Frau Ministerpräsidentin, was bedeutet „Mitte“ für die CDU?
Annegret Kramp-Karrenbauer: Die CDU ist als eine Union unterschiedlicher politischer Strömungen und Haltungen gegründet worden. Schon deshalb bündeln sich in ihr eine geistige und soziologische Breite und Vielfalt. Die verbindende „Mitte“ konkretisiert sich in den Grundkonstanten der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, die maßgeblich auf die Politik der Union zurückgehen: klare Einbindung in den Westen, in die NATO, in die Europäische Union und das eindeutige Bekenntnis zur Sozialen Marktwirtschaft.
Das sind die Leitplanken, innerhalb derer wir uns bewegen. Und das unterscheidet uns von den Parteien an den Rändern, die links außen beispielsweise nichts von der Sozialen Marktwirtschaft halten oder die Einbindung in die NATO infrage stellen und rechts außen die Integration in die Europäische Union ablehnen. Dagegen würde ich alle Parteien als der Mitte zugehörig definieren, die sich entlang der von mir skizzierten Grundkonstanten orientieren. Dabei gibt es selbstredend – je nach Partei – sehr unterschiedliche Gewichtungen und Antworten auf die aktuellen politischen Fragestellungen.
Wie würden Sie das Verhältnis der CDU zur „gesellschaftliche Mitte“ charakterisieren?
Annegret Kramp-Karrenbauer: Zur „gesellschaftlichen Mitte“ gehören alle diejenigen, die auf dem Boden unserer freiheitlichen Ordnung stehen, wie sie in der Bundesrepublik Deutschland seit vielen Jahrzehnten gelebt wird. Das umfasst zunächst ein klares Bekenntnis zur parlamentarischen Demokratie. Hinzu kommt aber die Unterstützung des Leistungsgedankens – zusammengefasst durch die Formel der Sozialen Marktwirtschaft: „Aufstieg durch Leistung“ –, was wiederum den Leitgedanken der Chancengerechtigkeit voraussetzt und deutlich macht, warum das Thema Bildung einen zentralen Stellenwert besitzt.
Die „gesellschaftliche Mitte“ sei bunter geworden, behaupten Soziologen. Ist das ein Problem für die CDU?
Annegret Kramp-Karrenbauer: Nein, wenn es diese Entwicklung nicht gegeben hätte, hätte das Stillstand bedeutet. Und Politik – erst recht in der CDU – ist nie etwas Statisches. Sie muss immer etwas sein, was sich bei allem, was auch zu bewahren ist, weiterentwickelt. Politik reagiert auf gesellschaftliche Entwicklungen, begleitet sie oder schiebt sie an. Das gelingt nicht, indem man bloß die politischen Antworten der Vergangenheit fortschreibt. Vielmehr stellen sich die Fragen: Wie bewahre ich in einer sich wandelnden Gesellschaft den Kern unserer Überzeugungen? Welche konkreten Schritte lassen sich aus unseren geistigen Wurzeln ableiten?
Insgesamt ist uns das, glaube ich, nicht schlecht gelungen: Zwar hat es in den vergangenen Jahrzehnten eine verstärkte Diskrepanz zwischen den einzelnen gesellschaftlichen und sozialen Gruppen gegeben. Doch zeigt sich etwa im Vergleich mit anderen europäischen Staaten, dass in Deutschland dank der Sozialen Marktwirtschaft erneut Integration geschaffen wurde.
Andere Parteien sind im Laufe der Jahre in die „Mitte“ gerückt. Daher fragt mancher, inwiefern die Orientierung an einer „Mitte“ noch ein Moment der Abgrenzung sein kann. Erst recht dann nicht, wenn – wie im Saarland – Große Koalitionen regieren. Drohen die Profile der Parteien nicht zu verschwimmen?
Annegret Kramp-Karrenbauer: Wie gesagt, ist die Orientierung an der Mitte eine Frage politischer Haltungen und Überzeugungen. Sie beinhaltet eine Orientierung an den Grundlagen unseres Staates, womit sich auch eine Absage an radikale und vereinfachende Politikentwürfe verbindet. Worin sich Parteien der „Mitte“ – insbesondere Volksparteien – von radikalen Parteien im linken und rechten Spektrum unterscheiden, ist nicht zuletzt das Bemühen, Politik im Sinne des Gemeinwohls zu gestalten und sich nicht nur darin zu gefallen, ein Sammelbecken für Protest zu sein.
