Herr Professor Hell, Sie sind als Schüler im rumänischen Banat in eine deutschsprachige Schule gegangen, die zeitweise auch Herta Müller besucht hat. Zwei Nobelpreisträger aus einem ähnlichen Umfeld – gab es dort Impulse dafür, dass sich außergewöhnliche Begabungen entwickeln konnten?
Stefan W. Hell: Das Umfeld und die Zeitumstände, insbesondere die Situation der deutschen Minderheit, haben eine Rolle gespielt. Zumindest glaube ich das. Einerseits hat diese Minderheit ums Überleben gekämpft, andererseits war das kommunistische System so repressiv, sodass absehbar war, dass Rumänien für junge Erwachsene keine faire Chance mehr bot; erst recht nicht für Angehörige von Minderheiten. Es gab zumindest unter der deutschen und der jüdischen Minderheit einen unausgesprochenen Konsens: Wer immer die Gelegenheit hat, das Land zu verlassen, sollte das auch tun.
Ein anderer Faktor war: Man gehörte zu einer Minderheit, und die meisten Eltern sowie Lehrer wollten ihre Kinder gut ausbilden. Man wusste auch, dass wir, wenn es geht, in den Westen gehen würden, und dass das Einzige, was zählt, im Kopf ist. Sie müssen wissen: 1945 hatte es eine ethnisch motivierte Enteignung gegeben, bei der die Deutschen ihr Eigentum verloren. Anschließend kam es zu ethnisch selektierten Deportationen in die Sowjetunion. Die Generation meiner Großeltern war davon betroffen.
Der rumänische Staat hat aber Minderheiten – vor allem gab es eine ungarische und eine deutsche – muttersprachlichen Unterricht zugestanden. Da ging ich in Sanktanna, einer Ortschaft mit rund 10.000 Einwohnern, in die Grundschule – von der ersten bis zur achten Klasse, mit Lehrern, die man kannte, und mit einem wirklich guten Unterricht. In der neunten Klasse wechselte ich nach Temeswar auf das Nikolaus-Lenau-Lyzeum, das ein paar Jahre vor mir Herta Müller besucht hatte. Eine ganz hervorragende Schule, das Top-Gymnasium für den Einzugsbereich für etwa 150.000 Banater Schwaben. Ambitionierte Eltern haben versucht, ihre Kinder da reinzubekommen, und entsprechend gut war der Unterricht. Ich war zwar nur neun Monate dort, aber ich wurde sehr motiviert: Ich habe an der „Physik-Olympiade“ teilgenommen, die sehr gut für mich gelaufen ist. Und es war der Appetit auf Physik, der mich damals „überkommen“ hat.
Die deutschsprachigen Schulen, nicht allein das Nikolaus-Lenau-Lyzeum, waren sehr gut – nicht zuletzt auch in Deutsch. Als ich am Ende der neunten Klasse nach Deutschland kam, ging meine Mutter – sie war selbst Lehrerin – mit mir zu einem Gymnasium in Ludwigshafen, um vorzufühlen, ob ich dort einen Platz bekommen könnte oder nicht. Der Direktor der Schule hat mich einer Klasse zugewiesen, in der der Klassenlehrer Deutsch unterrichtete. Er fragte zweifelnd, ob ich Deutsch spreche. Als er bemerkte, dass ich es tat, blieb er skeptisch: „Ja, aber wir schreiben Aufsätze, und da kommt er sicher nicht mit.“ Bereits an meinem ersten Schultag wurde eine Deutscharbeit geschrieben und der Lehrer meinte: „Du musst nicht mitschreiben, wenn Du nicht willst.“ Aber ich habe mitgeschrieben, und es wurde der beste Aufsatz – dabei waren das schon ein gutes Ludwigshafener Gymnasium und ein anspruchsvoller Deutschlehrer.
Dass man in Bildung investiert, wenn man zu einer Minderheit gehört, finde ich bemerkenswert.
Stefan W. Hell: Sie müssen bedenken, die meisten Minderheitendeutschen waren ursprünglich nicht reich, aber sie hatten ein gutes Auskommen, hatten nie gehungert. Dann kamen die Deportationen 1945 und die Enteignung. Die Lebenseinstellung, die diese Menschen hatten, war, dass man dennoch etwas machen will, dass man sich nicht abfindet. Das war bei den deutschen Minderheiten stärker ausgeprägt als in der Durchschnittsbevölkerung. Und das fand seinen Niederschlag auch in der Ausbildung der Kinder. Es lag im Interesse der Eltern, dass ihre Kinder in der Schule erfolgreich waren. Man hat sich zum Teil miteinander verglichen in der kleinen Ortschaft, man wollte nicht absteigen, sondern erfolgreich sein.
