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Hüseyin Bağcı über die Bedrohungslage in der Türkei

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Seit dem vergangenen Sommer wird die Türkei von einer neuen Terrorwelle erfasst. Erlebt das Land auch eine neue Dimension des Terrors?

Hüseyin Bağcı: In der Tat erleben wir eine neue Phase des Terrorismus in der Türkei! Zum ersten Mal seit Jahren hat die türkische Armee freie Hand. Die Regierung unterstützt die Operationen der Armee gegen terroristische Angreifer. Die PKK hat meiner Meinung nach das Vertrauen der türkischen Regierung und des türkischen Staates verletzt. Auf absehbare Zeit wird es wohl zwischen den Akteuren ausschließlich Kämpfe und keine Verhandlungen geben. Die Hauptstadt Ankara ist zum Ziel des Terrorismus geworden. Das ist sicherlich eine neue Dimension, und man erwartet dort weitere Bombenangriffe. Von Bedeutung sind die Entwicklungen im Nordirak, da diese die türkische Politik maßgeblich beeinflussen. Ob dies wieder einen Schritt zurück in alte Zeiten bedeutet, das weiß ich nicht. Was ich weiß, ist: Die Türkei bringt neue Technologien zum Einsatz, um die PKK zu bekämpfen. Und die PKK selbst nutzt ebenfalls aktuelle technologische Entwicklungen, von sozialen Medien bis hin zu neuen Waffengattungen, die man zuvor weder gekannt noch genutzt hat. Ja, wir haben es mit einer neuen Qualität des Terrorismus in der Türkei zu tun.

 

Was halten Sie von der Ankündigung des türkischen Staatspräsidenten, den Terrorismusbegriff auszuweiten?

Hüseyin Bağcı: Der Begriff „Terrorismus“ ist nicht erst jetzt ausgeweitet worden. Kennzeichnend für eine solche Umdeutung war bereits die Reaktion auf die Unterzeichnung einer Petition gegen die türkische Kurdenpolitik im Januar von mehr als tausend Akademikern, die als Unterstützung einer terroristischen Vereinigung gebrandmarkt wurde; gegen die Unterzeichner gab es teilweise sogar Strafen, wobei diese Sache noch nicht zu Ende ist. Das türkische Verfassungsgericht kann seine Kompetenz geltend machen und die letzten Entscheidungen treffen.

Diese neue Definition des Terrors könnte durchaus zur Ausweitung der Machtposition Erdoğans führen. Auf der anderen Seite erwarten die Menschen in der Türkei, dass massiver gegen den Terrorismus vorgegangen wird. Sie haben genug vom Terror und fordern, dass diejenigen, die mit dem Terror direkt oder indirekt verbunden sind, bestraft werden.

 

Könnten Sie für unsere deutschen Leser das terroristische Bedrohungsszenario in der Türkei skizzieren?

Hüseyin Bağcı: Die PKK ist eine Organisation, die aus drei Organen besteht. Zunächst existiert sie als militärische Organisation, dann als Partei, das ist die HDP, die über 59 Abgeordnete im Parlament verfügt, und drittens als Jugendorganisation KCK. Entscheidungen werden hauptsächlich durch den inhaftierten PKK-Anführer Abdullah Öcalan getroffen. Die militärische Seite der PKK hat den Friedensprozess in den letzten Jahren missbraucht. Die PKK, und das ist auch die allgemeine Wahrnehmung innerhalb der Türkei, möchte ihre Freiheit nicht auf demokratische, sondern auf gewaltsame Art und Weise erreichen. Das ist der Grund, warum die Türkei mit ganzer Kraft gegen die PKK vorgeht und weiterhin den Kampf führen wird. Die Bestrebungen der PKK zielen am Ende nicht auf eine Autonomie, sondern auf einen unabhängigen Staat. Deshalb entschieden Regierung und Staatspräsident, massiv gegen die PKK vorzugehen. Seit drei Jahren ist es nicht mehr vorgekommen, dass die Regierung die PKK mit solcher Härte bekämpft hat. Wenn man überhaupt eine Analyse wagen sollte, sehen wir die Ursache in einem vollständigen gegenseitigen Vertrauensverlust während des Friedensprozesses. Dieser hatte in der Türkei sehr große Hoffnungen geweckt und ist jetzt gescheitert. Ich denke, alle Beteiligten, sowohl die kurdischen Politiker als auch die PKK sowie die Regierung und der Staatspräsident, sind verantwortlich dafür, dass es nicht mehr weitergeht. Deswegen ist ein neuer Terrorismus, der jetzt in den Städten entsteht und der auf die türkische Regierung zielt, mit einem Aufstand vergleichbar. Allerdings nicht mit einem Volksaufstand, sondern mit einem Aufstand des militärischen Arms der Kurdenbewegung. Die PKK bleibt für die Türken eine terroristische Organisation, und die Regierung und der Präsident instrumentalisieren diese Zuschreibung, um ihre Politik fortzusetzen. Diese Entwicklung wird der Türkei, der Demokratie und auch der wirtschaftlichen Entwicklung der Region sehr schaden. Am Ende des Tages gibt es auf keiner Seite Gewinner.