Aus meiner Sicht wäre es eine überzogene Reaktion, wenn man angesichts mancher aktueller Diskussionen in Berlin generell Große Koalitionen ablehnen würde. Große Koalitionen sind dann sinnvoll, wenn sie sich auf ein klares Projekt geeinigt haben, an dem alle Partner mit dem gleichem Ehrgeiz arbeiten. Das ist im Saarland der Fall, indem wir gesagt haben: Wir arbeiten in der Großen Koalition zusammen, weil wir in schwierigen Situationen und Verhandlungen die Existenz des Landes sichern wollen. Wenn sich Große Koalitionen allerdings darauf beschränken, nur noch auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner zu agieren, dann bringen sie sich selbst ins Zwielicht. Wobei man mit Blick auf Berlin hinzufügen sollte, dass die dortige Große Koalition notwendig geworden ist, weil sich die Grünen einer Regierungsverantwortung entzogen haben.
Aktuell hat es den Anschein, dass allenthalben – nicht nur in Deutschland – die politischen Ränder an Attraktivität gewinnen. Ist der Drang zur Mitte an sein Ende gekommen?
Annegret Kramp-Karrenbauer: Nein, das ist er nicht. Das Gegenteil ist richtig: Das Bekenntnis zur Mitte und ihre Stärkung sind notwendiger denn je. Das aktuelle Erstarken der Ränder ist ein Reflex darauf, dass wir es insgesamt mit einem Lebens- umfeld zu tun haben, das immer komplexer wird. Eine verantwortliche Politik steht vor der Situation, dass sich auf vielschichtige Probleme nur schwerlich einfache Antworten finden lassen. Dem steht der Wunsch vieler Menschen gegenüber, in einer übersichtlicheren und einfacheren Welt zu leben. Das eröffnet Raum für diejenigen, die die Welt in schlichte Kategorien einzuteilen versuchen: in Schwarz und Weiß, in Gut und Böse.
Dabei gilt es, die Erfahrungen aus der Weimarer Republik sehr ernst zu nehmen, die nicht zuletzt an der Schwäche der demokratischen Mitte gescheitert ist. Das darf uns auf keinen Fall passieren.
Ist es dann nicht ein Alarmzeichen, wenn sich Union und SPD inzwischen mit Dreierkoalitionen zu arrangieren scheinen, weil Große Koalitionen nicht mehr die nötigen Mehrheiten haben?
Annegret Kramp-Karrenbauer: Das ist etwas, mit dem wir uns auf gar keinen Fall abfinden dürfen. Damit würden wir auf Dauer unseren Anspruch, eine Volkspartei zu sein, die für breite Schichten wählbar ist, aufgeben. Deswegen müssen wir immer wieder um Mehrheiten kämpfen. Insbesondere CDU und die SPD sind vor die Bewährungsprobe gestellt, in verantwortlicher Weise die Realitäten in einer sehr komplexen Welt zu gestalten. Das bringt mit sich, dass man nicht alles immer so politisch zuspitzen kann, wie es sich vielleicht das eine oder andere Parteimitglied bisweilen wünscht. Aber das große Thema der Volksparteien ist das verantwortliche Handeln und darauf sollten alle weiteren Überlegungen aufbauen.
In der SPD scheinen sich die Vorbehalte gegen Rot-Rot-Grün offenbar zunehmend zu verflüchtigen. Wie beurteilen Sie diese Tendenz?
Annegret Kramp-Karrenbauer: Ich sehe darin eine Tendenz, die vor allem aus der eigenen Schwäche der SPD heraus geboren wurde. Sie gibt extremen Kräften am linken Rand nach, weil man sich davon eine eigene Stärkung erhofft. Es ist eine große Verantwortung, die sich die Sozialdemokratie auflädt, sollte sie der Versuchung erliegen, aus kurzzeitigem Kalkül Kräfte von links außen an die Regierung zu bringen, denen es immer noch darum geht, die Grundkonstanten der Bundesrepublik Deutschland zu verändern.
Uns in der CDU sollte das mit Blick auf den rechten Rand eine Warnung sein! Keinesfalls sollten wir dem rechten Rand dadurch entgegenzutreten versuchen, indem wir seine Positionen in unsere Politik übernehmen. Es ist die Aufgabe aller Parteien der Mitte, ihr Bekenntnis zu den erwähnten Grundkonstanten zu verdeutlichen und darüber hinaus ihre sehr unterschiedlichen Profile zu schärfen.
Bringen die Ränder die von manchen vermisste Vielfalt in die Debatte zurück?
Annegret Kramp-Karrenbauer: Nein, das tun sie ja gerade nicht. Die Parteien, die – egal, ob links oder rechts – weit an den Rändern aufgestellt sind, bieten keine vernünftige politische Alternative, weil darin gar nicht ihr eigentliches Anliegen besteht. In Wirklichkeit wollen sie keine ernsthaften Vorschläge in den gesellschaftlichen und politischen Diskurs einbringen, sondern es geht ihnen darum, sich gegen das sogenannte „etablierte System“ abzugrenzen, Protest auszudrücken und bei Wahlen „einzusacken“.
