Es ist ernüchternd, wie Herfried Münkler in seiner herausragenden Studie Welt in Aufruhr die internationale Situation einschätzt. Zerfallen ist nach seinem Eindruck mittlerweile die Weltordnung, die in der Zeitenwende von 1989/1991 entstanden ist. Diese Ordnung, die global vom Willen zur Kooperation getragen wurde und in den USA einen Hüter hatte, wird laut seiner Analyse nicht wiederkehren. Stattdessen leben wir erneut in einer Zeit der Kriege und Konflikte, die mit Russlands Angriff auf die Ukraine in die Zentren der bisherigen Ordnung vorgedrungen sind. Realität ist jetzt die Konkurrenz rivalisierender Großmächte, die miteinander um Einflusszonen auf der Welt ringen.
Vorbei ist damit die „Ära der Sorglosigkeit“, in der sich der demokratische Westen drei Jahrzehnte lang gewähnt hat. Dahinter stand laut Münklers Analyse die inzwischen als illusionär erkannte Idee, dass die Welt nicht länger geteilt sei, weder machtpolitisch noch ideologisch, sondern immer mehr zusammenwachse.
Vor allem zwei Gründe nennt der deutsche Politikwissenschaftler für diese negative Entwicklung: Zum einen seien die USA bei dem Bemühen, das Wertemodell von liberaler Demokratie samt Marktwirtschaft mittels militärischer Macht in die islamische Welt zu exportieren, „auf der ganzen Linie gescheitert“. Das zeigten die fehlgeschlagenen Interventionen im Irak und in Afghanistan. Zum anderen hätten sich dem Ansinnen, das westliche Politik- und Wirtschaftsmodell möglichst weltweit durchzusetzen, auch China und Russland in den Weg gestellt. China sei zum neuen Gegenpol der USA und zu einem ernst zu nehmenden Konkurrenten mit globalem Anspruch geworden. Russland, unzufrieden mit dem Status quo und dem ihm nach dem Ende des Kalten Krieges zugefallenen Platz in der zweiten Reihe, trete als revisionistischer und imperialistischer Akteur auf.
Fünf große Mächte
Keinen Hüter und keine globalen Normen hat die neue Weltordnung, die sich allmählich herausbildet. Stattdessen entwirft Herfried Münkler plausibel das Szenario eines Systems von fünf großen Mächten. In dieser Ordnung stehen die demokratischen Mächte USA und Europa den Autokratien China und Russland gegenüber; Indien ist das Zünglein an der Waage, soll also die Rolle einer Balancemacht spielen. Diese Ordnung ist multipolar, hat jedoch durch den Gegensatz zwischen demokratischen Rechtsstaaten und autoritären Regimen eine starke bipolare Komponente. Es gibt innerhalb des Fünfer-Direktoriums eine klare Rangordnung: Die Europäische Union ist auf der demokratischen Bank der designierte Zweite hinter den USA; China ist Führungsmacht auf der Bank der Autoritären mit Russland als Juniorpartner. Hinter den „fünf Großen“ stellen sich in der zweiten Reihe Staaten wie Brasilien, Indonesien oder Südafrika auf. Demokratische wie autokratische Polmächte bemühen sich darum, diese Länder auf ihre Seite zu ziehen und so ihr Gewicht im globalen Kräftemessen zu erhöhen. Dies zeigen neuerdings ebenso die Anstrengungen des westlichen G7-Verbunds wie der von China angeführten BRICS-Vereinigung – Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika –, den eigenen „Klub“ durch die Aufnahme neuer Akteure zu erweitern.
Aus gutem Grund verweist Münkler darauf, dass man sich diese neue Weltordnung nicht als ein starres System vorstellen solle. Denn es gibt Auf- und Abstiege, es kann zu einem Platzwechsel sowohl in der ersten Reihe als auch in den Reihen dahinter kommen. Eine Dekarbonisierung der Weltwirtschaft beispielsweise hat massive Folgen für erdöl- und erdgasproduzierende Länder und kann eine technologisch rückständige Rohstoffmacht wie Russland weiter zurückwerfen. Die Europäische Union wird über die Rolle als Wirtschaftsmacht und Regelgeber hinaus nur dann zu einem global gestaltungsfähigen Akteur werden, wenn sie ihre politische Entscheidungsfähigkeit signifikant steigert.
Der Konflikt mit dem neuen Gegenspieler China ist für den Westen eine Auseinandersetzung, die „wesentlich mit wirtschaftlicher Macht geführt wird“, wie Münkler bemerkt. Viel zu spät haben die USA und Europa darauf reagiert, dass China mit seinem Infrastrukturprojekt der Neuen Seidenstraße einen gewaltigen Einflussraum schafft. Zu starke ökonomische Abhängigkeit von China wiederum können US-Amerikaner und Europäer vermeiden, indem sie „diversifizieren“ und mit ihren Geschäften insbesondere auf Indien ausweichen.
