Zu Beginn von Putins Krieg gegen die Ukraine haben Sie von einem „Realitätsschock“ gesprochen. Von welchen Illusionen müssen sich die nationale und internationale Politik verabschieden?
Friedrich Merz: Den Begriff „Realitätsschock“ habe ich verwendet, weil viele damals sagten, wir seien am 24. Februar 2022 „in einer anderen Welt aufgewacht“. Dem habe ich entgegengehalten, dass die Welt, in der wir an diesem Tag aufgewacht sind, lange vorher schon so war, wir dies aber nicht wahrhaben wollten.
Der 24. Februar war insofern eine Begegnung mit der Wirklichkeit. Spätestens seit der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim und dem Einmarsch in die Ostukraine hätten uns diese Realitäten klar sein müssen. Heute wissen wir es besser: Putin führt einen brutalen Vernichtungskrieg gegen die Ukraine. Und mit dieser neuen Realität müssen wir uns auseinandersetzen. Es ist in der Tat eine Zeitenwende – vermutlich eine viel weitreichendere, als wir es uns heute vorstellen können.
Inwieweit stellt sich die Bundesregierung dieser Realität?
Friedrich Merz: Meine Beobachtung ist, dass große Teile der Bundesregierung sehr wohl versuchen, sich ihr zu stellen. Der Realität am nächsten scheinen mir die Grünen zu sein. Aber bei der SPD bemerke ich eine große Zögerlichkeit, die zwei Ursachen hat: Zum einen gibt es eine über Jahrzehnte gewachsene Sehnsucht nach „Frieden ohne Waffen“ – in einer Partei, die sich immer auch als pazifistisch verstanden hat. Diese Haltung wird zum anderen oft genug überlagert von einem geradezu naiven Russlandverständnis bis hin zu persönlichen und wirtschaftlichen Verstrickungen in einem großen SPD-Russland-Netzwerk. Altbundeskanzler Gerhard Schröder ist das sichtbarste Beispiel, aber er ist nur einer von vielen. Dieses Russland-Netzwerk reicht viel tiefer in die SPD hinein und hat bis heute großen Einfluss. Die SPD wird bis zu einer echten Aufarbeitung dieser Verstrickungen noch einen sehr langen Weg gehen müssen.
Der Kanzler und im Gefolge die SPD-Fraktion haben sich – am Ende doch noch – zur Lieferung schwerer Waffen durchgerungen. Ist das eine Zeitenwende in Zeitlupe?
Friedrich Merz: Der Bundeskanzler hat in seiner Regierungserklärung am 27. Februar den Begriff „Zeitenwende“ verwendet. Aber wenn man sich mit dem Abstand von einigen Monaten fragt, was denn „Zeitenwende“ für die Bundesregierung konkret heißt, dann bleibt im Grunde nur ein sogenanntes „Sondervermögen“ für die Bundeswehr, mit anderen Worten: 100 Milliarden Euro neuer Schulden. Abgesehen von den Bemühungen um die Ersatzbeschaffung von Energieleistungen bleiben alle anderen Ausgaben dieser Bundesregierung weiterhin so geplant wie vor dem Krieg.
Erwarten Sie, dass die Schockwellen des Krieges auch jenseits der Waffenlieferungen die Stabilität der Bundesregierung beeinträchtigen?
Friedrich Merz: Es zeigt sich unter anderem an der extremen Dünnhäutigkeit der Regierung, die in den letzten Tagen dazu übergegangen ist, jede Kritik an ihr als staatspolitisch unverantwortlich darzustellen. Mit anderen Worten: Nur wer dem zustimmt, was die Bundesregierung vorschlägt, verhält sich staatspolitisch angemessen, alles andere ist „Parteipolitik“. Diese Argumentationsmethode verbindet sich folgerichtig mit einer immer heftiger werdenden Kritik an der Opposition.
Dabei ist schon heute absehbar, dass zum Beispiel die Haushaltsentwicklung eines der großen Probleme dieser Bundesregierung werden wird. So stehen Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichtes an, die sehr teuer für den Bundeshaushalt werden könnten – etwa über den Solidaritätszuschlag. Auch unsere Klage gegen die aus unserer Sicht verfassungswidrige Übertragung von sechzig Milliarden Euro Corona-Hilfen in einen sogenannten Klima- und Transformationsfonds wird demnächst verhandelt. Insgesamt gibt es große Haushaltsrisiken, die ausgerechnet von einem FDP-Finanzminister verantwortet werden, der damit bereits sichtbar seiner eigenen Klientel schadet. Stolperfallen gibt es reihenweise, aber meist stürzen Regierungen über Themen, von denen man im Voraus gar nichts ahnt.
