Herr Pöttering, vor rund zehn Wochen haben sich die Briten für den Austritt aus der Europäischen Union (EU) entschieden. Können Sie uns – nachdem der Pulverdampf weitgehend verflogen ist – eine Einschätzung der Dimension dieses Ereignisses geben?
Hans-Gert Pöttering: Der Ausdruck „Tragödie“ ist vielleicht übertrieben, aber es ist weit mehr als eine bedauerliche Entwicklung, dass ein Mitgliedsland anstrebt, die Europäische Union zu verlassen. Aus persönlicher Perspektive ist es eine der größten Enttäuschungen meines politischen Lebens. Der Vertrag von Lissabon lässt diesen Weg zwar explizit zu, aber niemand hätte sich bei seinem Abschluss vorstellen können, dass er je beschritten würde. Premierministerin Theresa May sagt: „Brexit ist Brexit“ – und das glaube ich leider auch. Die Konsequenzen für die Europäische Union sind schlimm, aber für Großbritannien werden sie schlimmer sein.
Wie konnte es so weit kommen?
Hans-Gert Pöttering: Gewiss gibt es nicht nur einen Grund für diese unglückliche Lage. Aber in der Konsequenz der Ereignisse begann die Entwicklung damit, dass David Cameron seine Tory-Abgeordneten im Europäischen Parlament aus der gemeinsamen EVP-Fraktion herausholen wollte. Ich habe damals ein langes Gespräch mit ihm geführt und gesagt, dass er dazu kein Recht habe. Aber er hat dieses Vorgehen gebraucht, um die Stimmen der Europaskeptiker im House of Commons zu gewinnen, damit er Parteivorsitzender werden konnte. Das heißt, die Europapolitik war für ihn schon damals ein Mittel zum Zweck.
Als Premierminister hat sich David Cameron über viele Jahre überaus kritisch zu Brüssel und seinen Institutionen positioniert. Eigentlich war nicht zu erwarten, dass man in einer Referendumskampagne von wenigen Monaten das genaue Gegenteil erreichen konnte – nämlich die Zustimmung zur Europäischen Union.
Unter diesen Voraussetzungen hätte David Cameron das Referendum nicht machen dürfen, aber er war von der Referendumsidee schon immer angetan. Zu einem früheren Zeitpunkt hatte er die Briten über den Vertrag von Lissabon abstimmen lassen wollen –, und zwar, als der Vertrag in Großbritannien ratifiziert war und die Königin die Urkunde unterschrieben hatte.
Mehrfach hat David Cameron also die Europapolitik zur Geisel seiner eigenen Vorstellungen und taktischen Überlegungen gemacht. Nun ist der „Brexit“ eingetreten, und Cameron ist dadurch zu einer tragischen Figur geworden.
Das negative Votum der Briten war ein Schock für alle Pro-Europäer – manche hoffen, ein heilsamer Schock, andere befürchten Schockstarre. Welche Richtungen und Tendenzen können Sie in der europäischen Debatte ausmachen?
Hans-Gert Pöttering: Es geht jetzt darum, den „Brexit“ so zu gestalten, dass auf der einen Seite Großbritannien keine zu großen Zugeständnisse bekommt, andererseits aber eine partnerschaftliche Zusammenarbeit zwischen der EU und Großbritannien möglich bleibt. Zwischen diesen beiden Positionen müssen wir Regelungen finden.
Der bevorstehende Prozess wird schmerzlich und schwierig. Aber der „Brexit“ ist nicht das Ende der Europäischen Union. Jetzt kommt es darauf an, dass die 27 Mitgliedsländer zusammenstehen und der Europäischen Union ein neues positives Projekt geben. Ich sehe es einerseits in der Stärkung der europäischen Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik und andererseits in einer europäischen Asyl- und Immigrationspolitik, die die Außengrenzen der Europäischen Union sichert, um so eine geordnete Zuwanderung zu ermöglichen, und die Freiheit des Personenverkehrs innerhalb der Europäischen Union – also die Schengen-Vereinbarungen – garantiert.
Wie gesagt, der „Brexit“ ist nicht das Ende der Europäischen Union. Aber wir müssen Konsequenzen aus ihm ziehen. In vielen Ländern der Europäischen Union gibt es die Bestrebung, die lokale, regionale oder nationale Politik zu stärken. Daher ist Subsidiarität ein Prinzip, über das wir intensiv nachdenken sollten: In großen Fragen muss die Europäische Union stark sein, in den Fragen, die vor Ort oder auf nationaler Ebene geregelt werden können, sollen sie auch dort gelöst werden!