 

Das würde bedeuten, dass die Aktionsweise der PKK auch der Kurdenpartei, der HDP, schadet?

Hüseyin Bağcı: Richtig! Die HDP ist eine Hoffnung für die nationalen Wahlen gewesen, und sie hatte mehr als vier Millionen Stimmen erhalten. Aber bei den Wahlen am 1. November 2015 sind ihr eine Million Wähler davongelaufen. Ihr Vorsitzender, Selahattin Demirtaş, war ein Politiker, der von allen gesellschaftlichen Gruppen sehr respektiert wurde; aber durch die militärischen Angriffe der PKK haben Demirtaş und seine Partei ihre Glaubwürdigkeit verloren. Die Friedensrhetorik der HDP wird nicht mehr ernst genommen. Ob sie wieder Unterstützung bekommen wird, ist eine große Frage. Aber wenn heute Wahlen wären, würde die HDP höchstwahrscheinlich aus dem Parlament ausscheiden.

Inzwischen ist es so, dass auch im Parlament gegen die HDP vorgegangen wird, indem man ihren Abgeordneten die Immunität entziehen will. Das ist eine Entwicklung, die vielen von uns noch starke Kopfschmerzen bereiten wird.

 

Worin liegen die Ursachen für die neue Terrorwelle und welche Rolle spielen der Krieg in Syrien und der Kampf gegen den IS auf der einen und militante Autonomiebestrebungen der Kurden auf der anderen Seite?

Hüseyin Bağcı: Die PKK hat eine längere Geschichte, seit 1984 kämpft die Türkei gegen die PKK. Was in Syrien und im Irak passiert, sind neue Entwicklungen, die aber Einfluss auf die Kurdenbewegung haben. Die PKK wird durch ihre jüngste Politik viel Sympathie nicht nur in der Türkei, sondern auch im Ausland verlieren; dort hatte sie während des Friedensprozesses große Sympathie genossen. Die Türkei wird keine Autonomie gewähren – das ist weder verfassungsgemäß, noch ist es politisch realistisch. Die Öffentlichkeit in der Türkei ist sehr verärgert über die PKK, die alle Friedenshoffnungen zerstört hat. Das heißt, die Türkei wird mit den Kurden im Norden Iraks zusammenarbeiten. Zu Talabani und Barzani gibt es hervorragende Beziehungen. Über 500 türkische Firmen mit über 35.000 Beschäftigten arbeiten dort. Da gibt es eine florierende Wirtschaft auf der Grundlage der Zusammenarbeit zwischen der Türkei und dem Autonomiegebiet im Norden des Irak.

Was den Dschihadismus und die ISIS angeht, so haben wir es hier mit einer umfassenden Problematik zu tun, die nicht nur die Türkei betrifft, sondern die ganze Region und ebenso den Westen.

 

Sehen Sie die Möglichkeit einer europäisch-türkischen Kooperation gegen den internationalen Terrorismus? Auch europäische Dschihadisten reisen über die Türkei zum IS.

Hüseyin Bağcı: Natürlich! In den letzten Jahren wurde die Türkei international so wahrgenommen, als ob sie die Islamisten in Syrien unterstütze und ein Auge zudrücke gegenüber den ausländischen Kämpfern, die über die Türkei einreisen. Tatsache ist aber, dass die Türkei seit 2014 mit dem Westen zusammenarbeitet; vielleicht ist sie sogar das einzige Land, das mit dem Westen im weitesten Sinne kooperiert. Gerade war der türkische Ministerpräsident in Brüssel und hat sich mit den europäischen Regierungsvertretern auf ein Flüchtlingsabkommen geeinigt; und auch den Kampf gegen den internationalen Terrorismus führt die Türkei mit Europa zusammen. Das Problem der Türkei, die sich immer noch als demokratische und offene Gesellschaft versteht, war in den letzten Jahren: Man durfte die Menschen nicht daran hindern, einzureisen. Alle diese ausländischen Kämpfer sind natürlich über die Türkei nach Syrien und in den Irak gegangen. Das ist Fakt, aber jetzt ergreift die Türkei neue Maßnahmen, zum Beispiel Grenzsicherungen. Es sind neue Mauern entstanden, es werden mehr AWACS und Beobachtungssatelliten eingesetzt, die Grenzen werden noch schärfer kontrolliert als vor ein paar Jahren. Es ist schwierig, eine Zahl zu nennen, wie viele Kämpfer durch die Türkei gereist sind, aber die Zahl wird zurückgehen, je intensiver die Türkei mit der Europäischen Union, aber auch mit Interpol kooperiert.

