dass die Organisation kaum nachkommt, sie einzusetzen. Aber natürlich gibt es das schon auch, dass wir mit Leuten zu tun haben, die ängstlich sind, die nicht wissen, was da auf uns zukommt, die bisweilen die Befürchtung haben, mir nimmt man etwas weg. Und da können wir nur intensiv in formieren, reden und Räume der Verständigung schaffen.

 

Ihre Kirche beruft sich in ihrem Engagement für Flüchtlinge auch auf das Prinzip des Kirchenasyls. Worauf fußt dieser Anspruch, sich gegebenenfalls über staatliches Recht zu stellen?

Ulrike Trautwein: Das ist eine sehr diffizile Frage, aber man kann gewiss sagen, dass das Kirchenasyl einen biblischen Ursprung hat: Im alten Israel hat es, wie im dritten Buch Mose nachzulesen ist, sechs Asylstädte gegeben. Gewaltfreie Städte, wo Menschen Schutz finden sollen und wo nicht mit Waffen agiert werden darf. Genug Wasser soll dort zur Verfügung stehen, Arbeit soll es da geben und so weiter. Das muss man sich einmal über legen: Solche detaillierten Forderungen über einen Schutzbereich für fremde Menschen stammen aus dem kleinen Israel, haben eine Tradition, die jahrtausendealt ist und bis heute fortgeführt wird.

Wichtig beim Kirchenasyl ist: Es geht nicht darum, das Recht zu beugen, sondern darum, einen Moment anzuhalten, Zeit zur genaueren Prüfung und zum Überdenken zu gewinnen. Aktuell gibt es in Deutschland wohl unter 200 Fälle von Kirchenasyl. Weil wir um die Besonderheit wissen, handelt es sich um ein kompliziertes Verfahren. Kirchenasyl wird keinesfalls leichtfertig vergeben.

 

Können Sie für uns den Ablauf des Verfahrens beim Kirchenasyl schildern?

Ulrike Trautwein: In der Regel kommen die Flüchtlinge oder deren Vertreter auf die Kirchengemeinden zu. Danach setzen sich diese mit unseren Stellen wie „Asyl in der Kirche“ zusammen, holen Beratung ein. Vor allem wird intensiv geprüft, in wieweit Gefahr für Leib und Leben besteht. Dann werden jede Menge kirchliche Ebenen einbezogen, der Kirchenkreis, die Beauftragte in dieser Frage. Am Ende stimmt der Gemeindekirchenrat demokratisch darüber ab.

Dabei ist zu bedenken, dass die Konsequenzen für die Gemeinde erheblich sind: Eine Familie über vielleicht eineinhalb Jahre zu versorgen und zu betreuen, braucht viel Kraft und Aufwand.

 

Inwiefern ist die Gewährung von „Kirchenasyl“, die eine unmittelbare Bedrohung von Leib und Leben voraus setzt, angemessen, wenn Asylbewerber aus sogenannten „sicheren Drittstaaten“ oder „sicheren Herkunftsländern“ nach Deutschland kommen?

Ulrike Trautwein: Das sind Fragen, bei denen man sehr genau und individuell hinsehen muss. Es gibt Situationen, die sich einfachen Kategorien entziehen. Ein Kollege hat mir von Tschetschenen er zählt, die nach Polen abgeschoben werden sollten, dort aber, weil die tschetschenische Mafia sie im Land bedroht, vor einer hochproblematischen Situation stehen würden. Oder denken Sie an Italien, wo hin jetzt, Gott sei Dank, keine Frauen und Kinder mehr zurückgeschickt werden, weil es die dortige Lage einfach nicht zulässt!

 

Bitte geben Sie uns Ihre Sicht auf die Vorgänge am Berliner Oranienplatz!

Ulrike Trautwein: Das ist eine lange und komplexe Geschichte. Was ich wichtig finde, ist, dass diese Flüchtlinge , die vor zwei Jahren gekommen sind, sozusagen einen Paradigmenwechsel in der Flüchtlingssituation eingeleitet haben. Plötzlich haben Flüchtlinge selbstbewusst Position bezogen – gegen die Residenzpflicht etwa. Es gab vor dem Brandenburger Tor, dem Symbol der Freiheit, einen Hunger und Durststreik, der unter Vermittlung unseres Bischofs abgebrochen wurde. Ebenso hat sich unsere Kirche engagiert, als die Flüchtlinge über Monate auf dem Oranienplatz in Kreuzberg kampiert haben. Im März 2014 kam es zu einer Vereinbarung mit dem Senat, die im Gegenzug zur Räumung des Platzes unter anderem eine Prüfung der ausländerrechtlichen Verfahren vorsah.