Das ist, wenn es konkret wird, allerdings oft leichter gesagt als getan. Wie schwierig es ist, zeigen die aktuellen Beispiele der Freihandelsabkommen TTIP mit den USA und CETA mit Kanada. Dabei handelt es sich fraglos um eine „große Frage“, die alle gemeinsam angeht. Dennoch wurde darüber diskutiert, ob die Handelsabkommen allein durch die europäischen Institutionen ratifiziert werden sollen oder ob die Zustimmung der nationalen Parlamente hinzukommen soll. Wenn nun Letztere auch gefragt werden, dann könnte ein nationales Parlament den gesamten Vertrag unmöglich machen und für die gesamte Union entscheiden. Das heißt: Die Unterscheidung zwischen den „großen“ und den „begrenzteren“ Aufgaben hat es mit der Durchsetzung schwer. Gleichwohl halte ich sie prinzipiell für richtig.
Ist es richtig, dass es grundsätzlich zwei Positionen gibt: Die eine steht für ein weiteres politisches Zusammenrücken und die andere, wie vielleicht in Polen oder Ungarn, stellt das Nationale wieder stärker in den Vordergrund?
Hans-Gert Pöttering: Für mich gibt es drei Ebenen der Identität: die Heimat, das Vaterland, die Europäische Union und daneben eine Verantwortung für die Welt.
Diese drei Ebenen sollte niemand gegeneinander ausspielen, denn sie ergänzen sich. Wer nur die eigene Heimat sieht, wird irgendwann feststellen, dass er sie nicht allein schützen kann. Wer die eigene Nation über alle anderen stellt, wird zum Nationalisten – und Nationalismus führt zum Krieg. Und wer nur als Europäerin oder Europäer empfindet, hat keine Wurzeln.
Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik, die Sicherung unserer Außengrenzen, der Kampf gegen den Terrorismus – all das sind Aufgaben, für die der Nationalstaat allein nicht mehr in zufriedenstellender Weise einstehen kann. In diesen Fragen wird die Europäische Union gebraucht – und die Menschen erwarten das auch.
Aktuell ist die Problematik aber, dass die Bürgerinnen und Bürger viel Vertrauen in die Europäische Union verloren haben, weil diese durch ihre Mitgliedstaaten nicht so handlungsfähig ist, wie sie es eigentlich sein müsste. Sie kann aber immer nur handlungsfähig sein, wenn die Mitgliedstaaten diesen Weg mitgehen.
Um es an einem Beispiel deutlich zu machen: Auch Polen will mehr Zusammenarbeit: beim Schutz der Außengrenzen und im Bereich der Verteidigung – aus Furcht vor Russland. Wir müssen die Länder dort abholen, wo sie stehen. Mit Polen wie auch mit anderen Ländern sehe ich Chancen darin, Themen und Politikbereiche zu identifizieren, bei denen wir in überzeugenderer Weise europäisch zusammenarbeiten können.
Radikale Stimmen sagen, dass sich alles ändern müsse, und plädieren für einen totalen Neustart. Sie sind gewiss nicht der Ansicht, dass die teils als „Brüsseler System“ gescholtenen europäischen Institutionen ausgedient haben?
Hans-Gert Pöttering: Dieser Ansicht bin ich in der Tat nicht und möchte derartigen Thesen auch mit aller Entschiedenheit widersprechen: Einen Baum fällt man ja auch nicht leichtfertig, wenn er Schwachstellen hat. Sondern man wird alles tun, um die Schwachstellen zu beheben. Schließlich würde ein neuer Baum Jahrzehnte, vielleicht Jahrhunderte, brauchen, um zu wachsen. Die Europäische Union hat fraglos Unzulänglichkeiten, und Brüssel ist – wie Berlin, London oder Paris – gewiss nicht vollkommen. Aber die Europäische Union bewährt sich seit Jahrzehnten in dem Sinne, dass wir die Konflikte auf friedliche Weise lösen und gemeinsam den großen Herausforderungen der Zukunft begegnen wollen. So etwas lässt sich nicht von heute auf morgen neu aufbauen oder ersetzen.
Noch in der Generation vor mir führte die Durchsetzung der jeweiligen nationalen Position zu Gewalt und Kriegen. Heute ringen wir – gewiss teils in langwierigen Verfahren – aber vor allem friedlich und im Wege der Gesetzgebung um beste Lösungen. Dies alles zerstören zu wollen, würde nach meiner Einschätzung zum Nationalismus und zum Kampf aller gegen alle zurückführen.
Ist die Zeit reif für ein europaweites Verfassungsreferendum, wie es manche aktuell fordern?