Selbst die „bürgerliche Mitte“ sei „strukturell nervös und zukunftssensibel“, schreibt Karl-Rudolf Korte in unserer Zeitschrift. Würden Sie das bestätigen? Kann man das, womit wir es zu tun haben, als Ängste beschreiben?
Annegret Kramp-Karrenbauer: Ich erlebe die Situation als eher ambivalent. Auf der einen Seite gibt es eine „Mitte“, gerade auch eine junge Generation, die gute Chancen und Zukunftsaussichten hat – denken Sie an die Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt. Deutschland ist in den letzten Jahren, in denen es in Europa schwere Störungen im Wirtschaftsbereich gegeben hat, gut durch die Krise gekommen und hat es geschafft, auch wichtige Konstanten des politischen Handelns in Fragen der Finanzsituation wieder in geordnete Bahnen zu leiten. Viele Familien in der „gesellschaftlichen Mitte“, wenn man das so nennen kann, können heute rückblickend sagen, dass sie am wirtschaftlichen Wohlstand partizipiert haben.
Dennoch erlebe ich natürlich auch, dass es eine Verunsicherung gibt. Ich würde nicht sagen, dass es massive Ängste sind, aber es gibt sehr besorgte Fragen – insbesondere etwa von denjenigen Bürgerinnen und Bürgern, die sich jetzt in der sogenannten „Sandwich-Generation“ befinden, also Verantwortung für ihre Eltern und Kinder tragen. In den Gesprächen stelle ich fest, dass sie sich von dieser Situation oft überfordert fühlen und Sorgen haben, was die eigene Absicherung im Alter anbelangt.
Aber nicht nur Fragen nach der Erhaltung des materiellen Wohlergehens beschäftigen viele Menschen. Es geht auch um unsere Wertvorstellungen von individueller Freiheit, Gleichberechtigung oder Demokratie. Weltweit gesehen, stehen diese Ansichten in Konkurrenz zu ganz anderen Lebens- und Gesellschaftsentwürfen, etwa in stark islamisch geprägten Ländern. Aber unsere Antwort darauf kann kein Einigeln sein, sondern sollte von der Erkenntnis geleitet sein, dass wir in Europa mehr zu exportieren haben als nur Waren, dass wir gesellschaftliche Grundwerte unser eigen nennen und sie international vertreten. Unsere Grundwerte stehen in der Konkurrenz zu anderen Vorstellungen, und wir sollten uns weltweit verstärkt dafür einsetzen, dass sie sich durchsetzen.
Die Studien zur wirtschaftlichen Lage der Mitte bewegen sich zwischen Absturz und Stabilität. Wie ist Ihre Einschätzung?
Annegret Kramp-Karrenbauer: Die durchaus unterschiedlichen Ergebnisse der Studien machen mich eher etwas skeptisch und lassen es ratsam erscheinen, weder alles rosarot noch tiefschwarz zu zeichnen.
Wir haben Leistungsträger in unserer Gesellschaft. Und das sind längst nicht nur die in den Chef-Etagen, sondern das sind diejenigen, die Tag für Tag ihren Alltag stemmen und unser Land in den unterschiedlichsten Funktionen am Laufen halten. Andererseits beobachte ich in vielen Diskussionen, dass darunter viele das Gefühl haben, aus dem Blick der Politik geraten zu sein, und anmahnen, dass man sich mehr mit ihren spezifischen Problemen beschäftigt. Dieser Gruppe müssen wir deutlich machen, dass ihr die Politik Aufmerksamkeit schuldet. Das bedeutet beispielsweise konkret, dass wir bei der Weiterentwicklung unseres Steuersystems die Ungerechtigkeit der Kalten Progression beseitigen, die gerade für diese Gruppen eine Bestrafung ihrer Leistungsbereitschaft bedeutet.
Darüber hinaus gibt es beispielsweise auch die besondere Herausforderung für die jetzige und für die kommenden Generationen, was die Fragen der Vermögensbildung und der eigenen Alterssicherung anbelangt. Im Grunde ist unser Rentensystem mit seinen drei Säulen richtig aufgestellt. Nur muss man schauen, ob die drei Säulen in der richtigen Beziehung zueinander stehen. Dabei ist es ja so, dass die aktuelle Zinspolitik zwar einerseits die staatliche Schuldenlast verringert, andererseits aber massive Probleme für die Sicherung unserer Altersvorsorge mit sich bringt. Das sind Punkte, auf die wir Antworten finden müssen. Aber das sind sehr konkrete Fragen, auf die man auch konkrete Antworten geben kann. Das ist kein Hexenwerk.
Das Gespräch führte Bernd Löhmann am 12. August 2016.
Annegret Kramp-Karrenbauer, geboren 1962 in Völklingen, Landesvorsitzende der CDU Saar, seit August 2011 Ministerpräsidentin des Saarlandes.