 

Der Kampf gegen den internationalen Terrorismus verbindet die USA und die Türkei. Andererseits unterstützen die Amerikaner die syrischen Kurden.

Hüseyin Bağcı: Die Amerikaner und die Türken haben unterschiedliche Interpretationen von der Kurdenproblematik. Das heißt, für die Türken sind die Kurden in Syrien „böse“, für die Amerikaner und Russen sind sie „gute Kurden“. Die PYG wird weiterhin in der syrischen Politik aktiv sein, auch bei den Verhandlungen in Genf. Die Verbindungen zwischen PYG und PKK sind inzwischen bekannt. Wir wissen, dass es organische Beziehungen gibt. Trotzdem ist die Frage, inwiefern man die Aktionen der Kurden in der Türkei und in Syrien vergleichen kann. Es ist eine historische Tatsache, dass die Kurden auf beiden Seiten miteinander verwandt sind. Die bestehenden Grenzen wurden erst nach dem Ende des Ersten Weltkrieges gezogen.

Aber interessanterweise sind die Kurden im Norden Iraks nicht auf derselben Linie mit der PKK, selbst wenn sich die Peschmerga und die PKK im Kampf gegen den IS gegenseitig unterstützt haben. Die nordirakischen Kurden unterhalten aber Beziehungen zur türkischen Regierung. Deswegen gibt es unter den Kurden keine einheitliche Meinung. Auch vor diesem Hintergrund wird es im mittleren Osten keinen kurdischen Staat geben, wohl aber einige Autonomiegebiete – im Irak und in Syrien. Aber die Iraner und Türken werden in ihren Grenzen keine Autonomiegebiete dulden.

 

Was bedeutet die terroristische Bedrohung für die Deutschen und für das deutsch-türkische Verhältnis? Das Auswärtige Amt rät auf seiner Homepage zu erhöhter Vorsicht.

Hüseyin Bağcı: Die Deutschen reagieren besonders sensibel. Die Schließung von deutschen Einrichtungen in der Türkei resultiert aus einem Bedrohungsgefühl, das sich aller Voraussicht nach nicht bewahrheiten wird. Würde sich der PKK-Terrorismus gegen Europa, besonders gegen Deutschland, richten, wäre das für die türkische Regierung eigentlich von Vorteil, weil die PKK dort sehr viele Sympathien verlöre. Das wissen alle Beteiligten. Und die deutsch-türkischen Beziehungen werden vom internationalen Terrorismus beeinträchtigt sein – und zwar auch so, dass man innerhalb der Türkei keine Instabilität will. Denn eine Instabilität in der Türkei würde sich – aufgrund der engen Sonderbeziehungen zwischen beiden Ländern – destabilisierend auch auf Deutschland auswirken. So gesehen, ist die türkische Regierung sicherlich der Gewinner dieser neu entstandenen Lage. Vieles – von der Pressefreiheit bis zur Meinungsfreiheit – wird vor dem Hintergrund des Terrorismus neu definiert und interpretiert, wie ich es bereits mit dem Begriff „Terrorismus“ beschrieben habe. Man muss abwarten, wie die türkische Gesellschaft, aber auch die extremistischen Kräfte darauf reagieren. Aber eines ist sicher: Die Türkei bleibt vorerst ein Ziel des PKK-Terrorismus und des internationalen Terrorismus. Das ist auch ein Grund dafür, dass die Türkei plötzlich als Schlüsselmacht einer Krisenregion angesehen wird, die verhindern könnte, dass der Terrorismus in großem Ausmaß nach Europa transferiert wird. Um das zu leisten, braucht man natürlich deutsche Hilfe und die Zusammenarbeit mit der Europäischen Union.


Hüseyin Bağci, geboren 1959 in Uzunköprü (Provinz Edirne, Türkei), Altstipendiat der Konrad-Adenauer-Stiftung, Professor für Internationale Beziehungen an der Middle East Technical University, Ankara (Türkei).

Die Fragen stellte Rita Anna Tüpper am 17. März 2016.

Die Thesen des Interviews werden in weiteren Beiträgen der kommenden Ausgabe zur Diskussion gestellt.

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