„Althusmann liest die Akten von vorn bis hinten. Und wenn er fertig ist, liest er sie noch mal von vorn“, heißt es über Sie – was man in Zeiten von Fake News positiv hervorheben kann. Was lesen Sie denn über die Lage des ländlichen Raums in Niedersachsen?
Bernd Althusmann: Die ländlichen Regionen sind für mehr als fünfzig Prozent der Niedersachsen Lebensort und Heimat. Der ländliche Raum ist in einem Agrarland wie Niedersachsen für die CDU von höchster Bedeutung. Hier gilt es, künftig einen Schwerpunkt niedersächsischer Landespolitik zu setzen. Ebenso wie in den städtischen Ballungszentren haben die Menschen dort ein Recht auf schulische oder medizinische Versorgung – auf alle Einrichtungen der Versorgung, die ein zufriedenes Leben ermöglichen. Kurzum: Wir brauchen auch in Zukunft eine leistungsfähige Infrastruktur, die ein sicheres Leben in all seinen Facetten gerade auch im ländlichen Raum ermöglicht.
Im Süden des Landes stellt sich die Frage des demografischen Wandels besonders dringend. Hier altert die Bevölkerung rasant, junge Fachkräfte wachsen nur langsam nach. Das hat Auswirkungen auf die wirtschaftliche Kraft in weiten Teilen des Landes Niedersachsen.
Aktuell sieht sich trotz gut gefüllter Auftragsbücher der klassische Mittelstand, also etwa Handwerksbetriebe, mit besonderen Herausforderungen konfrontiert. Dazu gehört besonders der Fachkräftemangel, um derzeit das Auftragsvolumen abarbeiten zu können. Hinzu kommt die infrastrukturelle Entwicklung der ländlichen Räume, vor allem auch die Versorgung mit Highspeed-Internet. Hier erwarte ich für die kommenden Jahre das größte Wachstumspotenzial. An wichtiger Stelle steht aber im Agrarland Nummer 1 die Zukunftsfähigkeit der Landwirtschaft.
Volker Kauder warnte kürzlich vor einer neuen „Teilung Deutschlands“, wenn man die Lebensqualität für die Menschen jenseits der Ballungsräume nicht entschiedener fördere. Ist es mit Blick auf Niedersachsen wirklich so dramatisch?
Bernd Althusmann: Volker Kauder hat recht, wenn er sagt, dass wir als CDU Deutschlands einen stärkeren Schwerpunkt bei der Entwicklung der ländlichen Räume setzen sollten.
Themen wie schnelles Internet oder Breitbandversorgung sind in den städtischen Ballungszentren meist weniger von Relevanz. Hier sind die Grundlagen meist gelegt. Aber der ländliche Raum darf nicht abgehängt werden. Wer unseren Wohlstand in unserem Bundesland sichern will, der muss das ganze Land in den Blick nehmen und dort heute die Weichen für morgen stellen.
Was sind die politischen Konsequenzen, wenn sich der Staat aus der Fläche zurückzieht? Droht dadurch ein Erstarken des Populismus?
Bernd Althusmann: In der Tat ist zu befürchten, dass Menschen aus Regionen, in denen keine neuen Perspektiven entwickelt werden, wo eine schulische oder auch frühkindliche Versorgung, sprich Kindertagesstätten und Krippen, nicht ausreichend vorhanden sind, in Ballungsräume wegziehen oder ein Gefühl des Abgehängtseins entwickeln. Dies befördert offenbar vereinfachende Tendenzen von Populisten links wie rechts. Dem gilt es als überzeugte Demokraten mutig entgegenzutreten. Eine solche Wahrnehmung sollten wir gar nicht erst aufkommen lassen und – umso mehr – den grundgesetzlichen Auftrag gleicher Lebensbedingungen ernst nehmen.
Würden Sie sagen, dass wir – ich sage „wir“, weil ich unsere Zeitschrift da durchaus einschließe – in den letzten Jahren zu viel über die CDU als „Großstadtpartei“ debattiert haben und zu wenig über die Verankerung in der Fläche?
Bernd Althusmann: Die Themen „Großstadt-CDU“ und „CDU im ländlichen Raum“ unterscheiden sich unzweifelhaft, weil sie jeweils ganz andere Anforderungen an die Lösungsfähigkeit der Politik stellen, aber beide Themenbereiche sind unser klassisches CDU-Profil. Wir müssen sachgerechte Antworten auf Zukunftsfragen geben, denen die Bürger unseres Landes vertrauen können. Dass sie dies verstärkt tun, zeigen die zurückliegenden Landtagswahlen. In Ballungszentren geht es manchmal stärker um Verkehrsbelastungen, den ÖPNV, Kriminalitätsbelastungen, während im ländlichen Raum aufgrund der älter werdenden Gesellschaft etwa die Erreichbarkeit der nächsten Apotheke oder die ärztliche Versorgung eine zentrale Rolle spielen. Aber auch dort fühlen sich Menschen einsam oder nicht sicher. Das gilt es ernst zu nehmen. Ich denke nicht, dass sich die CDU in den letzten Jahren zu stark auf die städtischen Ballungszentren konzentriert hat. Im Gegenteil: In Großstädten stehen wir vor anderen Herausforderungen als im oft dünn besiedelten Raum. Wir müssen Mut zur politischen Schwerpunktsetzung haben und weiter daran arbeiten, als „Großstadt-CDU“ ein Profil zu bieten, das den Menschen in städtischen Ballungszentren einen Anreiz gibt, CDU zu wählen. Im ländlichen Raum sind die Lebensumstände andere, aber gleich wichtig.
