Frau Ministerin, wie sehen Sie den Wirtschaftsstandort Deutschland beim Thema Künstliche Intelligenz (KI) aufgestellt?
Nicole Hoffmeister-Kraut: Ich sehe uns gut aufgestellt. Der wirtschaftliche Erfolg in Deutschland beruht maßgeblich auf den klugen Köpfen im Land. Auf Menschen, die mutig neue Wege gehen, innovative Ideen haben und diese umsetzen. Anhand der Zahl der Patentanmeldungen mit KI-Bezug sehen wir konkret einen Anmeldeboom. Deutschland belegt Platz zwei nach den USA. Eine gute Ausgangslage. Es geht jetzt darum, nicht den Anschluss zu verlieren.
In Baden-Württemberg haben wir uns frühzeitig und intensiv mit dem Thema KI befasst. Es gibt im Land bereits eine ganze Reihe von großen und auch mittelständischen Unternehmen, Start-ups, Hochschulen und Forschungseinrichtungen, die führend auf diesem Gebiet sind und die sich über das ganze Land verteilen. Das „Cyber Valley“ mit den Standorten in Tübingen und Stuttgart und der „Innovationspark AI“ (IPAI) in Heilbronn sind als Powertandem Leuchttürme in unserem KI-Ökosystem.
Welche Bedeutung messen Sie der Künstlichen Intelligenz als Innovationstreiber zu?
Der rasante Fortschritt von KI macht sie immer mehr zu einem Treiber für die wirtschaftliche Dynamik und Veränderung. KI hat längst Eingang gefunden in viele Produktionsprozesse der gewerblichen Wirtschaft, gerade im Anlagen- und Maschinenbau, in der Logistikbranche und im Dienstleistungssektor. Auch das Gesundheitswesen ist jetzt schon ohne den Einsatz von KI nicht mehr denkbar. Im globalen Wettbewerb in diesen Bereichen relevante Wertschöpfungsanteile zu gewinnen, muss unser Ziel sein.
Ende letzten Jahres haben Sie konstatiert, dass unser Wohlstand auf dem Fleiß und dem Erfindergeist mehrerer Generationen und der freien unternehmerischen Entfaltung beruht. Warum war es notwendig, darauf hinzuweisen?
Ich habe den Eindruck, dass diese Selbstverständlichkeiten eben nicht mehr bei allen selbstverständlich sind. In politischen Debatten wird mehr von Verteilungsgerechtigkeit als von Leistungsgerechtigkeit gesprochen. Man ist schnell dabei, neue Ansprüche für dieses und jenes zu formulieren, ohne zu bedenken, dass diese Ansprüche auch Beanspruchungen an anderer Stelle bedeuten. Anders gesagt: Was verteilt wird, muss erst einmal erwirtschaftet werden. In Zeiten des deutschen Wirtschaftswunders hatten wir eine Staatsquote von 35 Prozent. Der Wohlstand breiter Bevölkerungsschichten wuchs von Jahr zu Jahr. Heute beträgt die Staatsquote um die 50 Prozent. Der Wohlstand bröckelt, und die Wirtschaft stagniert.
In welcher Form sollen Bund und Land die Unternehmen bei der digitalen Transformation unterstützen?
Die Unternehmen im Land, gerade auch der Mittelstand, sind in den vergangenen Jahren deutlich digitaler geworden. Um die Wirtschaft in diesem Prozess zu unterstützen, habe ich 2017 gemeinsam mit mittlerweile 35 Partnereinrichtungen die Initiative Wirtschaft 4.0 Baden-Württemberg (IW4.0) ins Leben gerufen. Unter diesem Dach unterstützen wir die Unternehmen branchenübergreifend – von der Information, Vernetzung und Beratung über die Förderung von Forschung und Entwicklung bis hin zu einzelbetrieblichen Förderprogrammen. Durch die Förderung regionaler Anlaufstellen, wie der zwölf regionalen Digital Hubs und der sechzehn regionalen KI-Labs, erleichtern wir den Wissenstransfer von Forschung und Konzernen zu kleineren Unternehmen. Verschiedene Fördermaßnahmen des Bundes ergänzen dieses Programm.
Kann der Mittelstand, insbesondere kleinere und mittlere Unternehmen, Innovationssprünge durch KI aus eigener Kraft anstoßen?
