Immer wenn ich die polnisch-deutsche Grenze überquere, die ohne Kontrollen heute im Grunde nur noch eine formale Linie darstellt, fühle ich mich als freier Europäer. Ich erinnere mich an die großen europäischen Revolutionen nach 1989, die uns zu dieser friedlichen Offenheit geführt haben. Als Jugendlicher habe ich noch eine komplett andere Realität erlebt, einen durch den Eisernen Vorhang geteilten Kontinent. Wenn ich in diesen Tagen an der Oder die Grenze passiere, dann fühle ich aber nicht nur Freude, sondern mich erfasst immer mehr auch ein neues Gefühl innerer Unruhe.
Ich frage mich seit einiger Zeit, wie dauerhaft dieser Zustand ist, wie beständig diese friedliche Offenheit, die für meine Generation von Polen und Deutschen zum selbstverständlichen Alltag wurde. Mich bedrängt die Frage, ob der abnehmende Wille vieler Bürger, die nationale und europäische Identität miteinander zu verbinden, ob das neue Misstrauen gegenüber unseren Nachbarn und die nationalistische Rhetorik, ob all diese Faktoren in nächster Zeit zurück zu einem Mitteleuropa führen werden, das nach 1989 Geschichte zu sein schien. Ein Kontinent der geschlossenen Grenzen, Köpfe und Herzen scheint wieder real zu sein.
Wenn ich mich an 1991 und den damals am 17. Juni unterzeichneten deutschpolnischen Vertrag über gute Nachbarschaft und freundliche Zusammenarbeit erinnere, wird mir bewusst, dass meine Generation sein Zustandekommen vor 25 Jahren als selbstverständlich ansah. Die allgemeine Atmosphäre der Wendejahre ließ keinen Zweifel darüber zu, dass sich Europa in Richtung Demokratie, Freiheit und Frieden bewegen würde.
Signalwirkung für Europa
Das Abkommen stellte einen Neuanfang dar, denn der Vertrag charakterisierte die Beziehungen beider Nationen als eine Werte- und Interessengemeinschaft und formulierte das gemeinsame Ziel des Beitritts Polens zur westlichen Gemeinschaft – und dies zu einem historischen Zeitpunkt, als der Warschauer Pakt und die Sowjetunion formell noch Bestand hatten. Diese im Abkommen skizzierten großen Visionen wurden von den politischen Eliten beider Länder nach 1991 konsequent verfolgt. 1999 wurde Polen NATO-Mitglied, 2004 trat es der Europäischen Union (EU) bei. Aus verfeindeten Nationen wurden innerhalb weniger Jahre militärische, politische und ökonomische Partner.
Der Nachbarschaftsvertrag hatte zwar bilateralen Charakter, doch seine Signalwirkung für Europa ist nicht zu unterschätzen. Gemeinsam mit dem deutschpolnischen Grenzvertrag von 1990 und dem Zwei-plus-Vier-Vertrag von 1990 bildete der Nachbarschaftsvertrag die Grundlage für die Errichtung einer neuen politischen Ordnung Europas, die auf den Trümmern von Jalta entstand. Diese Abkommen gaben in den Revolutionszeiten der europäischen Politik Halt und Orientierung, halfen, die Dynamik zu kontrollieren, den friedlichen Charakter der Veränderungen zu sichern.
EU-Beitritt trotz Skepsis in Deutschland
Wenn man die letzten 25 Jahre bilanziert, so muss man feststellen, dass Deutschland und Polen großen Nutzen aus der bilateralen Kooperation zu ziehen vermochten. Beiden Nationen gelang es dank der bilateralen Zusammenarbeit, politisch und ökonomisch ihre Stellung in Europa zu stärken. Ein Höhepunkt des letzten Vierteljahrhunderts war der EU-Beitritt Polens im Jahr 2004, der erhebliche Auswirkungen auf die Beziehungen Polens und Deutschlands zueinander hatte. Man sollte sich dabei ins Gedächtnis rufen, dass in den Jahren vor Polens Beitritt ein großer Teil der deutschen Gesellschaft gegen die Mitgliedschaft Polens gewesen ist.
Meinungsumfragen gaben damals ein sehr widersprüchliches Stimmungsbild ab. Die deutsche Gesellschaft unterstützte zwar die EU-Erweiterung, nahm aber zu jedem Kandidaten eine andere Haltung ein. Sie befürwortete den Beitritt Ungarns und der Tschechischen Republik, jedoch nicht den Polens. Es war ein nicht zu unterschätzender Akt politischer Zurückhaltung der deutschen Parteien, dass sie diese kritische Haltung zu Polen nicht instrumentalisierten. Die deutsche Elite handelte hier zukunftsorientiert, nicht im Einklang mit der öffentlichen Meinung, weil sie wusste, dass die Aufnahme Polens in die EU Deutschlands Interessen dienen würde. Die deutsche Politik hielt auch noch an der EU-Osterweiterung fest, als es wegen des Irak-Kriegs und der europäischen Verfassungsdebatte zur ersten Krise in den deutsch-polnischen Beziehungen kam.
