Asset-Herausgeber

Rückblick auf eine wirkungsmächtige Theorie der Erziehungswissenschaft

Asset-Herausgeber

Die deutsche Erziehungswissenschaft hat erst nach dem Ersten Weltkrieg Positionen des gesellschaftlichen Fortschritts und der Demokratisierung vertreten, also sich politisch liberal bis links positioniert. Die daraus abgeleiteten Konzepte hatten jeweils klare Gegenpositionen vor sich. „Fortschrittlich“ stand bis in die Lehrpläne der Schulen hinein gegen „konservativ“, und harte ideologische Gegensätze bestimmten die bildungspolitischen Auseinandersetzungen. Hier wäre etwa der Kampf um die Begabungstheorie in den 1960er- und 1970er-Jahren zu nennen, im Anschluss daran auch die Diskussionen um die notwendige Autorität in der Erziehung oder auch die bis heute umstrittene Idee einer gemeinsamen Verschulung für alle Kinder.

Die entsprechenden Positionen bildeten sich in der Erziehungswissenschaft ab; sie waren der Grund für eine entschiedene Lagermentalität. In der Bundesrepublik wurden „A“- und „B“-Länder unterschieden und mit ihnen die dazu jeweils passende Pädagogik. Davon ist heute kaum noch eine Spur geblieben. Die konservativen Positionen, die auf die natürliche Autorität der Eltern setzten und – damit verbunden – auf den Gehorsam der Kinder oder die Strafgewalt in der Erziehung, sind weitgehend verschwunden. Die linksliberale Erziehungswissenschaft, die den Fokus auf das Kind legt, ist zum Mainstream geworden.

Das war vor fünfzig Jahren anders, wie die Auseinandersetzung um den Begabungsbegriff zeigt. Seinerzeit herrschte Kampfstimmung. Dabei spielten allgemeine Theorien eine zentrale Rolle, die mit dem Gegensatz „Anlage“ oder „Umwelt“ arbeiteten. „Begabung“ war entweder angelegt oder die Folge exogener (pädagogischer) Einwirkungen. Diese Kampflinie lässt sich an zwei markanten Beispielen zeigen.

 

Naturgesetzliche Begabung?

Der Vorstand des Deutschen Philologenverbandes beschloss am 31. Mai 1957 in der sogenannten „Erklärung von Saarbrücken“ 18 Sätze zur Situation der höheren Schule, die zur Verteidigung des dreigliedrigen Schulsystems in der noch jungen Bundesrepublik gedacht waren. Diese „Sätze“ richteten sich nicht nur nach innen, sondern auch nach außen, in Richtung DDR, die dabei war, die Gliederung des deutschen Schulwesens grundlegend zu verändern. Die Verteidigungslinie bezog sich auf eine Theorie der naturgesetzlichen Begabung. Darauf zielte gleich der erste Satz ab: „Die Dreigliedrigkeit des deutschen Schulwesens (Volksschule, Mittelschule, höhere Schule) ist ein gewachsener Organismus, der den geistigen Arbeitsgesetzen unserer Welt und den konstant bleibenden, naturgesetzlichen Gegebenheiten der Begabungsverteilung entspricht. Sie ist nicht, wie vielfach behauptet wird, das überholte Ergebnis einer aufgelösten sozialen Struktur“ (Beschlüsse 1957, S. 152).

Elf Jahre nach der Erklärung von Saarbrücken erschien der von dem Göttinger Pädagogen Heinrich Roth herausgegebene Sammelband Begabung und Lernen mit Gutachten und Studien, die die Bildungskommission des Deutschen Bildungsrates in Auftrag gegeben hatte. Roth schrieb als Leiter der Kommission die Einleitung, in der er sich gegen jede Form der „naturgesetzlichen“ Begabung wandte und damit gegen die Zuteilung von Begabungen zu Schularten. Lange war die Meinung vorherrschend gewesen, dass sich die Unterscheidung von drei grundlegenden Begabungen in der Unterscheidung von Volksschule, Realschule und Gymnasium spiegele.

In Roths Text wurde das Konzept der erblichen Begabung ersetzt durch ein dynamisches: „Begabung“ sei keine natürliche Mitgift, die mit Erbgesetzen erklärt werden könne, sondern werde gelernt. Roths Einleitung war zeitgeistaffin, und seine Kernidee, dass sich Kinder „begaben“ ließen, ohne durch „angeborene“ Talente in der Richtung ihrer Entwicklung bereits festgelegt zu sein, setzte sich daraufhin durch. Der Slogan war: Man ist nicht begabt, sondern wird begabt – besonders durch Teilnahme an schulischen Lernprozessen (Roth 1968).