Unser Mittelstand ist hochinnovativ und seit Jahrzehnten sehr erfolgreich. Das ist die Basis unseres Wohlstands. Viele tolle KI-Produkte und -Anwendungen werden von erfolgreichen kleineren und mittleren Unternehmen in Baden-Württemberg selbst entwickelt. Das liegt auch an der exzellenten Ausbildung von Fachkräften und der hervorragenden Wissenschaftsinfrastruktur in Baden-Württemberg. Gleichzeitig gibt es kleinere und mittlere Unternehmen, die unterschiedliche Unterstützungsangebote benötigen. Das ist mit Blick auf die vielen komplexen Entwicklungen bei den Themen Nachhaltigkeit und Digitalisierung, mit denen Unternehmen konfrontiert sind, nachvollziehbar. Daher richten wir unsere Fördermaßnahmen darauf aus, die Unternehmen in Baden-Württemberg passgenau zu unterstützen.
Ist ein nicht funktionierender Technologietransfer von der Wissenschaft und Forschung in die konkrete Anwendung ein Hemmschuh bei der Digitalisierung?
Das ist ein wichtiger Punkt. Wir sehen an vielen Stellen, dass es oftmals noch an der Umsetzung von Forschungsergebnissen in die Praxis hapert. Das betrifft im besonderen Maße die Digitalisierung und den Einsatz digitaler Technologien in betrieblichen Prozessen. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Unternehmen unterschiedliche Voraussetzungen haben, Innovationen zu entwickeln oder zu nutzen. Deswegen haben wir verschiedene Formate geschaffen: niederschwellige Beratungsangebote wie das „Pop-up Labor BW“ als mobile Innovationswerkstatt auf Zeit, fachbezogene Anlaufstellen oder unser Innovationsförderprogramm „Invest BW“, mit dem wir einzelne Betriebe fördern. Dabei unterstützen wir auch Kooperationen von Unternehmen untereinander sowie mit Forschungseinrichtungen und Hochschulen. Mit den Technologietransfermanagern unterstützen wir insbesondere Start-ups sowie kleine und mittelständische Unternehmen, die vor Ort in Kontakt mit Unternehmen treten und diesen Innovationspotenziale aufzeigen.
Welche Bedeutung haben Start-ups bei der Digitalisierung?
Start-ups sind ein zentraler Erfolgsfaktor für Baden-Württemberg. Sie tragen erheblich zur Steigerung der Innovationsfähigkeit unserer Wirtschaft bei und generieren aus neuen Ideen und Technologien ein Geschäftsmodell. Eine besondere Dynamik entfalten Start-ups bei der Digitalisierung: Laut dem „Deutschen Start-up Monitor 2023“ sind die meisten baden-württembergischen Start-ups im Bereich der Informations- und Kommunikationstechnologie tätig.
In Heilbronn wurde ein „Innovationspark AI“ etabliert. Was ist das Ziel dieses Innovationsparks?
Der „Innovationspark AI“ (IPAI) geht auf eine Initiative meines Hauses zurück. Mit dem IPAI entsteht mit einer Landesförderung von bis zu fünfzig Millionen Euro auf einem 23 Hektar großen Campus in Heilbronn ein europaweit führendes Ökosystem für KI. Im IPAI sollen KI-Produkte und -Lösungen entstehen, die nach europäischen Werten für die Bereiche Cybersicherheit, Datenschutz und Ethik entwickelt werden. KI-Talente, Forscher, Unternehmen, Start-ups und Investoren aus aller Welt werden dort exzellente Bedingungen vorfinden.
Wie wichtig sind ausländische Investoren für die Stärkung im wachstumsstarken Technologiefeld der Künstlichen Intelligenz?
Ausländische Investoren sind im Bereich KI sehr wichtig. Das Feld der großen Sprachmodelle zeigt beispielhaft, dass immer größere Investitionen notwendig sind, um wettbewerbsfähige KI-Produkte zu entwickeln und anzubieten. Dementgegen sind große Finanzierungsrunden in Deutschland eher selten. Ausländische Investoren können die Verfügbarkeit von (Risiko-)Kapital verbessern und durch ihre Investitionen gleichzeitig das Vertrauen in den KI-Standort Deutschland stärken.