Am heutigen Tag gab es einen gemeinsamen Antrag im Bundestag über die Lieferung auch schwerer Waffen. Trotz dieser Zusammenarbeit mit den Regierungsfraktionen ist nicht ausgemacht, dass die Union der Grundgesetzänderung für das Bundeswehrsondervermögen zustimmen wird. Warum ist das so, wenn Ihnen die Ausstattung der Bundeswehr so besonders wichtig ist?
Friedrich Merz: Der Antrag im Deutschen Bundestag war nötig geworden, weil die Bundesregierung und insbesondere der Bundeskanzler in den letzten Wochen zu Waffenlieferungen an die Ukraine nie klar Position bezogen haben. Vor allem aus den Reihen der Koalition hat es dafür Kritik gehagelt, bis hin zum Vorwurf des politischen Hütchenspiels. Daher haben wir uns in der Unionsfraktion entschlossen, einen entsprechenden Bundestagsantrag zu formulieren. Erst als dieser Antrag fertiggestellt war, haben sich die Regierungsfraktionen zu einem eigenen und schließlich mit uns zusammen zu einem Antrag bereitgefunden. Wenn wir die Debatte nicht begonnen hätten, hätte sie gar nicht stattgefunden und der gemeinsame Entschließungsantrag wäre auch nicht zustande gekommen. Aber das war eine mehr prozedurale Entscheidung. Die sachlich-inhaltliche Entscheidung steht noch aus: die Errichtung des Sondervermögens, gegebenenfalls durch eine Grundgesetzänderung. Bei der Aussprache über den Bundeshaushalt haben wir dem Bundeskanzler eine Liste von sechs Punkten vorgelegt, die aus unserer Sicht erfüllt sein sollten. Der zentrale Punkt ist, dass das Geld wirklich der Bundeswehr mit einer Kontrolle durch das Parlament zufließen muss und nicht anderen Zwecken zugeordnet wird. Wir wollen auch die Zusage des Bundeskanzlers eingehalten sehen, dass „ab sofort jährlich mehr als zwei Prozent unseres Bruttoinlandsproduktes in die Bundeswehr investiert werden“. Dann muss das Beschaffungswesen der Bundeswehr verändert werden. Auch fordern wir einen Tilgungsplan, der sicherstellt, dass das Geld, das aufgenommen wird, zurückgezahlt wird. Die Bundesregierung kennt diese Punkte, und darüber müssen wir verhandeln. Ein Ergebnis ist noch ziemlich weit entfernt.
Welche Konsequenzen hat die extrem zugespitzte Bedrohungslage für die Rolle der Union als Oppositionspartei, vor allem aber für den Erneuerungsprozess der CDU?
Friedrich Merz: Die gesamte Diskussion wird aktuell durch den Krieg in der Ukraine bestimmt. Trotzdem bemühen wir uns, die CDU inhaltlich-strategisch wieder so zu positionieren, dass sie in Deutschland strukturell mehrheitsfähig bleibt. In einer Grundsatz- und Programmkommission arbeitet die Partei an den Themen, auch in Abstimmung mit der CSU. Anfang Mai haben wir mit der CSU in einer gemeinsamen Präsidiumssitzung einen erweiterten Sicherheitsbegriff definiert und Schlussfolgerungen gezogen, wie umfassende Sicherheit für die Bevölkerung aussehen kann.
Wir wollen damit auch zu den Kernkompetenzen der Union zurück: innere Sicherheit, wirtschafts- und finanzpolitische Solidität, Außen- und Sicherheitspolitik – diese Bereiche waren immer entscheidend für das Profil der Union. Ohne Zweifel kommen heute andere Themen hinzu, vor allem die Fragen des Klimawandels, die wir mit marktwirtschaftlichen Instrumenten beantworten wollen. Und natürlich müssen wir auch auf gesellschaftliche Änderungen reagieren und neue Antworten geben.
Sie haben bemängelt, dass sich manche in der Union weiterhin „im Regierungsmodus“ bewegen. Was stört Sie daran?