Das Modell der dynamischen Begabung erschien attraktiv, nicht zuletzt im Hinblick auf die Rolle der Lehrkräfte. Doch man bedachte die Folgen nicht. Denn wenn die Schule „begabt“, steigen mit ihrer Verantwortung auch Konflikte und Belastungen. Außerdem war die empirische Grundlage des Modells dürftig (Weinert 1984), ohne dass dies seinerzeit irgendwo vermerkt wurde. Es ging um einen Blick- und Richtungswechsel: Der Philologenverband hatte sich auf biologische Theorien verlassen, die nunmehr fragwürdig wurden und nach kurzer Zeit verschwanden. Die Lernpsychologie wurde das neue Paradigma, weil es nicht nur die Seite der Erziehung oder der Lernumwelt begünstigte, sondern auch die bildungspolitische Diskussion um die Chancengleichheit beförderte.

 

Neue Theorie und alte Probleme

Erst der Angriff auf die Theorie der natürlichen Begabung ermöglichte die Kritik an der Zuteilung von Begabungen zu Schularten. Was lange als „natürlich“ oder „geerbt“ angesehen wurde, bestand nunmehr im Wesentlichen aus Vor- oder Nachteilen der sozialen Herkunft. Ohne diesen veränderten Blick hätte das Konzept der Chancengleichheit keine praktische Bedeutung erlangen können. So aber wurde Chancengleichheit zur zentralen Frage, die die bildungspolitischen Diskussionen der letzten vierzig Jahre nicht nur in Deutschland beherrscht hat. In diesem Sinne war Roths Theorie enorm erfolgreich.

Der Einfluss dieser Theorie lässt sich auch an den semantischen Folgen zeigen: Aus natürlicher „Begabung“ wurde „schulisch angeleitetes Lernen“, und mit dem Begriff verschwand auch die Anlagetheorie der Begabung. Allerdings ist es höchst zweifelhaft, jedes Kind ohne Rücksicht auf dessen eigene Interessen und Lernrichtungen schulisch „begaben“ zu können. Auf der anderen Seite lässt sich „Begabung“ kaum erbgenetisch verstehen, denn Talente entwickeln sich in der Praxis, sie zeigen sich oft früh und werden zunächst in den Familien gefördert, wie Biografien von Musikern oder Sportlern etwa zeigen.

Die Schule ist daher auf keinen Fall die einzige oder auch nur die primäre Stätte der Begabungsförderung. Auf der anderen Seite ist „Fördern“ ein zentraler Begriff in der heutigen bildungspolitischen Diskussion und die Schule dafür ein starker Adressat. Politisch geht es heute nach wie vor um Chancengleichheit, die sich offenbar immer wieder als neue Aufgabe stellt; nur die Zielgruppen wechseln. Das Ausschöpfen der „Begabungsreserven“ blieb als Slogan erhalten; diese Metapher hat eine suggestive Kraft auch ohne naturalistische Begabungstheorie.

Allerdings ist nicht zu übersehen: Nur weil die Theorie geändert wurde, verschwinden die Probleme nicht. Egal wie „Begabung“ definiert wird, jede Erziehung und jeder Unterricht muss von sozialen und individuellen Unterschieden ausgehen, die sich auf das Lernen auswirken. Wenn Kinder nicht mehr nach einem Begabungs- oder Schultyp zugeordnet werden, nehmen die Unterschiede im Klassenraum zu. „Heterogenität“ ist zu einem Schlüsselwort der Bildungspolitik geworden. Auch die Rede von der „Hochbegabung“ ist dafür symptomatisch.