Zusätzliches externes Kapital befördert unter anderem den Transfer von Technologie an private Unternehmungen und technologische Spill-over-Effekte in der Volkswirtschaft. Der Zufluss von Investitionen aus dem Ausland bedingt ein höheres Wachstum des volkswirtschaftlichen Outputs und der Beschäftigung. Der Nutzen ausländischer (Direkt-)Investitionen stößt jedoch an Grenzen, wenn dadurch keine adäquaten Verbindungen zur inländischen Wirtschaft hergestellt werden und diese vorrangig aus politisch-strategischen Gründen zur Transferierung von Wissen und zur Erlangung von Wettbewerbsvorteilen in innovativen Technologiebereichen für das Herkunftsland erfolgen. Es muss uns gelingen, mehr inländisches (Risiko-)Kapital durch Investitionen in Zukunftstechnologien wie KI zu aktivieren.
Und wie beurteilen Sie die Abhängigkeit der deutschen Wirtschaft von China und Taiwan, etwa bei Halbleitern?
Wir müssen uns der Tatsache stellen, dass die Weltwirtschaft immer weniger Markt- als vielmehr Machtfragen folgt – der Handelskonflikt zwischen den USA und China ist Ausdruck dessen. Wie wichtig es ist, Bezugsmärkte für Energieträger zu diversifizieren, haben wir erfahren müssen. Bei den Halbleitern verhält es sich ähnlich. Mit dem KI-Boom erleben wir einen steigenden Bedarf an hochleistungsfähigen Chips. Ebenso ist die Nachfrage nach Halbleiterbauelementen, die in Alltagsprodukten verbaut sind, ungebrochen. Kurzum: Ich halte die Absicherung und Wiedererlangung technologischer Souveränität für eines der zentralen Themen auf europäischer Ebene. Und dazu gehört die Schaffung geeigneter Rahmenbedingungen für den Aufbau neuer Produktionskapazitäten.
Wie steht es um die KI-Fachkräftegewinnung, sei es durch Ausbildung in Deutschland, sei es bei der Anwerbung internationaler Talente?
Wichtig ist, alle Potenziale zu nutzen. Dazu gehört die Stärkung von entsprechenden Studiengängen. KI wird nahezu alle Berufsbilder, auch die dualen Ausbildungsberufe, verändern. Zusatzqualifikationen werden immer wichtiger, zum Beispiel die von drei baden-württembergischen Industrie- und Handelskammern für Auszubildende entwickelte Zusatzqualifikation „KI und Maschinelles Lernen“. Und natürlich ist die KI-Weiterbildung der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zentral: Hier hat das Wirtschaftsministerium Baden-Württemberg bereits eine Reihe von Projekten gefördert. Die Zahl der ausländischen Beschäftigten in IT--Berufen hat sich in Baden-Württemberg in den vergangenen sieben Jahren mehr als verdoppelt. Das Gewinnen und Integrieren von ausländischen (KI-)Fachkräften wird in Baden-Württemberg durch unsere Welcome Center unterstützt.
KI wird die Arbeitswelt verändern. Welche Chancen sehen Sie, welche Risiken?
Wir befinden uns bereits in diesem Prozess und können feststellen, dass sich die Arbeitswelt mit beachtlicher Geschwindigkeit wandelt. Die Chancen sehe ich klar darin, die Produktivität zu erhöhen, indem Routineaufgaben durch Maschinen erledigt werden können und mehr Zeit für Tätigkeiten verbleibt, die Kreativität und Wertschöpfung beinhalten. Bezüglich der Risiken wird oft von Substitution der Arbeit durch Maschinen gesprochen, sodass Ängste um den Erhalt der Arbeitsplätze entstehen können. Ich bin mir sicher: Die Arbeit wird uns auch in Zukunft nicht ausgehen! Die Tätigkeiten werden sich verändern, neue Berufe werden entstehen.
Wird Künstliche Intelligenz unsere Arbeitszeiten beeinflussen und, wie manche hoffen, zu einer Vier-Tage-Woche führen?
Die Entwicklung der Arbeitszeiten ist von einer Vielzahl von Faktoren abhängig. Mit dem Aufkommen der Künstlichen Intelligenz kommt eine weitere Variable ins Spiel, deren Auswirkungen erst in Ansätzen bekannt sind. Es wird einerseits angenommen, dass der Arbeitsaufwand in Berufen mit einem hohen Systematisierungsgrad oder bei repetitiven Aufgaben deutlich geringer wird. In vielen anderen Berufen sind andererseits nicht so gravierende Auswirkungen zu erwarten, etwa im Handwerk oder in der Pflege. Eine pauschale Beantwortung dieser Frage ist derzeit kaum möglich.
