Asset-Herausgeber

Neues Erzählen im Anthropozän

Asset-Herausgeber

Was ist mit Gott, wenn es keinen Menschen mehr gibt, der sich eine Schöpfung ohne Schöpfer nicht denken kann? Wo würde der Mensch leben, wenn er allein wäre auf der Welt? Und wie kann sich die Schöpfung der Gewalt erwehren, die Menschen ihr antun? Diese Fragen entstammen Max Frischs Der Mensch erscheint im Holozän. Seine kurze Erzählung, 1979 erschienen, bündelt zentrale Fragen des Nacheiszeitalters, das erdgeschichtlich mit der Klimaerwärmung beginnt. Im Mittelpunkt des mit Lexikonzitaten und Tagebuchnotaten ausstaffierten Textes steht ein einziger Mensch. Herr Geiser lebt einsam in einem Alpental, ohne Strom, die Straßen sind überschwemmt, ihm bleiben nur Bücherwissen und Erinnerungen.

Frischs Erzählung ist eine kleine Apokalypse. Sie sagt ein schlimmes Ende voraus, das sich unaufhaltsam nähert. Solche Dystopien bezeugen von Thomas Hobbes bis Aldous Huxley eine Zukunft, die auf eine Katastrophe hinausläuft. In den biblischen Apokalypsen, im Buch Daniel und in der Offenbarung, steht der Untergangsprophezeiung verlässlich eine Erlösungshoffnung entgegen. Die Literatur und später der Film sind da weitaus skeptischer. Was passiert eigentlich im gegenwärtigen Erzählen, wenn die Welt im Zeichen ihrer Zerstörung gezeigt wird? Die Nachkriegs- und Atomkriegsapokalypsen aus der letzten Jahrhunderthälfte scheinen ausgedient zu haben. Es geht nicht mehr bloß darum, ein katastrophisches Ereignis vorwegzunehmen. Die Künste werden zu Lieferanten für narrative Deutungsmittel in polykritischen Zeiten. Im Schreiben über Populismus und Pandemie, über Krieg und Klimawandel werden Konfliktkonstellationen, Konfliktdynamiken und Modi der Konfliktregelung angesichts jener „agonalen Pluralitäten“ entwickelt, mit denen sich seit 2022 eine neue Forschungsgruppe an der Universität Münster beschäftigt.

Neu ist das Interesse am forschenden Erzählen dieser Krisenballungen im Framing des Anthropozän. Dieses Wort ist, seit es der Atmosphärenchemiker Paul Crutzen im Februar 2000 auf einer Klimakonferenz in Mexiko benutzte, als geohistorischer Epochenbegriff, als Denkbild für eine globale Krise, als Bruchlinie im Zyklus von Umwelt und Mensch, als kulturwissenschaftlicher Schlüsselbegriff verstanden worden. Doch es ist in mehrfacher Hinsicht ein Regenbogenbegriff, scharf konturiert aus der Ferne, Sprühregen bei Nahem besehen. Wie lässt sich eigentlich vom Menschen als geobiologischem Akteur erzählen? Welche Auswirkungen haben Klimawandel, Artensterben und Erderwärmung auf die Literatur? Und warum ist es wichtig, angesichts dieser Auswirkungen anthropogener Umweltveränderungen auf menschliche Kulturen manche Fragen an die Künste umzuadressieren?

 

Subjekt und „Nature Writing“

 