Später, Ende der 1980er-Jahre, schon in Deutschland, entwarfen Sie eine Theorie, die ein Wissenschaftspostulat umwarf: nämlich dass die Auflösung von Lichtmikroskopen nicht so begrenzt ist, wie bisher gedacht. Wie kam diese Idee über Sie, zementierte Lehrmeinungen infrage zu stellen?
Stefan W. Hell: Man hat gedacht, es sei aus elementaren Gründen nicht möglich, die Grenze im Lichtmikroskop zu erweitern. Da gebe es keinen physikalischen Effekt, der das zuließe. Ich hatte die Ahnung, die Grenze knacken zu können, wobei es aber nicht so war, dass ich das an einem Tag X entdeckt hätte. Sondern es war eine Intuition, dass da etwas drin sein könnte, dass vielleicht etwas vergessen oder übersehen worden sein könnte.
Diese Intuition kam aufgrund meiner relativ guten Ausbildung in Physik – beim Studium in Heidelberg, wo es möglich war, sich in das Fach zu versenken. Man hatte die Muße, das Gedankengebäude der Physik in sich aufzusaugen und sich sein eigenes Gedankengebäude zu errichten. Das heißt: Ich bekam ein gutes Gespür dafür, was in der Natur läuft.
Aufgrund dieses Wissens hatte ich die Intuition, ohne einen konkreten Hinweis zu haben. Ich gebe Ihnen mal einen Vergleich: In Australien gab es Ende des 19. Jahrhunderts einen Goldrausch. Darüber habe ich mal gelesen, dass diese Goldvorkommen von einer Person entdeckt worden seien, die vorher in Kalifornien Gold geschürft hatte. In Australien sagte sie sich: „Diese Landschaft erinnert mich sehr an Kalifornien, die Hügel und so weiter, da könnte eigentlich auch Gold sein.“ Da fing der Mann an zu graben und hat tatsächlich Gold gefunden. Das heißt, er wusste es nicht, aber sein Vorwissen hat ihm gesagt, da musst du suchen.
So ähnlich war es auch bei mir. Die anderen haben gar nicht daran gedacht, dieses Problem anzugehen. Das war für sie abgeschlossen. Für mich war es ein intuitiver, fast künstlerischer Akt zu denken: Da könnte etwas drin sein. Ich war nicht krankhaft überzeugt davon und habe auch das Scheitern als eine mögliche Option angesehen. Aber die Gründe, die dafür sprachen, haben mich dazu bewogen, es zu versuchen. Und natürlich war ich noch relativ jung: Mitte 20. Da ist man naturgemäß optimistisch.
Auf sehr viel Gegenliebe sind Sie mit Ihrer Theorie zunächst nicht gestoßen. Sie seien damals ein „Außenseiter“ gewesen, haben Sie gesagt. Warum war das so?
Stefan W. Hell: Lichtmikroskopie galt nicht mehr als Forschungsgebiet. Sie war kein kanonisches Feld mehr, wie zum Beispiel die Elementarteilchenphysik oder die Supraleitung in der Festkörperphysik. Da war die Skepsis verständlich: Ich habe in kein Raster gepasst und wollte ein altes Feld wieder aufmachen. Außerdem war mein Projekt schon ziemlich ungehörig, denn es hatte immer wieder Leute gegeben, die kamen und sagten: „So und so könnte es gehen!“ Aber dann hat man festgestellt, es ging so nicht. Immer war ein Haken dabei. Das heißt: Auf dem Papier gab es Versuche, doch sie sind in der Praxis alle gescheitert. Und deswegen hat man bei mir relativ leichtfertig gesagt: „Warum soll jetzt plötzlich ein Nobody dieses Problem lösen?“ Ich kam von keiner berühmten amerikanischen oder englischen Universität, ich hatte keinen Mentor. Dass da jemand kam und sagte: Diese Grenze knacke ich, blase sie weg, und später wird man zehnmal besser auflösen können – das klang schon ziemlich verwegen.
Hat das Stipendium der Konrad-Adenauer-Stiftung in dieser Situation geholfen?