Friedrich Merz: Nach sechzehn Jahren Regierungsverantwortung fällt der Übergang von einer Regierungsfraktion zu einer Oppositionsfraktion sicherlich nicht leicht. Immer wieder heißt es bei uns noch: „Wir müssen!“ Darauf antworte ich meist: „Wir müssen gar nichts mehr, wir sind jetzt in der Opposition.“ Neben der Kritik an der Regierung geht es aber auch um eigene Positionen. Die erarbeiten wir jetzt wieder selbst und ohne Regierungsapparat im Hintergrund.
Nicht ohne Genugtuung haben Sie festgestellt, dass es an der Spitze der CDU noch nie eine so fundamentale Veränderung gegeben habe. Warum war sie notwendig? Und mit welchen inhaltlichen Impulsen sind diese „neuen Köpfe“ verbunden?
Friedrich Merz: Der Befund ist richtig: Wir hatten nach einer Vorstandswahl noch nie so viele „neue Köpfe“ im Präsidium und im Bundesvorstand. Der Anteil von Frauen im engsten Führungskreis der Partei hat sich deutlich erhöht, und trotz eines etwas älteren Vorsitzenden ist dieses Präsidium im Durchschnitt knapp fünf Jahre jünger geworden. Für sich genommen ist das aber noch kein Erfolg, sondern eine Voraussetzung dafür, dass wir wieder Themen besetzen und Themen mit Personen verbinden. Ich möchte, dass sich die Union nicht nur in einer Person wiederfindet, sondern dass es eine Reihe von Köpfen gibt, von denen unsere Themen authentisch vertreten werden.
Welchen Stellenwert messen Sie dem Problem fehlender Basisnähe bei?
Friedrich Merz: Unsere Basis ist insgesamt zu schmal geworden. Wir haben nominal 400.000 Mitglieder, von denen allerdings nur ein kleiner Anteil wirklich aktiv sein dürfte. Damit verbindet sich ein erhebliches Nachwuchsproblem. Der Mangel an Frauen trifft die Partei nicht allein an der Spitze bei der Besetzung von Führungspositionen, sondern wir haben insgesamt viel zu wenig Frauen in der politischen Arbeit der Partei, vor allem auch auf kommunaler Ebene.
Auch aus diesem Grund habe ich vorgeschlagen, mit Christina Stumpp eine Stellvertretende Generalsekretärin zu berufen, die das Thema vordringlich bearbeiten soll und ein Kommunalbüro einrichten wird. Aus der Bundespartei heraus soll sie daran mitwirken, den unmittelbaren Zugang zur Basis – in den Städten, Gemeinden und in den Ortsverbänden – zu unterstützen, damit sich die Partei wieder breiter aufstellt.
Sie haben den Zustand von zu wenig Frauen in der CDU als „gehöriges Defizit“ beklagt. Wie wollen Sie in dieser Frage vorgehen? Ergebnisse der Struktur- und Satzungskommission liegen bereits vor.
Friedrich Merz: Seit längerer Zeit steht eine Entscheidung über die Struktur und Satzung der Partei aus. Dazu gibt es Vorschläge aus der Kommission, die aktuell auch in einigen Details überarbeitet werden müssen, auch weil die Beschlussfassung ursprünglich vor drei Jahren erfolgen sollte.
Die Entscheidung muss auf einem Präsenzparteitag getroffen werden; der nächste findet im September statt. Ich lege Wert darauf, dass wir dann über die Struktur- und Satzungsfragen entscheiden und sie nicht noch einmal verschieben. Das wird dann auch eine Entscheidung darüber sein, wie wir die Mitarbeit von Frauen in der Partei verbessern wollen.
Sie sagen: „Das Prinzip der Volkspartei ist nicht tot“ – gegen manche Evidenz von Wahlergebnissen und Expertenstimmen. Was lässt Sie so optimistisch sein?
Friedrich Merz: Mich macht optimistisch, dass das Parteiensystem in Deutschland immer noch stabiler ist als in fast allen westlichen Demokratien, sogar unter Einschluss der USA. Mich stimmt auch optimistisch, dass die CDU bei den meisten Wahlen wieder stabile Ergebnisse erzielt. Ein großer Teil der Wählerinnen und Wähler scheint verstanden zu haben, dass eine weitere Ausdifferenzierung des Parteiensystems nicht unbedingt zu besseren politischen Lösungen führt.
Volksparteien sind Parteien, von denen sich mehr als fünfzig Prozent der Wählerinnen und Wähler vorstellen können, sie unter bestimmten Umständen zu wählen. Diese Zahl trifft immer noch zu: Rund fünfzig Prozent der Wählerinnen und Wähler könnten sich vorstellen, die Union zu wählen! Alle diese Wähler werden wir nicht erreichen, absolute Mehrheiten werden die Ausnahme bleiben. Aber die Union könnte deutlich über dreißig, ich meine sogar an die vierzig Prozent herankommen, wenn sie diese breite Wählerschaft als Volkspartei wieder durch Personen und Themen abbildet.
