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Kein Bündnisfall, aber ein Fall für das Bündnis

Die NATO und der Kampf gegen den "Islamischen Staat"

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Nach den Terroranschlägen vom 13. November 2015 in Paris kamen erneut Forderungen nach einem militärischen Engagement der NATO-im Kampf gegen den sogenannten Islamischen Staat (IS) in Syrien und Irak auf. Für viele Beobachter lagen die Parallelen zum 11. September 2001 auf der Hand, als zum ersten Mal in der Geschichte der Allianz der „NATO-Bündnisfall“ ausgerufen worden ist. Kürzlich erhielten die Spekulationen über ein stärkeres Engagement der NATO durch Äußerungen hochrangiger Militärs neue Nahrung. Der ehemalige NATO-Oberkommandierende in Europa, James Stavridis, beispielsweise plädierte für eine Unterstellung der seit Mitte 2014 unter US-Führung durchgeführten Luftschläge gegen den IS unter NATO-Kommando und für die Entsendung von NATO-Sondertruppen auf dem Boden. Auch deutsche Militärs, Experten und Politiker schlossen sich derartigen Überlegungen an.

Mittlerweile ist klar, dass es zumindest vorerst kein unmittelbares militärisches Eingreifen der NATO im Kampf gegen den IS geben wird. Zu vage sind die Aussichten auf Erfolg, zu unterschiedlich sind die Interessen und Prioritäten der einzelnen NATO-Mitglieder, und zu präsent ist das politische Scheitern der Interventionen in Afghanistan und Libyen. NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg hat allerdings wiederholt deutlich gemacht, dass die Allianz unterhalb der Schwelle militärischen Eingreifens eine wichtige Rolle beim Kampf gegen den Terrorismus spielt. In der öffentlichen Wahrnehmung wird diese Rolle oft übersehen, weil die NATO hier primär als militärisches Bündnis betrachtet wird. Dabei ist der Kampf gegen den IS und allgemein gegen den Terrorismus längst ein Fall für das Bündnis – auch ohne Bündnisfall.

 

Gegen den Terrorismus

Seit Beginn des Jahrtausends hat die NATO eine Reihe von Maßnahmen beschlossen und implementiert, mit denen sie auf die wachsende Herausforderung durch den internationalen Terrorismus auf verschiedenen Ebenen reagieren will. Prävention, Abwehr und Verfolgung von Terrorismus spielen hierbei ebenso eine Rolle wie Aufklärung, Diplomatie und Ausbildung. Mittelfristig könnten diese Bemühungen um eine umfassende und kohärente „Counter Terrorism“ (CT) Strategie das nordatlantische Bündnis zum wichtigsten westlichen Forum für die Koordinierung von CT-Aktivitäten werden lassen. Das unmittelbar nach dem Ende des Ost-West-Konflikts entstandene Strategische Konzept von 1991 hatte den Terrorismus zwar bereits als reale Sicherheitsbedrohung bezeichnet, aber keinerlei konkrete Maßnahmen des Bündnisses vorgesehen. Hieran änderte sich während der 1990er-Jahre wenig. Das Strategische Konzept von 1999 unterstrich zwar die wachsende Bedrohung durch den Terrorismus, definierte aber erneut keine Rolle für die NATO. 2001 verfügte die Allianz daher weder über eine Strategie noch über eine Infrastruktur, um auf die neue Sicherheitslage angemessen reagieren zu können. Dies war zum damaligen Zeitpunkt primär auch nicht gefragt. Der 11. September forderte zunächst eher die politische denn die militärische Solidarität der Bündnispartner und muss im Rückblick als wichtiger Katalysator der Transformation der NATO hin zu einem breit aufgestellten politisch militärischen Sicherheitsbündnis angesehen werden. Dementsprechend beschränkte sich das Bündnis nach „9/11“ auf die Unterstützung der Luftüberwachung in den USA und, ab 2002, auf die bis heute existierende Seeraumüberwachung im östlichen Mittelmeer. Beide Operationen hatten eher symbolische Bedeutung und waren beziehungsweise sind von geringem militärischen Gewicht.