Stefan W. Hell: Von 1984 bis 1987 war ich bereits als Student in der Studienförderung. Im August oder September 1987 habe ich mit meiner Doktorarbeit angefangen, hatte eine halbe Stelle als Doktorand. Da habe ich überlegt, ob ich mich für ein Promotionsstipendium bewerben soll – denn die Situation der Finanzierung war ziemlich schwierig: Ich habe meine Doktorarbeit in den Räumlichkeiten einer Ausgründung meines Doktorvaters gemacht. Da war ich zwar bei der Uni angestellt, bekam aber das Geld indirekt von dieser Firma. Ein Stipendium brachte mehr Sicherheit, und mit einem Diplom mit 1,0 sollte das wohl möglich sein. Auch mein Doktorvater sagte: „Stipendium! Hört sich immer gut an.“
Das Stipendium habe ich dann auch bekommen. Aber jetzt kommt der Knackpunkt: Ich war dann nicht mehr bei der Uni oder der Firma angestellt, hatte also weit mehr innere Freiheit als andere Doktoranden. Meine eigentliche Doktorarbeit hatte ja nicht die Auflösung in der Mikroskopie zum Thema, sondern ich musste schauen, ob Mikroskope geeignet sind, um Computerchips zu checken. Das fand ich langweilig und fing an, darüber hinaus nachzudenken: Kann man denn nicht etwas Cooleres im Themengebiet der Mikroskopie machen, als Computerchips zu checken? So kam ich auf die Auflösung.
Natürlich können Stipendien auch Nachteile haben – ich hatte beispielsweise keine Sozialversicherung. Aber für meinen späteren Lebensweg war es wegen der größeren Freiheiten positiv. Ich konnte stärker meinen Gedanken nachhängen, etwas Fundamentaleres in den Blick nehmen. Wenn ich seinerzeit stärker eingebunden gewesen wäre, technisch oder juristisch, wenn ich direkte Vorgesetzte gehabt hätte, die mich bezahlen, wäre es wahrscheinlich schwieriger gewesen.
Heute bin ich Direktor am Max-Planck-Institut und stehe oft vor der Situation, Stipendien an Doktoranden zu vergeben. Dann frage ich die Leute: Wollt ihr ein Stipendium oder wollt ihr eine halbe Stelle? Das Stipendium hat den Vorteil, dass es kein arbeitsrechtliches Verhältnis ist. Das heißt: Er oder sie kann kommen und gehen, wann er oder sie es will, und kann auch viel freier eigenen Dingen nachgehen. Das ist ein wichtiger Aspekt.
Nicht in Deutschland, sondern in Finnland konnten Sie Ihre Theorie weiter ausfeilen und schafften dort den Beweis, dass Sie richtig lagen. Sollte uns das mit Blick auf die deutsche Wissenschaftsförderung zu denken geben?
Stefan W. Hell: Jein – das kann man so nicht sagen. Zwar hatte ich in Deutschland keine Möglichkeit, meiner Grundidee nach der Promotion weiter nachzugehen. Über Laborbekanntschaften bin ich dann nach Finnland gegangen, habe mein Bauchgefühl mitgenommen und tatsächlich dort die fundamentale Idee gehabt, die mir letztendlich den Nobelpreis eingebracht hat. Doch beweisen konnte ich sie noch nicht, weil mir auch dort die Mittel fehlten.
Es wäre Unfug zu sagen: In Finnland ist alles generell besser als in Deutschland. Aber damals herrschte in Finnland eine sehr positive Grundstimmung gegenüber der Forschung. Nokia kam langsam auf, und in Finnland hat man einfach ein Handy in die Hand gedrückt bekommen, das war damals in Deutschland noch selten. Als ich zum ersten Mal auf Besuch zurückkam und mit einem Handy telefonierte, haben die Leute mich komisch angeguckt.
Trotz aller Schwierigkeiten haben Sie, wie es scheint, inzwischen Ihren Frieden mit dem Wissenschaftsstandort Deutschland gemacht. Sogar einen Ruf nach Harvard haben Sie abgelehnt. Hat man Sie damals unter Ihren Wissenschaftlerkollegen für verrückt erklärt?