Hans-Gert Pöttering: Ich hätte keine Bedenken, wenn ein solches Referendum europaweit ausgeschrieben und alle Stimmen zur „Stimme Europas“ zusammengezählt würden. Aber schon allein unser Grundgesetz ließe das nicht zu. Separat in den 27 Mitgliedsländern abstimmen zu lassen, hieße dagegen, dass am Ende vielleicht ein, zwei Länder das Fortschreiten Europas oder seine gemeinsame Politik verhindern könnten. Und weil man das nicht wollen kann, wird es bei dem jetzigen System bleiben, bei dem die europäischen und die nationalen Institutionen ihre jeweilige Rolle haben und sie hoffentlich so ausfüllen, dass sie sich nicht als Gegner betrachten, sondern sich gegenseitig ergänzen und unterstützen.
Die aktuelle Europa-Debatte wird mit einer Eliten-Diskussion verknüpft. Selbst Roland Koch beklagt, dass „sich Eliten und Bevölkerung voneinander entfernen“. Teilen Sie diese Wahrnehmung?
Hans-Gert Pöttering: Damit sprechen Sie ein Phänomen an, das nicht auf die europäische Ebene beschränkt ist, sondern auch die nationale, regionale und sogar die kommunale betrifft. Fraglos müssen wir darüber nachdenken, wie die Kommunikation zwischen den Gewählten und den Bürgerinnen und Bürgern verbessert werden kann. Das ist zunächst eine Bringschuld der politisch Handelnden. Aber es ist auch eine Holschuld der Bürgerinnen und Bürger, die in der Demokratie dazu aufgerufen sind, diese Lebensordnung durch ihr Engagement auszufüllen.
Zwar gibt es bewundernswertes bürgerschaftliches Engagement – Gott sei Dank etwa bei der Betreuung von Flüchtlingen –, aber auf der anderen Seite wird es beispielsweise immer schwieriger, Kandidatinnen und Kandidaten für kommunale Parlamente oder sogar für Bürgermeisterwahlen zu finden. Das heißt: Bei allem, was an der Kommunikation verbesserungswürdig ist, die Aufgabe liegt doch wesentlich tiefer, fordert die Institutionen der Politischen Bildung – wie die Konrad-Adenauer-Stiftung – heraus und sollte schon Gegenstand im Schulunterricht sein. Demokratie als Lebensform heißt Engagement, heißt auch, Verantwortung für Ämter zu übernehmen.
Ihr aktueller Nachfolger als Präsident des Europäischen Parlaments, Martin Schulz, beabsichtigt, sein Amt über die üblichen zwei Jahre hinaus fortzusetzen. Eigentlich ist doch jetzt nicht der passende Zeitpunkt für Personaldiskussionen in der EU, oder?
Hans-Gert Pöttering: Martin Schulz hat es mehr als jeder seiner Vorgänger geschafft, das Europäische Parlament in das Bewusstsein der Menschen zu bringen. Das begrüße ich nachdrücklich, aber es gibt seit jeher eine Vereinbarung zwischen den Fraktionen, gegenwärtig zwischen der Fraktion der Europäischen Volkspartei und der Sozialdemokratischen Fraktion, über die Amtsdauer des jeweiligen Präsidenten. Und diese Vereinbarungen, die nicht nur auf Handschlag beruhen, sondern konkrete Unterschriften tragen, sollten eingehalten werden. Die Europäische Union lebt davon, dass ihre Regeln respektiert werden und das Vertrauen nicht beeinträchtigt wird.
Zunächst gab es auf dem letzten EU-Gipfel keine öffentliche Erklärung zu TTIP. Dann wurde Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker vorgeschickt, um die Gespräche mit den USA voranzubringen. Jetzt erklären deutsche und französische Politiker das Abkommen für gescheitert. Was ist von diesem Durch- und Gegeneinander zu halten?
Hans-Gert Pöttering: Ich finde solche Stellungnahmen unverantwortlich. Die Verhandlungen werden noch geführt und man sollte doch bitte ihr Ergebnis abwarten, bevor man über sie den Stab bricht. Für die Bundesrepublik Deutschland und die Europäische Union sind partnerschaftliche, ja freundschaftliche Beziehungen zu den Vereinigten Staaten von Amerika von großer Bedeutung, und wir sollten alles fördern, was zu einer größeren Nähe zwischen der EU und den USA führt. Deswegen bin ich mit Nachdruck für TTIP.
Offenbar gibt es Risse zwischen Kommission und Rat und auch innerhalb des Rates. Muss einem nicht angst und bange werden, wenn ein zerstrittenes Europa in die Verhandlungen um den „Brexit“ geht?