Allerdings war der Handlungsbedarf, insbesondere nach Übernahme der Afghanistan Mission durch die NATO im Sommer 2003, offensichtlich. Dementsprechend prägte die Herausforderung durch den Terrorismus die strategische, politische und institutionelle Debatte innerhalb des Bündnisses während der 2000er-Jahre erheblich mit. Bereits auf dem Gipfeltreffen in Prag 2002 wurde das erste Militärische Konzept für den Kampf gegen den Terrorismus vorgestellt. Gleichzeitig wurde hier und auf dem folgenden Gipfel 2004 in Istanbul ein erstes Maßnahmenpaket geschnürt. Hierbei ging es vor allem um einen verbesserten Informationsaustausch zwischen den NATO-Ländern sowie um eine Intensivierung der Zusammenarbeit mit den Ländern des Nahen und Mittleren Ostens. Institutionell wurde dieser Ansatz durch ein Partnerschaftsangebot an die arabischen Golfstaaten ergänzt, das die Zusammenarbeit zwischen der NATO und dieser lockeren Staatengruppe auf eine neue Grundlage stellte. Außerdem wurde eine NATO-Analyseeinheit zur Bedrohung durch den Terrorismus geschaffen, ein eigenes Budget im NATO-Haushalt eingerichtet und wurden neue Initiativen in den Bereichen Zivilschutz, Krisenmanagement, Sondereinsatztruppen und zum Umgang mit improvisierten Sprengvorrichtungen in die Wege geleitet. Im Rückblick gab es während dieser Zeit kaum eine Initiative, Diskussion oder Publikation der NATO, die sich nicht mit dem Thema Terrorismus befasste. Mitte der 2000er-Jahre verfügte die NATO also über den erklärten politischen Willen, einen Bausatz an Instrumenten und eine Reihe von konzeptionellen Überlegungen, mit denen sie zum Kampf gegen den internationalen Terrorismus beitragen wollte. Die hieraus resultierenden Einzelinitiativen waren allerdings noch nicht hinlänglich mit den übrigen Aktivitäten der NATO abgestimmt oder in ein Gesamtkonzept eingefügt.

Dies änderte sich ab 2011. Vor dem Hintergrund der Einsätze in Afghanistan und Libyen und dem Erstarken alter und neuer dschihadistischer Terrorgruppen nach dem Scheitern des Arabischen Frühlings bemühte sich die NATO, ihre CT-Aktivitäten besser zu konzeptualisieren und stärker mit anderen internationalen Akteuren abzustimmen. Das Ergebnis waren die sogenannten NATO CT Policy Guidelines, die auf dem Gipfel in Chicago im Mai 2012 verabschiedet wurden. Hier wurden drei zentrale Handlungsbereiche festgelegt: „Awareness“, „Capabilities“ und „Engagement“. Durch verbesserten Informationsaustausch, die verstärkte Einbeziehung externer Experten und die Erarbeitung gemeinsamer Begrifflichkeiten und Kriterien sollen Schwächen der NATO-Sicherheitsstrukturen aufgedeckt und behoben werden (Awareness). Durch die Einrichtung von Ansprechpartnern, Arbeitseinheiten und verschiedenen Exzellenzzentren sowie durch Ausbildung und Übungen sollen die Fähigkeiten innerhalb des Bündnisses verbessert werden, auf terroristische Bedrohungen schneller und kohärenter reagieren zu können (Capabilities). Durch die Zusammenarbeit mit internationalen Organisationen und den Ausbau bestehender Partnerschaftsinstrumente sollen schließlich Partnerländer in der Terrorismusbekämpfung enger an die NATO herangeführt und entsprechende internationale Bemühungen komplementiert werden (Engagement).

Das neue Militärische Konzept vom Mai 2014 konkretisierte diese drei Handlungsbereiche weiter und erhob die Terrorismusbekämpfung zum Querschnittsthema von NATO-Aktivitäten. In der Praxis hatte dies ein regelrechtes „Terrorismus Mainstreaming“ zur Folge. Bei politischen Gesprächen wurde das Thema routinemäßig auf die Agenda gesetzt, NATO-Schulungen und -Übungen nahmen es in ihre Lehr- und Ablaufpläne auf, und sogar militärische Manöver bezogen CT-Komponenten ein. Außerdem formulierte das Militärische Konzept die Grundprinzipien von CT-Maßnahmen der NATO: die Übereinstimmung mit internationalem Recht, die Unterstützung nationaler Maßnahmen von Mitgliedstaaten und das Bekenntnis zur Nicht Duplizierung und zur Komplementarität mit den CT-Maßnahmen anderer Akteure. Dies war insofern eine bemerkenswerte Neuerung, als die NATO sich eine flexible Rolle innerhalb eines multilateralen Netzwerkes gab.

 

Bekämpfung des IS – Fortschritte und Defizite

Der bisherige Beitrag der NATO zum Kampf gegen den IS offenbart sowohl Potenziale als auch Defizite dieses neuen Strategieansatzes. Dies zeigt sich zunächst im Handlungsbereich „Awareness“. Obwohl der NATO-Gipfel in Wales im September 2014 als Plattform der US-geführten Bemühungen um die Bildung einer breiten internationalen Koalition genutzt wurde und NATO-Strukturen bei der Koordinierung der multilateralen Aktivitäten zur Bekämpfung des IS eine nicht unerhebliche Rolle spielten, besteht innerhalb der Allianz nach wie vor keine einheitliche Einschätzung der Bedrohung durch den IS. Zwar sind sich die Bündnispartner über Definitionen und Begrifflichkeiten weitgehend einig, Dissens herrscht aber hinsichtlich der Instrumente, Partner und Prioritäten, wie etwa bei der Frage der Unterstützung kurdischer Anti-IS-Kämpfer deutlich wurde. Dieser Dissens wird spätestens seit der russischen Aggression gegen die Ukraine von dem „Flankenstreit“ über die sicherheitspolitische Schwerpunktsetzung des Bündnisses (Ost- versus Südflanke) weiter verstärkt. Solange weder ein UN-Mandat noch eine direkte und unmittelbare Bedrohung des Bündnisgebiets vorliegt, erscheinen weitergehende militärische Maßnahmen gegen den IS daher unrealistisch.