Die gängige Formel der bildungspolitischen Diskussion „Fördern und

Fordern“ ist an sich trivial: Man kann gar nicht anders unterrichten als mit

„Forderungen“ an das Lernen und Maßnahmen zur „Förderung“. Sie lässt die Frage offen, was der Unterricht unter den gegebenen Umständen erreicht und erreichen kann. Und dabei spielen andere Faktoren eine Rolle als lediglich die Begabung. Dazu zählen die Ressourcen der Schülerinnen und Schüler, also nicht einfach die „Herkunft“, sondern ihre konkreten Fähigkeiten und Kenntnisse, die sich nicht automatisch aus der Schichtzugehörigkeit ableiten lassen. Es geht um unterschiedliche Lernbiografien, die von der Ressourcennutzung vor Ort bestimmt werden. Dabei spielen auch die strukturellen Rahmenbedingungen eine Rolle. In den deutschen Gymnasien versammeln sich nicht nur die „Begabteren“, sondern diejenigen, die die Auslese- und Bewertungsprozesse überstanden haben.

 

Potenziale erkennen, Lernprozesse bewerten

Was darüber bekannt ist, lässt Heinrich Roths sehr optimistische Sicht auf das schulische „Begaben“ in einem anderen Licht erscheinen. Die Schule nämlich ist nicht die Begabungsinstanz für alle Schüler, weder hat sie dafür die Mittel noch die Berechtigung. Ihre zentrale Aufgabe besteht darin, mit individuellen und sozialen Unterschieden umzugehen, Potenziale zu erkennen und Lernprozesse fair zu bewerten. Im schulischen Lernstand zeigen sich nicht nur die „Begabungen“, sondern vor allem die Unterschiede.

Eine Langzeitstudie aus der Schweiz zeigt, dass bereits bei Schuleintritt, also zu Beginn der ersten Klasse, der Lernstand der Schülerinnen und Schüler in zentralen Bereichen des Unterrichts weit auseinanderliegt und danach nicht etwa abnimmt, was nicht mit „Begabungen“ erklärt werden kann, sondern mit unterschiedlichen Voraussetzungen und Zugängen zu schulischen Lernanforderungen (Moser/Stamm/Hollenweger 2005; Moser/ Keller/Tresch 2008; Moser/Angelone/Keller/Hollenweger/Buff 2010; Nach sechs Jahren Primarschule, 2011).

Die Heterogenität bei Schulbeginn gilt nicht nur für die Kernfächer Mathematik und Lesen, sondern auch für eine Lernvoraussetzung, die in den vergangenen Jahren nur wenig didaktische Beachtung gefunden hat, nämlich den Wortschatz, also die Menge und die Qualität der zur Verfügung stehenden Wörter, die den sprachlichen Ausdruck und die Möglichkeit, Aufgaben zu verstehen, wesentlich bestimmen. Der Abstand zwischen den leistungsstarken und den leistungsschwachen Schülern muss im Verlauf der Schulzeit keinesfalls geringer werden, eher ist anzunehmen, dass er mit den fachlichen Anforderungen über die Jahrgangsstufen größer wird. Bestimmte Gruppen von Schülerinnen und Schülern verbessern ihren Lernstand nicht, sondern bleiben auf dem einmal erreichten Niveau stehen. Für die letzten Schuljahre ist eine weitere Öffnung der Leistungsschere zu erwarten. Für die leistungsschwächeren Schülerinnen und Schüler fehlen dann lohnende Aufgaben und Lernanlässe, die mehr sein müssen als die immer neue Bestätigung ihrer Schwächen.

 

Talente entwickeln sich durch Schwierigkeiten

Zusätzlich verweisen Studien darauf, dass die Entwicklung des Lernstandes zwischen verschiedenen Klassen auch in ein und derselben Schule höchst unterschiedlich sein kann. Das gilt ebenso für die Effekte der Förderung. In den einen Klassen gelingt es, die Leistungsschere zu verringern, in anderen jedoch nicht, was vor allem damit zu tun hat, dass das Geschehen im Klassenzimmer ausgesprochen disparat ist. Damit hat die Bildungspolitik ein sehr konkretes, wenngleich schwer zu bearbeitendes Problem vor sich. Wie soll man möglichst gleich fördern, wenn die Praxis unterschiedlich ist, weil die Lehrkräfte verschieden unterrichten? Eine Lösung könnte darin bestehen, dass man die Schüler in den jeweiligen Stufen, also jahrgangsübergreifend, in verschiedene Niveaus einteilt und sie dann je nach Leistung in den einzelnen Fächern fördert, ohne die Versetzung an den Klassenverband zu binden. Dass sich Leistungsniveaus unterscheiden, kann allerdings auch die beste Förderpraxis nicht verhindern. Die Frage ist, wie schonend mit den Unterschieden umgegangen wird. Manchmal ist im Schuljargon von der „Ehrenr- unde“ die Rede, die nichts schade; aber das ist nur die Sprache zur Rettung der Maßnahme; ein Lernvorteil ist damit nicht verbunden. Den Schwächeren wird nur demonstriert, wie schwach sie tatsächlich sind; gefördert im Blick auf ihre Schwächen werden sie dadurch nicht.