Volkswagen ist der größte Arbeitgeber in Niedersachsen, die Landwirtschaft der zweitgrößte. Beide stehen aktuell öffentlich am Pranger: der eine wegen der Dieselaffäre, der andere wegen der Massentierhaltung und zu viel Gülle. Wo ist die Kritik berechtigt?
Bernd Althusmann: Von einer Landesregierung darf man erwarten, dass der zwanzigprozentige Anteil des Landes am weltgrößten Automobilhersteller vernünftig gemanagt wird, sodass sich der größte Arbeitgeber mit 120.000 Arbeitsplätzen an sechs Standorten in Niedersachsen zukunftsfähig aufstellt. Bei der Unternehmenskultur von VW muss sich noch einiges ändern, was aber kaum von der amtierenden Landesregierung aktiv begleitet wird. Die beiden Vertreter des Landes
Niedersachsen im VW-Aufsichtsrat sind kein Vollzugsorgan des Vorstandes. Bisher ist aus meiner Sicht ein klarer Kurs zwischen dem festen Willen zur Aufklärung und mutiger Aufstellung für die Zukunft nicht erkennbar. Stattdessen werden immer neue Nebenkriegsschauplätze eröffnet. Die Mitarbeiter am Band können den Begriff „Diesel-Skandal“ oder „Diesel-Gate“ längst nicht mehr hören und wollen stattdessen Antworten darauf, wie sich VW in den nächsten zehn Jahren aufstellen wird – und konkret, welche Antriebstechnologien und welche Modelle der Zukunft an welchen Standorten in Niedersachsen gebaut werden.
Was diese Zukunftsfragen betrifft, kommt der Aufsichtsrat seiner Funktion leider zurzeit nicht in ausreichendem Maße nach. Stattdessen werden üppige und höchst fragwürdige Abfindungen gewährt, während im Bund vonseiten der SPD über zu hohe Managergehälter debattiert wird. Ein Land wie Niedersachsen als großer Anteilseigner muss schon den Mut haben, zu sagen, was es akzeptiert und was nicht.
Und mit Blick auf das Agrarland Nummer 1 in Deutschland: Nach VW ist unsere bäuerliche Landwirtschaft mit allen vor- und nachgelagerten Bereichen der Ernährungswirtschaft der zweitwichtigste Arbeitgeber in unserem Bundesland. Die Niedersachsen haben ein feines Gespür dafür, ob es der verantwortlichen Politik gelingt, den Spagat zwischen Verbraucherschutz und Tierwohl einerseits und landwirtschaftlicher Produktion andererseits vernünftig auszutarieren. Wir produzieren heute – unabhängig davon, ob aus traditioneller oder ökologischer Landwirtschaft – täglich Lebensmittel von der höchsten Qualität, die jemals in Deutschland und in Niedersachsen erzielt wurde. Dabei stehen unsere landwirtschaftlichen Betriebe, insbesondere unsere bäuerlichen Familien, vor enormen Herausforderungen unterschiedlichster Art. Durch zum Teil ideologische Entscheidungen werden immer wieder neue Vorgaben vonseiten des Landes oben draufgepackt, was die landwirtschaftliche Produktion zusätzlich erschwert. Wir sollten endlich wieder zu einer Politik für unsere Landwirtschaft und mit unserer Landwirtschaft zurückfinden. Beim Thema Verbraucherschutz müssen wir deutlich machen, wie landwirtschaftliche Produktion heute im täglichen Betrieb stattfindet. Das romantische Bild der Landwirtschaft in unseren Köpfen muss sich der Realität besser anpassen. Die Landwirtschaft arbeitet heute hoch technologisiert, immer effizienter, digitalisiert und ressourcenschützend und die Böden immer besser vor zu hohen Belastungen schützend. Dies wird in manch politischer Debatte ausgeblendet. Aus diesem neuen und realistischen Bild von Landwirtschaft muss beiderseitiges Vertrauen erwachsen. Allerdings habe ich oft den Eindruck, dass es mit Bezug auf die Landwirtschaft und den Naturschutz bisweilen sehr viel mehr um ein Hinterherrennen hinter vermeintlichen, jedoch meist kurzlebigen Trends geht als um die aktive und faire Förderung oder Darstellung der bäuerlichen Landwirtschaft. Wir brauchen eine Politik mit und für unsere Landwirte und keine Politik gegen sie.