Die allermeisten sind abgelehnt worden. 85 dieser Flüchtlinge suchten daraufhin Zuflucht in der St. Thomas Kirche am Mariannenplatz. Seitdem befinden sie sich in Notunterkünften in unserer Obhut. Wie es jetzt weitergeht, muss man sehen. Die Gemeinden haben sich jedenfalls unter sehr großen Anstrengungen gekümmert.

 

Es handelt sich teils um Flüchtlinge , die sich rechtlich nicht in Berlin auf halten dürften. Alle haben ein recht staatliches Verfahren bekommen. Niemand ist an Leib und Leben bedroht. Es hat also nichts mit Kirchenasyl zu tun, oder?

Ulrike Trautwein: Kirchenasyl ist etwas anderes. Wir haben es „Inobhutnahme“ genannt. Das muss man betonen, denn es ist uns mehrfach unterstellt worden, dass wir das Kirchenasyl missbrauchen würden. Es war und ist aber explizit kein Kirchenasyl. Sondern es war – nachdem alles scheiterte und abgelehnt worden war – unser Versuch, zu sagen: Okay, wir versorgen euch noch mal für vier Wochen und setzen uns noch einmal politisch ein. Dann waren diese vier Wochen um, aber wir hatten nicht das Herz, die Menschen auf die Straße zu setzen. So gab es die Entscheidung: Wir bringen euch über den Winter, und so ist bis heute geblieben.

 

Mit welchem Ziel hat man sich immer wieder neu entschlossen, die „Inobhutnahme“ zu verlängern?

Ulrike Trautwein: Damit noch einmal richtig geprüft wird. Denn alles ging sehr schnell damals. Wir machen gerade den Versuch, mit dem Senat noch Möglichkeiten zu finden. Deshalb sehen Sie es mir bitte nach, wenn ich mich dazu jetzt nicht weiter äußern möchte.

 

In Anbetracht der jetzigen Lage – es kommen zurzeit etwa 250 Flüchtlinge am Tag nach Berlin – fragt man sich, wo es hinführt, wenn man immer wieder neu prüft, wie Sie es für die Flüchtlinge vom Oranienplatz verlangen.

Ulrike Trautwein: Am Oranienplatz gab es eine spezielle Situation, mit einer langen Vorgeschichte. Das lässt sich nicht verallgemeinern. Wir haben damals mit unserem Ruf dafür geworben, dass die Flüchtlinge Vertrauen haben, also sich auf die Vereinbarung einlassen und den Platz räumen. Weil wir diese Verantwortung übernommen haben, müssen wir jetzt sehen, wie diese wirklich komplexe Geschichte zu Ende geht.

 

„Abschieben“ ist ein fürchterliches Wort, das niemand gerne in den Mund nimmt. Dennoch die Frage: Muss „abgeschoben“ werden, wenn die Verfahren abschlägig beschieden werden?

Ulrike Trautwein: Dafür haben wir einen Rechtsstaat, und natürlich, wenn das so ist, dann werden die Menschen abgeschoben. Das macht mich nicht glücklich. Eine Kollegin hat es neulich in einem Rundfunkbeitrag so ausgedrückt: dass einem in einer solchen Situation „das Herz knackt“. Es tut einem weh, und ich weiß auch von einem Kollegen, der in der Ab schiebehaft gearbeitet hat, was es individuell bedeutet, welche dramatischen Geschichten hinter jedem Menschen stehen, der abgeschoben werden soll. Je näher man hinguckt, umso schmerzhafter wird es. Trotzdem weiß ich, dass es das geben muss und dass wir als Kirche nicht außer halb des Rechtsstaates leben und uns natürlich da einfügen.
 

Ulrike Trautwein, geboren 1958 in Limburg an der Lahn, Generalsuperintendentin für den Sprengel Berlin der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz (EKBO).

Das Gespräch führte Bernd Löhmann am 1. September 2015.

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