2003 unterstützte Polens sozialdemokratische Regierung im Gegensatz zu Berlin die von den USA initiierte militärische Intervention im Irak. Politiker der „Bürgerplattform“ (Platforma Obywatelska, PO) und der Partei „Recht und Gerechtigkeit“ (Prawo i Sprawiedliwość, PiS) kritisierten damals vehement die Pläne für eine Vertiefung der europäischen Integration durch Einführung einer europäischen Verfassung. Die polnisch-deutschen Beziehungen waren damals zusätzlich belastet durch Bundeskanzler Gerhard Schröders Freundschaft zu Wladimir Putin. Das nach 1989 neu gewonnene Vertrauen zwischen den Staaten begann zu schwinden. Trotzdem agierte die deutsche politische Elite im Geist des Vertrages von 1991 und unterstützte Polens EU-Beitritt. Dank der Erweiterung konnte Deutschland seine geopolitische Position erheblich verbessern und aus der peripheren in eine zentrale Lage innerhalb der EU wechseln. Für Polen eröffnete die EU-Mitgliedschaft die Chance für ein politisches und ökonomisches Bedeutungswachstum, das es nach 2004 intelligent zu nutzen wusste.
Trotz der Erfolge der letzten 25 Jahre können sich Polen und Deutsche heute nicht ruhig zurücklehnen und das Erreichte feiern. Die Herausforderungen für Europa und damit für die deutsch-polnischen Beziehungen sind groß: Krise der Eurozone, der Kollaps der nordafrikanischen Staaten und des Nahen Ostens und Putins imperiale Politik. Das sind zwar keine deutsch-polnischen Faktoren, aber sie stellen Entwicklungen dar, die die deutsch-polnische Partnerschaft durch unterschiedliche Perzeptionen und gegensätzliche Politik schwächen könnten. Der Umgang mit den Flüchtlingsströmen hat dies deutlich gemacht – kein bilaterales Thema, aber ein europäisches, das die deutsch-polnische Nachbarschaft stark belastet hat.
Keine Sinnesverwirrung
Der Umgang der deutschen Politik mit der Flüchtlingskrise im Spätsommer 2015 wird von der polnischen Öffentlichkeit meist ohne einen breiteren Kontext thematisiert. Überwiegend wird der Vorwurf erhoben, durch die Öffnung der Grenzen für die Flüchtlinge mit naiver Offenheit einer multikulturellen Umgestaltung der Gesellschaft Vorschub geleistet zu haben. In Polen findet kaum Beachtung, dass Merkels Politik nicht das Ergebnis einer Sinnesverwirrung, sondern die unausweichliche Folge der entsetzlichen humanitären Situation war. Ihr Vorgehen war eine Geste der Solidarität. Leider zeigte die polnische Politik nicht dasselbe Maß an Mitgefühl gegenüber den Flüchtlingsschicksalen wie viele Deutsche; stattdessen fanden im Herbst 2015 fremdenfeindliche und islamophobe Slogans zum ersten Mal Eingang in den polnischen Parlamentswahlkampf. Ein Tiefpunkt der Entwicklung der politischen Kultur in einem Land mit einer reichen Migrationserfahrung, dessen politische Klasse sich auf christliche Werte und Solidarität beruft!
Abkehr von der gemeinsamen Politik?
Der Umgang mit der Migration hat die Gesellschaften Deutschlands und Polens voneinander entfernt. Alte Vorurteile von einem angeblich fremdenfeindlichen, nationalistischen Polen finden in Deutschland wieder Anklang. Und in Polen wiederum nutzen nationalistische Politiker und Publizisten die durch die Flüchtlingsfrage entstandene deutsch-polnische Distanz, um die Berliner Republik als ein durch „naive politische Korrektheit“ und durch „unchristliche Multikulturalität“ geschwächtes politisches System zu diskreditieren. Verstärkt wird diese deutschlandkritische Tendenz durch das tiefe Misstrauen des heute einflussreichsten polnischen Politikers, des PiS-Vorsitzenden Jarosław Kaczyński, gegenüber Deutschland. Er sieht in der nach 1989 entstandenen polnischen Republik ein Kondominium Deutschlands und Russlands.
Deutschlands dominierende Rolle in Europa will er zurückdrängen, indem er auf die enge Zusammenarbeit mit den mitteleuropäischen Nachbarn setzt, quasi Visegrád-Integration gegen das Weimarer Dreieck und Kerneuropa. Diese neue, gegenüber Deutschland distanzierte Politik soll Polens Stimme deutlicher zur Geltung bringen und ein Europa der souveränen Nationen stärken. In der Konsequenz bedeutet diese Philosophie eine Abkehr von der vor einem Vierteljahrhundert begründeten Politik der deutsch-polnischen Interessen- und Wertegemeinschaft, und dies (Ironie der Geschichte) pünktlich zum 25. Geburtstag des so existenziellen Nachbarschaftsvertrages.
Doch ganz so einfach lässt sich der Wandel der polnischen Deutschlandpolitik nicht vollziehen. Deutschland ist mit Abstand der größte Handelspartner Polens, Kaczyńskis Kondominium-These teilt nur eine Minderheit der Polen, und Polexit wäre ein unter Polen angesichts der neoimperialen Ambitionen Moskaus vollkommen unpopuläres Politikkonzept. Die PiS-Regierung befindet sich also im Widerspruch zwischen ihrer programmatischen Distanz gegenüber dem deutschen Nachbarn und der realen positiven Bedeutung der deutsch-polnischen Nachbarschaft. Die Beziehungen zwischen Berlin und Warschau werden daher in kommender Zeit alles andere als konfliktfrei verlaufen. Blockaden, Passivität, Entfremdungen und Lähmungen, aber auch Pragmatismus und Gesprächs- sowie Kooperationsbereitschaft werden die deutschpolnischen Beziehungen zwischenzeitlich prägen.
Basil Kerski, geboren 1969 in Danzig, Direktor des Europäischen Solidarność-Zentrums in Danzig und Chefredakteur des Deutsch-Polnischen Magazins DIALOG, lebt in Berlin und Danzig.