Worauf müssen sich Arbeitnehmer in einer veränderten Arbeitswelt durch KI in Zukunft einstellen?
In der Arbeitswelt gibt es große Unterschiede bezüglich der Betroffenheit. In vielen Berufen sind Präsenz und Eigenleistung unabdingbar. Denken Sie zum Beispiel an das Handwerk oder die Gesundheitsberufe. Dennoch werden KI-Systeme in nahezu allen Bereichen Verwendung finden. KI ist eine Art digitales Werkzeug, mit dem wir lernen müssen, umzugehen. Vielfach können Nutzungen, die man aus dem privaten Bereich bereits kennt, in die Arbeitswelt Einzug halten. Wichtig für die Arbeitswelt ist dabei, dass niemand den Anschluss verliert. Daher müssen Fort- und Weiterbildungen noch stärker als bisher in den Fokus der eigenen beruflichen Lebenswelt gerückt werden.
Wie nehmen Sie die Gewerkschaften bei dem Thema Veränderung der Arbeitswelt durch KI wahr?
Auch die Gewerkschaften wissen, dass der Fortschritt in Form von KI in der Arbeitswelt viele Chancen beinhaltet und sich ohnehin nicht aufhalten lässt. Unsere Ökonomie, die für den Wohlstand unserer Gesellschaft sorgt, muss frühzeitig beginnen, die Technologie zu nutzen sowie eigene KI-Produkte herzustellen beziehungsweise weiterzuentwickeln. Dabei haben sich sozialpartnerschaftlich getragene Einführungsprozesse als sehr erfolgreich erwiesen. Einen intensiven Diskurs halte ich für wichtig. Im Kern besteht Einigkeit, dass richtig eingesetzte digitale Technologien die Arbeitsbedingungen verbessern können.
Lassen sich die zunehmende Digitalisierung aller Lebensbereiche und der Datenschutz noch miteinander vereinbaren?
Das muss gelingen. Der Schutz personenbezogener Daten ist ein hohes Gut, von dem wir nicht abrücken. Jedoch gewinnt die Nutzung dieser Daten in Wirtschaft, Wissenschaft, Verwaltung und Gesellschaft an Bedeutung. Damit die Datennutzung in fairer und verantwortungsvoller Weise erfolgt, müssen Datenökonomie und Datenschutz etwa mittels geeigneter Anonymisierungsverfahren miteinander in Einklang gebracht werden. Durch diesen Ansatz können wir es schaffen, die deutsche Wirtschaft zukunftsfest zu machen, um so den Wohlstand und die Arbeitsplätze zu erhalten.
Brauchen wir einen ethischen Rahmen für den Einsatz von KI?
Wie bei allen Technologien gilt auch bei KI, dass der Mensch im Zentrum der Technologie stehen muss. Dabei müssen wir vor allem die Chancen dieser wichtigen Technologie im Blick haben. Mit ihrem Gesetz über künstliche Intelligenz („EU AI Act“) schafft die Europäische Union ein Fundament für die Regulierung von KI, die größtmögliche Sicherheit und Transparenz – gerade für Anwendungen mit hohem Risiko – herstellt und so das Vertrauen in die Technologie und deren Akzeptanz stärkt. Das Anliegen, mit dem „EU AI Act“ Rechtssicherheit herzustellen, ist für unsere Unternehmen wichtig. Daher begrüße ich grundsätzlich die Verabschiedung des „EU AI Act“. Die Innovationskraft darf jedoch nicht über Gebühr beschnitten werden. Es ist mir sehr wichtig, dass bei der weiteren Umsetzung des „EU AI Act“ „mit Augenmaß“ vorgegangen wird: durch bürokratiearme Verfahren und europaweit gleiche Standards. Das ist mir insbesondere im Hinblick auf die kleineren und mittleren Unternehmen und Start-ups, die den Großteil unserer KI-Standorte ausmachen, ein großes Anliegen.
Das Interview führte Ralf Thomas Baus am 2. August 2024.