Wenn man schwächere Schüler fördern will, braucht man ein flexibleres System jenseits einer Verschulung mit Klassen oder Jahrgängen, denen man angehört oder die man zum eigenen Nachteil verlassen muss. Heute regiert ein starres System der Zuteilung und Aussonderung, das nach dem ersten Entscheid kaum korrigierbar ist, ohne wirklich an die Leistungsentwicklung gebunden zu sein. Flexibilisierung dürfte daher die künftige Schulentwicklung weit mehr bestimmen, als es heute den Anschein hat.

Chancengleichheit kann man nicht durch irgendwelche Maßnahmen „herstellen“, man kann nur im Blick auf schulische Standards gegebene Nachteile bearbeiten. Diese These hat kein Geringerer als der große amerikanische Soziologe James S. Coleman schon vor mehr als dreißig Jahren vertreten (Coleman 1975). Auch die heutige Theorie der „equal opportunities“ sieht nicht gleiche Resultate vor, sondern nur Fairness der Zugänge und der Folgenbearbeitung (Jacobs 2004).

Die beiden Theorien der „Begabung“ dürften da kaum weiterhelfen. Zwar gelten besonders gute Schülern/Schülerinnen immer als besonders „begabt“, aber das spiegelt zunächst nur die schulische Leistungshierarchie und die Einstellung auf die Lernanforderungen der Schule wider. Auf der anderen Seite zeigen herausragende Leistungen, dass Talente sich anhand von Herausforderungen und Schwierigkeiten entwickeln. Besonders lernintensiv sind Fehler und Niederlagen, die in Begabungstheorien gar nicht vorkommen. In diesem Sinne sagt die Zuschreibung von „Begabung“ nur etwas über die Wahrnehmung und Sichtweise des Zuschreibenden aus.


Jürgen Oelkers, geboren 1947 in Buxtehude, ist Erziehungswissenschaftler und emeritierter Professor an der Universität Zürich.

Literatur

„Beschlüsse der Vorstandssitzung des deutschen Philologen-Verbandes in Saarbrücken am 31. Mai 1957“, in: Die Höhere Schule, Bd. X, Heft 7 (1957), S. 152–156.

Bildungsdirektion Kanton Zürich (Hrsg.): Nach sechs Jahren Primarschule. Lernstand der Schulanfängerinnen und Schulanfänger von 2003 vor ihrem Übertritt in die Sekundarstufe I, Zürich 2011.

Coleman, James S.: „What is Meant by ‘an Equal Educational Opportunity’?“, in: Oxford Review of Education, Vol. 1, No l (1975), S. 27–29.

Jacobs, Lesley A.: Pursuing Equal Opportunities. The Theory and Practice of Egalitarian Justice, Cambridge University Press, Cambridge 2004.

Moser, Urs / Keller, Florian / Tresch, Sarah: Schullaufbahn und Leistung. Bildungserfolg und Lernverlauf von Zürcher Schülerinnen und Schülern am Ende der dritten Volksschulklasse, h. e. p. Verlag, Bern 2008.

Moser, Urs / Angelone, Domenico / Keller, Florian / Hollenweger, Judith / Buff, Alex: Lernstandserhebung am Ende der 6. Klasse. Schlussbericht zuhanden der Bildungsdirektion. Unveröffentlichtes Manuskript, Institut für Bildungsevaluation/Pädagogische Hochschule Zürich, Zürich 2010.

Roth, Heinrich (Hrsg.): Begabung und Lernen. Ergebnisse und Folgerungen neuer Forschungen, Klett Verlag, Stuttgart 1968 (= Gutachten und Studien der Bildungskommission des Deutschen Bildungsrates, Band 4).

Weinert, Franz E.: „Vom statischen zum dynamischen zum statischen Begabungsbegriff? Die Kontroverse um den Begabungsbegriff Heinrich Roths im Lichte neuerer Forschungsergebnisse“, in: Die Deutsche Schule, Jg. 76, Heft 5 (1984), S. 353–365.

comment-portlet