Ähnlich sieht es im Handlungsbereich „Capabilities“ aus. Als militärische Organisation hat die NATO auch weiterhin Schwierigkeiten, externe Expertise einzubeziehen oder breitere Politikansätze zu entwickeln. Im Rahmen der NATO treffen sich lediglich die nationalen Vertreter der Verteidigungs- und Außenressorts, nicht aber die der Innen- und Justizbereiche. Darüber hinaus erschweren unterschiedliche Kommunikationskulturen zwischen Militärs, Politikern und Wissenschaftlern den Austausch. Die Zusammenarbeit etwa mit Interpol und den Informationsaustausch über sogenannten „Foreign Fighters“ erleichtert dies nicht, wie etwa beim Anschlag auf die Redaktion des Satiremagazins Charlie Hebdo und auf einen jüdischen Supermarkt in Paris im Januar 2015 deutlich wurde. Kurz vor den Anschlägen setzte sich die Frau eines der Attentäter nach Syrien ab. Obwohl sie unter Überwachung der französischen Behörden stand, konnte sie ungehindert die Grenzen von drei NATO-Staaten passieren.

Defizite zeigen sich schließlich auch im Handlungsbereich „Engagement“, insbesondere im Hinblick auf die NATO-Partnerschaften mit den Staaten des Nahen und Mittleren Ostens. Die 1996 beziehungsweise 2004 beschlossenen Partnerschaftsprogramme beruhen zum Teil auf überholten regionalen Gegebenheiten und Zielsetzungen. Sie werden vor allem aus politischen Gründen am Leben gehalten. Dabei gibt es sowohl aufseiten der NATO als auch bei zahlreichen NATO-Partnerländern großes Interesse an einer verstärkten Zusammenarbeit. Viele Vertreter der NATO haben wiederholt deutlich gemacht, dass vor allem Jordanien, aber auch Tunesien und Marokko innerhalb der CT-Strategie der NATO eine besondere Rolle spielen. Vor allem Jordanien strebt eine enge Partnerschaft mit der NATO in unterschiedlichen Bereichen an, die im multilateralen Rahmen nur noch begrenzt sinnvoll erscheint. In der Zusammenarbeit mit diesem, aber auch mit einigen anderen Staaten in der Region wird daher längst eine Zusammenarbeit nach dem Prinzip „28 +1“ praktiziert.

 

Die NATO als Sicherheitsforum

Der Terrorismus des IS wird im NATO-Jargon als „hybride Bedrohung“ beschrieben. Noch ringt das transatlantische Bündnis um die Frage, wie mit solchen Bedrohungen adäquat umgegangen werden kann. Klar ist, dass sich der IS nicht allein militärisch besiegen lässt. Ihm müssen gleichzeitig die ökonomischen, politischen und ideologischen Grundlagen entzogen werden. Hierzu ist die Zusammenarbeit einer Vielzahl von Akteuren, Ansätzen und Instrumenten nötig. Die NATO kann bei der Koordinierung dieser Zusammenarbeit, insbesondere mit den arabischen Partnerstaaten, eine wichtige Rolle spielen, ohne selbst als militärischer Akteur in Erscheinung zu treten. Sie kann Zugänge zu Militärs und Nachrichtendiensten in der Region erleichtern, sie kann ihre Infrastruktur zum Austausch von Informationen und zum Abgleich von Interessen bereitstellen und sie kann einheitliche Standards für die sicherheitspolitische Zusammenarbeit schaffen. Die Grundlagen für eine derartige Rolle als sicherheitspolitisches Forum, auf dem Interessen zwischen NATO-Ländern und Partnerstaaten abgeglichen, Koalitionen gebildet, Maßnahmen koordiniert werden, sind mit dem neuen Militärischen Konzept und einer Vielzahl von neuen Instrumenten gelegt. Diese Rolle mag weniger offensichtlich und medienwirksam sein als etwa NATO-geführte Luftschläge oder der Einsatz von NATO-Spezialkräften am Boden. Weniger bedeutend ist sie deshalb nicht. Im Gegenteil, wenn es dem Bündnis gelingt, diese Instrumente zu stärken und eine kohärente Interessenlage seiner Mitgliedstaaten herzustellen, könnte dieser breite CT-Ansatz im Kampf gegen die hybride Bedrohung des Terrorismus letztendlich wichtiger und erfolgreicher sein als die Durchführung militärischer Maßnahmen.
 

Andreas Jacobs, geboren 1969 in Kleve, wissenschaftlicher Mitarbeiter am NATO-Defense College in Rom.