Stefan W. Hell: Ich habe auch Positives erlebt. Die Wissenschafts-Community sagt zum Beispiel gerne: „Lasst nicht die Politiker, sondern die Wissenschaft entscheiden, was wir machen!“ Das ist im Großen und Ganzen richtig. Die Deutsche Forschungsgemeinschaft DFG, die aus guten Gründen unter Selbstverwaltung durch Wissenschaftler steht, hat dadurch aber auch Schwächen. Und eine Schwäche ist die Gefahr, dass eher der Mainstream unterstützt wird. Forschungsprojekte werden von der Community genehmigt, und die Community unterstützt eher das, was sie gut findet, und eher weniger einen Außenseiter. Zwar gibt es Leute, die darauf achten, dass das nicht passiert. Aber tendenziell ist es so.
Das war einer der Gründe, weshalb ich zunächst nicht Fuß fassen konnte. Als ich dann nach Deutschland zurückkam, ging ich nach Göttingen, weil es dort ein paar Leute gab, die gemerkt haben, dass das, was ich mache, interessant ist. Damals, 1998, habe ich über den Verband Deutscher Ingenieure (VDI) Mittel des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF) beantragt, weil ich nicht genügend Grundausstattung hatte. Die Gutachter haben das Projekt aber abgelehnt, weil sie meinten, es werde nicht funktionieren. Im BMBF hat der Verantwortliche aber den Antrag durchgelesen und gesagt: „Das ist die einzig wirklich interessante Idee. Wenn der Hell Gründe angibt, weshalb die Ablehner Unrecht haben, kriegt er das Geld dennoch!“
So ist das vor sich gegangen. Deshalb kann man das System nicht verurteilen. Wichtig ist, dass es immer Leute gibt, die nachdenken und sagen: Da ist etwas Originelles und dem müssen wir eine Chance geben.
Harvard ist sicher eine tolle Institution, ich habe großen Respekt vor ihr, auch vor den Leuten dort, aber – es wird oft nicht wahrgenommen: Wir in Deutschland haben in den Max-Planck-Instituten auch eine Qualität, wie es sie in Harvard gibt. Nach Harvard zu gehen, ist insofern nicht immer zwingend notwendig.
Als Ihnen 2014 der Nobelpreis verliehen wurde, hat sich ganz Deutschland mit Ihnen gefreut. Dennoch bleiben die Deutschen wissenschafts- und technikskeptisch. Fehlt Deutschland die Innovationsbereitschaft und die Lust am Neuen?
Stefan W. Hell: Auch das kann man nicht pauschal sagen. Die Grundstimmung gegenüber Forschung und Technik erscheint mir relativ positiv. Dennoch wünschte ich mir, die Leute würden mehr wahrnehmen, wie wichtig Forschung und Technik für ihr tägliches Leben sind. Das wird oft unterschätzt. Wenn man zum Arzt geht und eine Krankheit hat, hofft man, dass er etwas dagegen machen kann. Aber das ist höchst abhängig vom wissenschaftlichen Fortschritt.
Der Exzellenzgedanke, die Förderung von Spitzenforschung, wird politisch immer wieder infrage gestellt. Das Gegenmodell lautet „Exzellenz in der Breite“. An was denken Sie, wenn es 2016 darum geht, die Exzellenzinitiative fortzuführen?
Stefan W. Hell: Meine Message ist: Man soll auch in der Breite fördern, aber nicht verkennen, wie wichtig die Exzellenz dabei ist. Wenn man die Spitze fördert, hat das enorme Auswirkungen auf die Breite. Die Spitze zieht die Breite mit hoch. Man kennt es aus anderen Zusammenhängen: Es braucht immer ein paar Topleute, die hoch motiviert und talentiert sind, um etwas voranzubringen und die die anderen mitziehen.
Als ich im Arbeitsausschuss Bildung und Forschung befragt wurde, habe ich auf die Frage eines SPD-Abgeordneten hin gesagt: „Verkennt nicht, was die Spitze macht! Es ist nicht so, dass das alles isoliert arbeitende Leute sind, die sich am Ende alleine feiern lassen. Nein, im Erfolg ziehen sie die anderen mit. Fußball ist ein sehr gutes Beispiel: Zwei, drei Spieler vom FC Bayern – Robben, Müller, Neuer – sind Stars in der Mannschaft, und es siegt doch das ganze Team.“
Stefan W. Hell, geboren 1962 in Arad (Rumänien), von 1984 bis 1987 Stipendiat der Studienförderung und von 1989 bis 1990 der Promotionsförderung der Konrad-Adenauer-Stiftung, Direktor am Max-Planck-Institut für biophysikalische Chemie in Göttingen, 2014 Nobelpreisträger für Chemie.
Das Gespräch führte Bernd Löhmann am 16. Juli 2015.