Das Erzählen im Anthropozän spielt eine doppelte Rolle, je nachdem, ob man (deskriptiv) Plotline, Setting und Figuren betrachtet oder (normativ) untersucht, was die Künste auf die Phänomene von Entanglement (der Verflechtung menschlicher und nichtmenschlicher Lebenswelten), von Latency (dem Verhältnis von Wissen und Nichtwissen) und dem Clash of Scales (der Unvereinbarkeit geophysikalischer Ordnungssysteme) zu entgegnen wissen. In jedem Fall ist der so entstandene Ecocriticism aus dem geschärften Blick für den gefährdeten Zusammenhang alles Lebendigen und die dynamischen, nichthierarchischen Wechselwirkungen zwischen Organismen hervorgegangen. Er liefert ein Modell für das nature writing, eine poetische Schreibpraxis, die ihre Verwicklung in die Natur und die „Involviertheit des schreibenden Subjekts in ökologische Zusammenhänge“ mitbedenkt, wie Heinrich Detering, Literaturwissenschaftler an der Universität Göttingen, schreibt: „Das schließt den schreibenden Körper ein, der die beschriebenen Phänomene zuerst als sinnliche Eindrücke wahrgenommen hat; es schließt Affekte und Emotionen ein, die sich mit ihnen verbinden; es umfasst die emotionalen Begleitumstände der argumentativen Reflexion ebenso wie ihre moralische Bewertung, ihre Wirkungsabsichten und ihre Adressierung, Schmerz und Lust, Entzücken und Schaudern, Schöpfungslob und Sorge um die Störbarkeit der Schöpfung, die Absicht einer emotionalen Wirkung auf Lesende ebenso wie den Wunsch nach Selbstaussprache.“

Natürlich ist dieses neue Erzählen im Anthropozän nicht vom Himmel gefallen. Seine Ursprünge reichen in das 18. und 19. Jahrhundert zurück. Die Entdeckung des dynamischen Zusammenhangs von Pflanzen, Tieren und Menschen wurde zur Grundlage eines Weltbildes, das im Zeichen der „Ökologie“ steht. Geprägt hat diesen Begriff 1866 der Zoologe und Mediziner Ernst Haeckel, der damit die Koevolution von Mensch und Natur monistisch vereinen wollte, aber auch sozialdarwinistisch von einer Trennung der „Menschenrassen“ ausging, womit er der nationalsozialistischen Ideologie zuarbeitete. Doch das Zutrauen in die poetische Erschaffung einer vom Menschen wahrnehmbaren und staunenswerten Natur, das für die „Menschen im Weltgarten“ der Goethezeit etwas bahnbrechend Neues war (Detering), nahm im Zuge der ungeheuren Beschleunigung des technischen Fortschritts, der Mobilisierung der Verkehrswege, der Landgewinnung durch Waldrodung und Bewässerung rapide ab. Die Landschaft wurde zur Umwelt, oft im Gewaltakt.

 

Biopoetisches Denken

 

Das Anthropozän kommt heute als epochale Selbstdiagnose in die Literatur. Wenn die Menschen die Natur unumkehrbar verändert haben, dann muss sich auch das Schreiben über die Natur kategorisch verändern. Es kommt zu einer Entdifferenzierung von Mensch und Umwelt, zu einer Entkopplung von Unschuld und Natur, zu einer Entgrenzung poetischen und metapoetischen Sprechens. Pflanzen oder Tiere beteiligen sich am Erzählen, aber jenseits von allegorischen Sinnbildungen. Sie drücken jene fundamentale Verfremdung von Mensch und Natur aus, die der Journalist Thomas L. Friedman bereits im Februar 2010 in der New York Times im Wortspiel mit global warming als „global weirding“ – „globale Verrücktheit“ – bezeichnet hat. Was die Dichter ausgestorbene Pflanzen- und Tierarten auf diese neuartige Weise sagen lassen, gehört in ein Konzept des biopoetischen Denkens, das für die Schreibenden wie die Lesenden gleichermaßen gilt. Die Erzählungen im Anthropozän sind, so argumentiert der Literaturwissenschaftler Christian Metz, „Versuchslabore für Entscheidungs- und Urteilsfindung“. Sie fragen, was wir eigentlich wissen können von den Dingen, die wir sehen.