Bundesumweltministerin Barbara Hendricks hat sich inzwischen für die Kampagne der sogenannten „neuen Bauernregeln“ entschuldigt. Können Sie die Aufregung um so harmlos erscheinende Sprüche – wie „Steht das Schwein auf einem Bein, ist der Schweinestall zu klein“ – verstehen?
Bernd Althusmann: Das war eine Entgleisung der Bundesumweltministerin, die sich gegen die Landwirte in Deutschland richtete und viel Vertrauen verspielt hat. Die Kampagne wollte den Gegensatz von Umwelt- und Landwirtschaftspolitik betonen, anstatt die Gemeinsamkeiten herauszustellen. Unsere Landwirtschaft trägt bestmöglich den gestiegenen Umweltschutzstandards Rechnung – etwa beim Düngereinsatz auf den Feldern oder bei der Antibiotika-Verwendung in der Tierhaltung. Wir sollten verstärkt die technologischen Möglichkeiten nutzen, mit denen sich diese Herausforderungen besser managen lassen. Dabei gilt es, auch gegenüber der Öffentlichkeit deutlich zu machen, dass unsere Landwirtschaft nach den besten Standards arbeitet – etwa, um Boden- oder Grundwasserbelastungen zu vermeiden. Klar muss aber auch sein, dass die Produktion von Lebensmitteln zu diesen Standards Geld kostet und landwirtschaftliche Betriebe eine solide Existenzgrundlage benötigen. Diesen Spagat hinzubekommen, ist die große Kunst im Verhältnis zwischen vernunftorientierter Landwirtschafts- und Umweltschutzpolitik.
Nun haben seit 2013 in Niedersachsen 1.700 landwirtschaftliche Betriebe aufgegeben. Was sind die Gründe für diese Entwicklung und ihre Konsequenzen mit Blick auf die Perspektiven des ländlichen Raums?
Bernd Althusmann: Das größte Problem der hiesigen Landwirtschaft bleibt der große Flächenverbrauch. Täglich werden in der Größenordnung eines durchschnittlichen niedersächsischen Betriebs Flächen verbraucht: circa siebzig Hektar pro Tag. Diesen Verbrauch durch eine ländliche Entwicklungspolitik zu mindern, ist eine Kernherausforderung der nächsten Jahre. Darüber hinaus muss die Landwirtschaft deutlich von Bürokratie entlastet werden, wobei auch Fragen der Umweltgesetzgebung mit auf den Prüfstand gehören. Ich nenne das Stichwort „Wassergesetz“, ein Gesetzesvorhaben, das die Bewirtschaftung von bestimmten Flächen nahezu unmöglich macht und damit einer Enteignung gleichkommt. Dies wurde bislang auch nur teilweise in Niedersachsen zurückgenommen. Ohnehin reagiert die amtierende Landesregierung immer erst auf Druck von außen.
Die Idee einer „Pachtpreisbremse“ für landwirtschaftliche Flächen, wie sie aktuell in Niedersachsen intensiv diskutiert wird, halte ich unter dem Aspekt – was kann das Land tun, um die Ausgangsbedingungen für Landwirte zu verbessern – nicht für zielführend. Auch sollte die einzelbetriebliche Förderung, die zuletzt deutlich reduziert wurde, wieder auf den Stand von vor 2013 angehoben werden.
Sie waren von 2013 bis 2016 für die Konrad-Adenauer-Stiftung in Namibia und Angola. Gab es Erfahrungen, die Ihnen heute helfen, die aktuellen
Herausforderungen in Niedersachsen besser oder leichter einzuordnen?
Bernd Althusmann: Ich glaube, dass der „Blick über den Tellerrand“ für einen Spitzenkandidaten der CDU für das Amt des Ministerpräsidenten in Niedersachsen sehr hilfreich ist. Heute verfüge ich über eine höhere Sensibilität für globale und soziale Themen. Mein Afrika-Aufenthalt mit meiner Familie hat mir eine gewisse Erdung zurückgegeben. Heute glaube ich, noch besser zwischen wichtig und wünschenswert unterscheiden zu können. Insbesondere die weltweite Flüchtlingskrise und unsere Antworten darauf sehe ich heute viel kritischer als vor inzwischen vier Jahren. Europa wird hier eine zentralere Funktion einnehmen müssen als manche national gesteuerte Entwicklungszusammenarbeit. Natürlich lassen sich die Probleme des südlichen Afrika nicht mit unseren Problemen in Deutschland oder Niedersachsen vergleichen. Aber die Kenntnis der Situation dort führt zu einer Schärfung des Blickes für die Probleme auch in unserem Bundesland und zusätzlich zu einer gewissen Gelassenheit mit Blick auf die künftigen Herausforderungen. Sie sind nicht geringer, aber wir können zuversichtlich sein, dass wir sie gut meistern werden. Dessen bin ich mir sicher.
Das Gespräch führte Bernd Löhmann am 18. Mai 2017.
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Bernd Althusmann, geboren 1966 in Oldenburg (i. OL), ehemaliger niedersächsischer Kultusminister, Landesvorsitzender der CDU Niedersachsen und Spitzenkandidat seiner Partei für die Landtagswahl 2018.