Die Russland-China-Achse
Europas Blick auf China ist längst von wachsender Skepsis bestimmt. Die Europäische Union erachtet die Volksrepublik explizit nicht nur als politischen Partner, sondern inzwischen auch als wirtschaftlichen Konkurrenten und Systemrivalen. Mit schonungsloser Schärfe zeigt die Chinaexpertin Janka Oertel, dass unsere Annahmen über Pekings Rolle in der Welt allesamt auf den Prüfstand gestellt werden müssen.
China sei nicht gleich Russland, so eine weitverbreitete westliche Vorstellung. Will heißen: Präsident Xi Jinping erscheine als rationaler politischer Akteur, er werde nicht wie Präsident Wladimir Putin wider jede ökonomische Vernunft einen Krieg anzetteln. Nichts als eine Illusion, kontert die Autorin. Denn Xi habe sich eine absolute Macht gesichert und stehe im Bann seiner kommunistischen Ideologie. Er demonstriere Chinas globalen Machtanspruch und sei im Streit um Taiwan notfalls auch zur militärischen Eskalation bereit.
Das Zusammenspiel von Peking und Moskau sei ein Zweckbündnis und keine Allianz, heißt es im Westen heute oftmals beschwichtigend und beschönigend. Auch die Politikwissenschaftlerin und Sinologin Oertel ist sich der komplizierten russisch-chinesischen Geschichte bewusst. Wladiwostok etwa war bis 1860 chinesisch, ehe es vom russischen Zarenreich erobert wurde. Aber die Autorin hebt hervor, dass die wirtschaftliche und militärische Kooperation Chinas und Russlands zuletzt stark zugenommen habe. Realität sei ein Schulterschluss zwischen beiden Staaten, zementiert im Verlauf des Ukrainekonflikts. Peking als Vermittler? Wenig wahrscheinlich. China stehe vielmehr fest an der Seite Russlands. Im Nahen Osten unterhält Peking enge Beziehungen mit dem Iran, dessen Regime wiederum Russland unterstützt. Die zwei Autokratien China und Russland geben sich also gegenseitig Rückendeckung beim Kampf um die Neuverteilung der globalen Macht.
Der demokratische Westen hofft auf die Rückkehr zur gewohnten internationalen Ordnung. Pures Wunschdenken, sagt hingegen Janka Oertel. Es müsse jedermann klar sein, dass Peking nicht wirklich willens sei, sich an die Regeln zu halten. Hinzu komme die China-Russland-Achse. Das vorhandene Konstrukt von Institutionen könne die durch den neuen Systemwettbewerb entstehenden Spannungen kaum noch aushalten. Wer weiterhin eine regelbasierte Ordnung wolle, müsse sie bauen, stellt die Autorin fest, und zwar durch andere Optionen, die auch funktionierten. Ein Netz aus modernen Freihandelsabkommen könne beispielsweise das Nichtagieren der Welthandelsorganisation ausgleichen, ein „Klima-Klub“ engagierter Staaten schnelleres Handeln für mehr Klimaschutz vorantreiben.
Ein globales „Gitterwerk“ aus Bündnissen
Aber globales Regieren ist schwieriger denn je, wie der Asienexperte Matthias Naß in seiner aufschlussreichen Analyse darstellt. Vor allem im Indopazifik ringen die USA und China, die etablierte und die aufsteigende Supermacht, um die „weltpolitische Vorherrschaft“. Den Begriff „Indopazifik“ hat der frühere japanische Premierminister Shinzo Abe geprägt. Er war stets gegen China und dessen Ambitionen gerichtet, die eigene Macht ebenso im Indischen wie im Pazifischen Ozean auszubauen. Der besorgte Beobachter sieht die USA und China auf Konfrontationskurs; eine „Kollision“ ist demnach keineswegs ausgeschlossen. Die Welt muss schon froh sein, wenn die zwei großen Mächte darauf bedacht sind, dass ihr Konflikt nicht außer Kontrolle gerät.
Washington hält die Politik der Einbindung Chinas in das vom Westen geprägte Weltsystem für gescheitert. Es setzt inzwischen auf wirtschaftliche Entkopplung – zumindest partiell, insbesondere im Technologiesektor – und auf militärische Eindämmung. Gegen Chinas Vormarsch will die US-Regierung, so der Nationale Sicherheitsberater Jake Sullivan, ein globales „Gitterwerk“ aus Bündnissen und Partnerschaften mobilisieren. Peking wiederum knüpft ein dichtes Netz von regionalen Abhängigkeiten. China will die USA bis zur Mitte des 21. Jahrhunderts als Führungsmacht ablösen, zuerst in Asien, dann weltweit. Das ist das Ziel von Pekings „langem Spiel“.
Helmut L. Müller, geboren 1954 in Murnau am Staffelsee, promovierter Politikwissenschaftler, ehemaliger Ressortleiter Außenpolitik „Salzburger Nachrichten“, freier Autor.