Was geschieht, wenn sich die Menschheit selbst abschafft und wenn „das Epos der genetischen Unnatur seinen unnatürlichen Gang gegangen war“? Dietmar Daths für die Shortlist des Deutschen Buchpreises 2008 nominierter Roman Die Abschaffung der Arten entwirft ein hochspekulatives Zukunftsszenario. Nach ökologischen und biogenetischen Menschheitssünden gehört die Welt den sprachbegabten und leidensfähigen Tieren. Trotzdem herrscht ein unbarmherziger Krieg der Welten, wie bei H. G. Wells. Der das Stadtstaatensystem lenkende Löwe fällt einem Attentat des Wolfes zum Opfer, die Tiere müssen sich hochintelligenter Maschinen erwehren, ein menschenähnlicher Erlöser namens „Feuer“ wächst heran und findet einen letzten Menschen in einem rudimentären Paradies.

Katastrophisches Erzählen praktiziert ebenso Thomas von Steinaeckers Roman Die Verteidigung des Paradieses (2016). Er bevölkert das auch von Reinhard Jirgl, Thomas Glavinic und Dietmar Dath durchgespielte Endzeitszenario „Last men on earth“ mit einer kleinen Gruppe, die nach einem apokalyptischen Ereignis eine Zwangsidylle in der Schweiz behaust. Wir beobachten, wie die Gemeinschaft durch ein verheertes Europa flieht. Es sind Flüchtlinge auf der vergeblichen Suche nach einem neuen Paradies. Steinaeckers Abenteuer­, Zombie- und Zukunftsroman entwirft ein dunkles Anthropozän.

Düster geht es auch in Juli Zehs jüngstem, gemeinsam mit dem Journalisten Simon Urban verfassten Roman Zwischen Welten (2023) zu. Er gehört zu der Reihe kulturkritischer Erzählungen, mit denen die Autorin präapokalyptische Szenarien in die Gegenwart der brandenburgischen Provinz stellt: Populismus und Pandemie spielen in Unterleuten (2016) und Über Menschen (2021) eine Rolle, in Zwischen Welten sind es der Stadt wie Land umwälzende Klimawandel und der russische Angriffskrieg in der Ukraine.

Ein Journalist in Hamburg und eine Biobäuerin in Brandenburg kämpfen mit je eigenen Mitteln gegen die „Verhinderung der Apokalypse, in klimatischer, sozialer, pandemischer und zur Not auch militärischer Hinsicht“ – und sie kämpfen gegeneinander: in E-­Mails, WhatsApp­-Nachrichten und verunglückten Begegnungen. Der eine weigert sich, zu lernen, dass journalistisches Schreiben übers Anthropozän kein Vorsingen im Meinungskonzert ist, die andere gerät in den Bannkreis von radikalen Klimaaktivisten und erliegt dem „Anglerfisch-Syndrom“, das darin besteht, nur der Laterne vor dem eigenen Kopf zu folgen, im Konfrontationskurs aufs eigene Schicksal. Am Ende steht die hilflose und von den Ereignissen im Roman überholte Einsicht: „Vielleicht ist Glücklichsein in Zeiten der Apokalypse der wahre politische Akt?“

Das Neuartige am Erzählen im Anthropozän besteht nicht darin, wie die Natur im Krisenmodus beobachtet wird. Es kommt darauf an, die Krise selbst als Beobachtung zu verstehen, die Formexperimente aushält und ihrerseits Bedeutungen produziert, wie die amerikanische Anthropologin Janet Roitman schreibt. In diesem Sinne kann man den Titel von Max Frischs postapokalyptischer Erzählung auf den Kopf stellen. Es ist das Anthropozän, das im Menschen erscheint, wenn sie von der Verflechtung menschlicher und nichtmenschlicher Lebenswelten, von dem latenten Verhältnis unseres Wissens und Nichtwissens darüber und von einem erschütterten weltklimatischen Setting als eigentlichem Protagonisten so erzählen, dass es nicht mehr auf eine einfache ‚gute Story‘ hinauslaufen kann.

 

Michael Braun, geboren 1964 in Simmerath, Literaturreferent der Konrad-Adenauer-Stiftung, außerplanmäßiger Professor für Neuere Deutsche Literatur und ihre Didaktik, Universität zu Köln.

comment-portlet