Was ist der gesamtgesellschaftliche Auftrag von Volksparteien?
Friedrich Merz: Ich bin unverändert der Überzeugung, dass aus den christlich-sozialen, wirtschaftsliberalen und wertkonservativen Wurzeln ein – um im Bild zu bleiben – starker und ges- under Baum wachsen kann. Das setzt voraus, dass wir unsere Wurzeln, also das, was uns ausmacht, heute in einem breiteren gesellschaftspolitischen Kontext attraktiv halten und auf dieser Grundlage eine breite Wählerschaft an uns binden.
Das können wir schaffen, wenn wir gleichzeitig auf Fragen wie etwa des Klimawandels Antworten geben. In der Breite der Partei ist dieses Thema sehr spät auf ein ernsthaftes Interesse gestoßen. Aber jetzt verfolgen wir es mit einem eigenen Ansatz, indem wir die Probleme mit marktwirtschaftlichen Instrumenten lösen und nicht mit staatlichen Eingriffen und Regulierungen. Diese Herangehensweise gründet auf zutiefst christlich-demokratischen Überzeugungen. Das Beispiel zeigt, dass sich die Herausforderungen unserer Zeit durchaus mit den Instrumenten beantworten lassen, die wir in der CDU weit früher entwickelt haben.
Der Politikwissenschaftler Wolfgang Merkel sagt, Polarisierung und Moralisierung seien die wichtigsten Gefährdungen der Demokratie. Manche sehen die Volksparteien als Kollateralopfer dieser Tendenzen. Eigentlich warte ich darauf, dass jemand einmal sagt, sie seien im Gegenteil die Antwort darauf.
Friedrich Merz: Nicht Polarisierung und Moralisierung sind aus meiner Sicht die größten Gefährdungen für die Demokratie, sondern Unklarheit, undifferenzierte Antworten und auch das Bemühen, alles möglichst lange im Unklaren zu lassen. Politik besteht aus mehr als nur der Beschreibung dessen, was ohnehin passiert. Ich bin auch nicht der Meinung, dass Politik dem Zeitgeist nur nachlaufen sollte, sondern sie müsste beanspruchen, ihn auch zu prägen. Das setzt Streitbereitschaft im besten demokratischen Sinne voraus – für uns als Oppositionspartei vor allem mit der Regierung, ohne dabei die Brücken einzureißen.
Sie beteuern, dass es mit Ihnen keine „Achsenverschiebung“ in der CDU geben wird. Was ist Ihr Verständnis von Mitte?
Friedrich Merz: Der Begriff der politischen Mitte ist in den letzten Jahren zu einer Floskel geworden und kein sich selbsterklärender Begriff mehr. Vielmehr sollten wir wieder mehr über das eigene Koordinatensystem sprechen und uns von anderen klar abgrenzen, vor allem gegen ganz rechts und ganz links. Wir sind eine Partei, die die Breite der Gesellschaft anspricht und mitten in der Gesellschaft ihren Platz hat. Der Begriff „Die Mitte“ steht mir ein bisschen zu verloren im Raum.
Die aufglimmende Debatte um das „C“ im Parteinamen haben Sie mit einem Interview beendet. Was bedeutet Ihnen die christliche Orientierung?
Friedrich Merz: Jeder hat zunächst einmal eine eigene Beziehung zum Glauben. Für die Politik einer christlich-demokratischen Partei ist es nicht erforderlich, dass alle katholisch oder evangelisch sind. Aber sehr wohl ist für uns entscheidend, dass wir alle unserem christlichen Bild vom Menschen als einzigartigem Individuum folgen. Wir geben auf dieser Welt auch immer nur vorletzte Antworten, nie die letzten. Das bewahrt uns vor Absolutheitsansprüchen und stellt unsere Antworten immer unter einen höheren Vorbehalt. Und das lässt uns in der Politik mutig und demütig zugleich sein.
Das klingt eher demütig als mutig, was vielleicht zur gegenwärtigen Situation der Kirchen passt. Daher eine konkretere Nachfrage: Welche Impulse erhoffen Sie sich vom christlichen Denken für die Partei?