Hans-Gert Pöttering: Unterschiedliche Meinungen in Institutionen sind nichts Ungewöhnliches. Das entspricht der Freiheit jedes Menschen. Am Ende geht es darum – und das ist der große Vorteil der Europäischen Union –, dass wir heute im Wege von demokratischen Verfahren entscheiden. Oft war das in der Vergangenheit die Einstimmigkeit, in vielen Fragen ist es heute die Mehrheitsentscheidung. Das ist etwas sehr Positives, dass wir in den meisten Fragen heute mit Mehrheiten entscheiden.
Was ist die Rolle Deutschlands, um mehr europäische Gemeinsamkeit zu erreichen?
Hans-Gert Pöttering: Deutschland ist nach Bevölkerungszahl und Wirtschaftskraft das größte Land der Europäischen Union und hat damit eine große Verantwortung für die Zukunft der Europäischen Union und darüber hinaus. Aber Deutschland darf nie dominierend auftreten, sondern Europapolitik bedeutet immer, dass alle – unabhängig davon, ob es sich um große oder kleine Staaten handelt – aus Überzeugung einen Weg mitgehen können und nicht deshalb, weil ein Land dominierend ist. Insofern wünsche ich mir, dass wir alle Länder der Europäischen Union immer einbinden, und dabei hat Deutschland eine vermittelnde Position. Führen ist in diesem Falle ein anderes Wort für Vermittlung, Diplomatie und Verständnis.
Die Briten scheinen im Moment trotz allem gut gelaunt: Der Konsum steigt, die Arbeitslosigkeit sinkt, in Umfragen steigt aktuell sogar die Zustimmung für den EU-Ausstieg. Was ist, wenn die gute Laune sich auf andere überträgt? Oder anders gefragt: Was heißt es für die Zukunft der Europäischen Union, wenn der „Brexit“ ein Erfolg wird, wie es Theresa May versprochen hat?
Hans-Gert Pöttering: Wir wissen nicht, was am Ende passiert. Was wird aus Großbritannien? Was wird Schottland tun? Schottland wie auch Nordirland haben gegen den „Brexit“ gestimmt, und Schottland möchte an die Europäische Union angebunden bleiben. Für Schottland hat die Europäische Union fast einen größeren Wert als die Kooperation mit England. Großbritannien muss zunächst einmal selbst auf diese Fragen eine Antwort finden, und ich glaube, dass das zu einer großen Belastungsprobe für die britische Innenpolitik wird.
Was die Europäische Union betrifft, habe ich bereits gesagt, dass es jetzt auf den Zusammenhalt der 27 ankommt. Andererseits müssen wir die Beziehungen der EU zu Drittstaaten – also zum Beispiel zu Norwegen, der Schweiz, der Türkei, der Ukraine und weiterhin zu Großbritannien – im Sinne einer Partnerschaft gestalten. Aber Partnerschaft bedeutet nicht, dass diese Länder die innere Entwicklung der Europäischen Union mitgestalten können. Wer draußen ist, ist draußen. Gleichwohl brauchen wir eine sogenannte kontinentale Kooperation, die man auch als privilegierte Partnerschaft bezeichnen könnte, mit den eben genannten Staaten.
Sie haben ein fast 600 Seiten starkes Buch über Ihren „europäischen Weg“ geschrieben, das demnächst in überarbeiteter Auflage erscheint. Welche Quintessenz würden Sie aus Ihren Erfahrungen ziehen?
Hans-Gert Pöttering: Es wird eine zweite Auflage meiner Erinnerungen „Wir sind zu unserem Glück vereint. Mein europäischer Weg“ geben. Dabei handelt es sich um eine in einigen Punkten erweiterte Auflage, die nun etwa auch die Frage der Beziehungen mit der Türkei oder den „Brexit“ anspricht. Meine politische Erfahrung durch 35 Jahre im Europäischen Parlament und durch andere Aufgaben ist: Es gibt immer einen Weg, voranzugehen, wenn man an die Zukunft glaubt. Dafür braucht es Entschlossenheit, dafür braucht es Mut, aber vor allem auch Geduld und das Vertrauen zwischen den politisch Handelnden. Wenn dieses Vertrauen da ist, dann wird es auch eine gute Zukunft für die Europäische Union geben. Das ist mein Wunsch für uns als Deutsche, aber auch als Europäer.
Hans-Gert Pöttering, geboren 1945 in Bersenbrück, Mitglied des Europäischen Parlaments (1979–2014), Vorsitzender der EVP-ED-Fraktion (1999–2007), Präsident des Europäischen Parlaments (2007–2009), Vorsitzender der Konrad-Adenauer-Stiftung.
Das Gespräch führte Bernd Löhmann am 1. September 2016.