Friedrich Merz: Ich mache es ganz konkret. Das Thema, das mich in meinem politischen Denken seit Langem am meisten beschäftigt hat, ist die Frage, wie wir auf der Grundlage der katholischen Soziallehre und der evangelischen Sozialethik in der Lage sind, Produktivvermögen auf viele Schultern zu verteilen. Wie lassen sich Menschen, die im klassischen Sinne keine Unternehmer sind, an der Produktiventwicklung unserer Volkswirtschaft beteiligen? Das ist für mich das letzte nicht eingelöste Versprechen unserer Sozialpolitik, und in der Antwort liegt ja auch ein wesentlicher Teil der Lösung des Problems für den Vermögensaufbau und die Altersversorgung der jungen Generation.
Die CDU hat den Anschluss zu jungen Menschen verloren, jedenfalls mehr als andere Parteien. Welche inhaltlichen Angebote haben Sie im Sinn, um das zu ändern? Nicht weniger als einen „neuen Generationenvertrag“ halten Sie für nötig.
Friedrich Merz: Ich bin in der Tat der Meinung, dass wir über einen neuen Generationenvertrag sprechen müssen. Das ist übrigens ein Grund, warum wir beim Sondervermögen für die Bundeswehr Bedingungen stellen. Wir dürfen der jungen Generation von morgen nicht die Lasten unserer Verteidigung von heute aufbürden.
Deshalb fordern wir, dass dem Sondervermögen ein Tilgungsplan beigefügt wird. An dieser Stelle begegnen sich Wirklichkeit und Grundüberzeugung: Aus unserem Denken heraus ergibt sich, dass wir die politischen Aufgaben wirklich treuhänderisch für die Zukunft der jungen Generation lösen müssen. Wenn wir es gut machen, dann sind wir auch in der Umwelt- und Klimapolitik sehr viel weiter als heute. Dann sind wir aber auch in der Finanz- oder Bildungspolitik und in vielen anderen Bereichen konzeptionell weiter als heute.
Die aktuellen Krisen erfordern einen starken Staat. Nur könnte man auch einen überforderten Staat und eine immer größere Abhängigkeit der Bürgerinnen und Bürger von staatlichen Leistungen und Interventionen fürchten.
Friedrich Merz: Auch die CDU ist leider immer wieder der Versuchung erlegen, paternalistisch zu denken und zu handeln. Dabei ist Eigenverantwortung die zentrale Voraussetzung für Freiheit. Wer Eigenverantwortung vernachlässigt, reduziert am Ende auch die individuelle Freiheit. Diesen Zusammenhang wiederherzustellen und besser zu erläutern, kann auch dazu führen, dass man sich mit einem neuen Freiheitsgefühl den Zukunftsfragen zuwendet. Die Eigentumsbildung nimmt in unserem Grundsatz- und Programmprozess daher einen besonderen Platz ein. An erster Stelle, sozusagen vor der Klammer, stehen die Werte und das Fundament der CDU. Es folgen die verschiedenen Themen, aber diese sind wiederum stark von unserem freiheitlichen Denken geprägt, für das das Eigentum von großer Bedeutung ist. Wir sind eine Gesellschaft des Privateigentums und der persönlichen Verantwortung. Und deswegen hat Eigentumsbildung, sei es als Wohneigentum, sei es zur Sicherung der Altersversorgung, die kapitalgedeckt oder teilweise kapitalgedeckt ist, auch etwas mit unserem Freiheitsbegriff zu tun.
Die lange vergessene Frage der Eigentumsbildung braucht also einen Neuanfang?
Friedrich Merz: Ja, aber in einigen Bereichen brauchen wir überhaupt erst einmal wieder einen Anfang. Vor zwanzig Jahren gab es die „Herzog-Kommission“ und einen sehr erfolgreichen Parteitag 2003 in Leipzig. Dort war nicht der steuerpolitische Teil des Parteitags der wichtigere Teil, sondern die sozialpolitischen Themen standen im Vordergrund. Wir haben uns damals mit der Modernisierung der Arbeitswelt auseinandergesetzt und sind im Ergebnis dazu gekommen, dass wir Teile der sozialen Sicherungssysteme vom sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnis lösen sollten. An diese Ideen, nicht unbedingt an die Ergebnisse, müssen wir anknüpfen.
Das Gespräch führte Bernd Löhmann am 28. April 2022.
Friedrich Merz, geboren 1955 in Brilon, Jurist, seit 2022 Bundesvorsitzender der CDU Deutschlands und Vorsitzender der CDU/CSU-Fraktion im Deutschen Bundestag.